Inhalt

VG München, Urteil v. 23.02.2022 – M 32 K 21.30451
Titel:

Familienflüchtlingsschutz: Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft

Normenketten:
AsylG § 26 Abs. 2, Abs. 5
RL 2011/95/EU Art. 3, Art. 23 Abs. 2
SGB VIII § 42 Abs. 1
Leitsätze:
§ 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 2 AsylG ist konform zu Art. 3 letzter Halbsatz der EU-Anerkennungsrichtlinie RL 2011/95/EU dahin auszulegen, dass er das Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft mit der stammberechtigten Person voraussetzt. (Rn. 13)
Ein Kind, das in Obhut genommen und in einer Pflegefamilie untergebracht wurde, kann den Flüchtlingsstatus nicht von seiner stammberechtigten Mutter ableiten. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asyl Nigeria, In Deutschland geborenes minderjähriges lediges Kind, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an die Mutter, Inobhutnahme des Kindes durch Jugendamt, Unterbringung bei Pflegeeltern, Keine familiäre Lebensgemeinschaft zwischen Mutter und Kind, Kein von der stammberechtigten Person abgeleiteter Familien-Flüchtlingsschutz nach § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 2 AsylG ohne das Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft mit der stammberechtigten Person, Richtlinienkonforme Auslegung von § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 2 AsylG, Familienasyl, familiäre Lebensgemeinschaft, Qualifikationsrichtlinie, Inobhutnahme, Jugendamt
Fundstelle:
BeckRS 2022, 11686

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

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Der im Jahr 2020 in Deutschland geborene Kläger ist nach Angaben seiner Vormündin nigerianischer Staatsangehöriger vom Volk der Bini. Die Vormündin nahm den Kläger gemäß § 42 Abs. 1 SGB VIII in Obhut und stellte für ihn am 28. September 2020 Asylantrag.
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Zur Begründung führte die Vormündin gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) aus, dass der Mutter des Klägers die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden sei. Die Vaterschaft für das Kind könne bisher nicht festgestellt werden. Der Kläger befinde sich bei einer Pflegefamilie. Zu seiner Mutter habe er nur wöchentlichen Umgangskontakt. Da die Mutter in ihrer Heimat keinen Schutz habe finden können, sei dies bei dem Kläger, der in Nigeria über keinen familiären Bezug verfüge, umso mehr der Fall.
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Mit Bescheid vom 18. Februar 2021 lehnte das Bundesamt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, die Asylanerkennung und den subsidiären Schutzstatus ab, stellte aber das Vorliegen des nationalen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG fest. Zur Begründung für die Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führte das Bundesamt aus, dass für den Kläger keine eigenen Verfolgungsgründe geltend gemacht oder ersichtlich seien. Allein die Asylantragstellung in Deutschland reiche nach einhelliger Erkenntnislage dafür nicht aus. Ein von der Mutter als stammberechtigter Person abgeleiteter Familien-Flüchtlingsschutz nach § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 2 AsylG scheide aus, da die dafür notwendige familiäre Lebensgemeinschaft zwischen Mutter und Kind nicht bestehe; das Bundesamt verwies hierzu auf den Beschluss des VGH Kassel vom 29. Juli 2002 - 9 UZ 454/02.A - juris. Für das Kind sei aber das nationale Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen, da diesem nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls eine Rückkehr nach Nigeria nicht zumutbar sei. Das Kind könne in Nigeria weder mit dem Schutz seiner Mutter rechnen, noch mit Schutz von Seiten seines nicht festgestellten Vaters oder von Verwandten in Nigeria.
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Mit Fax vom 26. Februar 2021 erhob die Vormündin des Klägers gegen den Bescheid Klage zum Verwaltungsgericht München und beantragte, den Bescheid aufzuheben, soweit er die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft des Klägers ablehne, und die Beklagte zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu verpflichten. Der Wortlaut des § 26 AsylG verlange keine familiäre Gemeinschaft mit dem Elternteil, von dem das Familienasyl abgeleitet werde. Zudem sei, wenn auch derzeit keine familiäre Gemeinschaft bestehe, eine solche Gemeinschaft für die Zukunft nicht endgültig auszuschließen.
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Die Klageseite verzichtete auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
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Wegen der näheren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage hat keinen Erfolg.
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Die Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im streitgegenständlichen Bescheid ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 VwGO. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft originär nach § 3 AsylG oder abgeleitet von seiner stammberechtigten Mutter nach § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 2 AsylG.
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Zur Begründung folgt das Gericht gemäß § 77 Abs. 2 AsylG den zutreffenden Ausführungen im Bescheid des Bundesamtes und führt lediglich ergänzend zur Ablehnung des abgeleiteten Familien-Flüchtlingsschutzes Folgendes aus:
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1. Der abgeleitete Familien-Flüchtlingsschutz nach § 26 Abs. 5 i.V.m Abs. 2 AsylG hat nach seinem Wortlaut nicht zur Voraussetzung, dass mit der stammberechtigten Person eine familiäre Lebensgemeinschaft zu bestehen habe.
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2. Die genannten Normen sind aber im Licht der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung) (im Folgenden: Richtlinie) zu sehen. Die genannten nationalen Normen dienen der Umsetzung dieser Richtlinie (siehe Art. 1 Nr. 19 des Gesetzes zur Umsetzung der RL 2011/95/EU, BT-Drs. 17/13063 S. 7 und 11, sowie die amtliche Begründung hierzu, BT-Drs. 17/13063 S. 21). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH (Große Kammer), U.v. 9.11.2021 - C-91/20 (LW/Bundesrepublik Deutschland) - juris, ergangen auf Vorlagebeschluss des BVerwG vom 18.12.2019 - 1 C 2.19 - juris) sieht die Richtlinie eine Erstreckung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus auf die Familienangehörigen, die selbst nicht die Voraussetzungen für die Eigenschaft oder dieses Status erfüllen, kraft Ableitung von einer Person, der diese Eigenschaft oder dieser Status zuerkannt worden ist, nicht vor (EuGH a.a.O., juris Rn. 36). Aus Art. 23 der Richtlinie gehe nämlich hervor, dass diese den Mitgliedstaaten nur aufgebe, ihr nationales Recht so anzupassen, dass diese Familienangehörigen gemäß den nationalen Verfahren Anspruch auf bestimmte Leistungen haben, die zur Wahrung des Familienverbands dienen, wie zum Beispiel die Ausstellung eines Aufenthaltstitels und der Zugang zu Beschäftigung oder Bildung, soweit dies mit der persönlichen Rechtsstellung dieser Familienangehörigen vereinbar ist (EuGH a.a.O., juris Rn. 36). Die Richtlinie kennt nach der Rechtsprechung des EuGH also keinen Familien-Flüchtlingsschutz, so wie er national in § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 2 AsylG gewährt wird.
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3. § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 2 AsylG setzt demnach nicht die Richtlinie um, sondern schafft rein nationales, quasi überschießendes Recht zu Gunsten von Familienangehörigen von stammberechtigten Personen. Die Möglichkeit der Schaffung solch nationalen Rechts erlaubt, worauf der EuGH hinweist (EuGH a.a.O., juris Rn. 38 ff.), Art. 3 der Richtlinie, wonach die Mitgliedstaaten günstigere Normen zur Entscheidung darüber, wer als Flüchtling oder Person gilt, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat, und zur Bestimmung des Inhalts des internationalen Schutzes erlassen oder beibehalten können, sofern sie mit dieser Richtlinie vereinbar sind. Überschießendes nationales Recht ist also nach der Richtlinie möglich, aber unter Beachtung von Grenzen insofern, als dieses Recht mit der Richtlinie vereinbar ist (Vereinbarkeitsvorbehalt). Nach der Rechtsprechung des EuGH (EuGH a.a.O., juris Rn. 38 ff.) ist mit dem Vereinbarkeitsvorbehalt gemeint, dass die günstigere nationale Norm die „allgemeine Systematik oder die Ziele der Richtlinie nicht gefährden“ darf; insbesondere sind danach „Normen verboten, die die Flüchtlingseigenschaft oder den subsidiären Schutzstatus Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen zuerkennen sollen, die sich in Situationen befinden, die keinen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes aufweisen“ (EuGH a.a.O., juris Rn. 40). Ein solcher Zusammenhang bestehe, „wenn die Flüchtlingseigenschaft kraft Ableitung von einer als Flüchtling anerkannten Person automatisch auf das minderjährige Kind unabhängig davon erstreckt wird, ob dieses Kind selbst die Voraussetzungen für die Zuerkennung dieser Eigenschaft erfüllt, und zwar auch dann, wenn es im Aufnahmemitgliedstaat geboren worden ist, wie dies in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Bestimmung vorgesehen ist, die - wie das vorlegende Gericht ausführt - das Ziel des Schutzes der Familie und der Wahrung des Familienverbands international Schutzberechtigter verfolgt“ (EuGH a.a.O., juris Rn. 44).
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4. Es bleibt festzuhalten, dass nach der referierten Rechtsprechung des EuGH die zu Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie überschießende nationale Regelung des § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 2 AsylG vor dem Vereinbarkeitsvorbehalt des Art. 3 letzter Halbsatz der Richtlinie Bestand hat, weil die Regelung „das Ziel des Schutzes der Familie und der Wahrung des Familienverbands international Schutzberechtigter verfolgt“. Auf den legitimierenden Gesichtspunkt der „Wahrung des Familienverbands“ weist der EuGH an mehreren Stellen seines Urteils hin (EuGH a.a.O., juris Rn. 38, 44, 45, 53, 60, 62 und amtlicher Tenor des Urteils). Besonders weist der EuGH auf Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie hin, wonach die Mitgliedstaaten dafür Sorge zu tragen haben, dass „der Familienverband aufrechterhalten werden kann“ (EuGH a.a.O., juris Rn. 43). Die überschießende nationale Regelung des § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 2 AsylG hat also vor der Richtlinie nur dann Bestand, wenn es zwischen der stammberechtigten Person und dem Familienangehörigen einen Familienverband gibt, der gewahrt oder aufrechterhalten werden kann. § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 2 AsylG ist daher konform zu Art. 3 letzter Halbsatz der EU-Anerkennungsrichtlinie RL 2011/95/EU dahin auszulegen, dass er das Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft mit der stammberechtigten Person voraussetzt.
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5. Eine familiäre Lebensgemeinschaft zwischen dem Kläger und seiner Mutter besteht nicht. Das Kind musste seiner Mutter weggenommen und in eine Pflegefamilie verbracht werden. Der Kontakt zwischen Mutter und Kind besteht in einem bloßen wöchentlichen Umgangskontakt. Die familiären Verhältnisse sind prekär. Es gibt, jedenfalls zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 AsylG), keinen Familienverband, der gewahrt oder aufrechterhalten werden könnte. Ein abgeleiteter Familien-Flüchtlingsschutz nach § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 2 AsylG kommt deshalb nicht in Betracht.
15
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.