Titel:
Folgeantrag wegen drohender Diskriminierung während des Militärdienstes und unzureichender medizinischer Versorgung in Aserbaidschan
Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5, § 71 Abs. 1 S. 1
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
Leitsatz:
Der Auskunftslage lassen sich keine Hinweise darauf entnehmen, dass die Heranziehung zum Militärdienst in diskriminierender Weise, dh in einer an ein asylrelevantes Merkmal iSd § 3 AsylG anknüpfenden Weise, erfolgt. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asyl Aserbaidschan, Folgeantrag, Wehrdienst Aserbaidschan, Erkrankungen: Spastische, Zerebralparese, psychische Erkrankungen, Epilepsie, Asylfolgeantrag, Aserbaidschan, medizinische Versorgung, Bergkarabach, Militärdienst, Wehrdienstentziehung, psychischen Erkrankung, spastische Zerebralparese, Existenzminimum
Fundstelle:
BeckRS 2022, 10768
Tenor
Die Klagen werden abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Tatbestand
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Die Kläger sind eigenen Angaben zufolge aserbaidschanische Staatsangehörige. Die Kläger zu 3) bis 6) sind Kinder der Kläger zu 1) und 2). Die Kläger stellten am 19. März 2021 Anträge auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens (Folgeanträge).
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Die Kläger haben bereits zahlreiche Asylverfahren durchlaufen. Die Asylanträge der Kläger zu 1) und zu 2) wurden in den Jahren 2004 und 2005 unanfechtbar abgelehnt. Zuletzt wurden Asylfolge- und Erstanträge der Kläger mit Urteilen des Bayerischen Verwaltungsgerichts Ansbach vom 26. Oktober 2020 unanfechtbar abgelehnt (AN 16 K 17.30102, AN 16 K 17.30103 und AN 16 K 17.30105). Die Entscheidungen sind seit dem 2. Dezember 2020 rechtskräftig.
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Auf diese Verfahren und Entscheidungen wird Bezug genommen.
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Im Rahmen des Verwaltungsverfahrens über die Asylfolgeanträge trugen die Kläger vor, dass der Kläger zu 1) politische Probleme in Aserbaidschan gehabt habe. Er könne daher nicht dorthin zurückkehren, weil es einen Krieg in Bergkarabach in Aserbaidschan gebe. Zudem habe er psychische Probleme. Seine Tochter, die Klägerin zu 4), sei mit einer Erkrankung geboren. Sie leide an Epilepsie und habe eine Lähmung. Die Klägerin zu 4) sei zudem bereits mehrmals operiert worden. In Aserbaidschan würde sie nicht ausreichend behandelt. Der Kläger zu 3) würde außerdem hier in die Schule gehen und eine Ausbildung absolvieren. Für die Klägerin zu 4) wurden folgende Atteste und Berichte vorgelegt, auf die vollumfänglich Bezug genommen wird:
- ärztliches Attest der Gemeinschaftspraxis für Kinder- und Jugendmedizin - …
- vom 4. März 2021 - ärztliche Bescheinigung der Reha-Klinik … vom 10. Februar 2021
- Bericht des Krankenhauses … vom 26. November 2020
- Bericht des Krankenhauses … vom 23. März 2021
- Bestätigung des Krankenhauses … vom 13. April 2021
- ärztliches Attest der Gemeinschaftspraxis für Kinder- und Jugendmedizin - …
- vom 12. April 2021 - ärztliche Stellungnahme des Universitätsklinikums … vom 15. April 2021.
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Insgesamt geht daraus im Wesentlichen hervor, dass die Klägerin zu 4) an einer spastischen Zerebralparese, einer schweren tiefgreifenden Entwicklungsstörung mit geistiger Behinderung, einer symptomatischen Epilepsie mit generalisierten Anfällen, einer Stuhl- und Harninkontinenz, einer chronischen Obstipation und einem Vitamin D-Mangel leide. Die Klägerin zu 4) sitze im Rollstuhl und sei auf Hilfe angewiesen.
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Mit Bescheid vom 24. Juni 2021, als Einschreiben zur Post gegeben am 29. Juni 2021, lehnte die Beklagte die Anträge als unzulässig ab (Ziffer 1) und lehnte die Anträge auf Abänderung der Bescheide bezüglich der Kläger zu 1) bis 3) vom 22. Dezember 2016, bezüglich der Kläger zu 4) und 5) vom 22. Dezember 2016 und bezüglich der Klägerin zu 6) vom 22. Dezember 2016 bezüglich der Feststellung zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG ab (Ziffer 2).
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Zur Begründung gab die Beklagte im Wesentlichen an, dass die Anträge unzulässig seien, da die Voraussetzungen für die Durchführung von weiteren Asylverfahren nicht vorlägen. Der Wiederaufgreifensgrund der Sachlagenänderung nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG sei vorliegend nicht gegeben. Im vorliegenden Fall hätten die Kläger im Verlaufe der letzten Jahre eine Reihe von Asyl- und Asylfolgeanträgen gestellt. Für die Kläger zu 1) und 2) sei es nun der dritte Folgeantrag, für den Kläger zu 3) der zweite Folgeantrag und für die weiteren Kläger der erste Folgeantrag. Im Schreiben des Bevollmächtigten seien keine Gründe angegeben, weshalb ein erneutes Verfahren durchgeführt werden solle. Es sei auch kein neuer Vortrag zu finden zu der Frage, ob internationaler Schutz zuzuerkennen sei. Bezüglich des Klägers zu 3) und der Kläger zu 5) und zu 6) sei nichts asylrechtlich Relevantes vorgetragen, insbesondere der Vortrag hinsichtlich der Ausbildung in Deutschland sei im Asylverfahren nicht zu berücksichtigen. Soweit der Kläger zu 1) vortrage, ihm drohe in Aserbaidschan wegen politischer Probleme Verhaftung und Verfolgung, sei vollumfänglich auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 26. Oktober 2020 zu verweisen, wonach dieser Vortrag als unglaubhaft zurückgewiesen worden sei. Hinsichtlich des Vortrags zu dem Konflikt in Bergkarabach bleibe der Vortrag unsubstantiiert. Zudem gebe es hier eine neue Waffenruhe seit dem 9. November 2020. Die vorgelegten ärztlichen Unterlagen hinsichtlich der Klägerin zu 4) seien für die Prüfung des § 3 AsylG und des § 4 AsylG unerheblich.
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Auch eine Abänderung der Bescheide hinsichtlich der Feststellungen in § 60 Abs. 5 und 7
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AufenthG sei abzulehnen. Insbesondere sei auf die Erkrankungen der Klägerin zu 4) bereits in früheren Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Ansbach eingegangen worden. Epilepsie könne in Aserbaidschan sehr wohl behandelt werden entgegen dem ärztlichen Attest vom 12. April 2021. Zudem sei von einer gemeinsamen Rückkehr der Kläger im Familienverbund auszugehen. Es sei nicht erkennbar, weshalb ein erhöhter Betreuungsaufwand nicht durch die Familie gewährleistet werden könnte. Soweit in Attesten davon gesprochen werde, eine Abschiebung nach Aserbaidschan stelle für die Familie eine massive Bedrohung für die körperliche, seelische und geistige Entwicklung der Klägerin zu 4) dar, so bleibe diese Aussage unsubstaniiert und sei nicht geeignet, die Gefahr einer konkreten sowie lebensbedrohlichen Gesundheitsverschlechterung zu belegen.
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Mit Schriftsatz vom 7. Juli 2021, eingegangen bei Gericht am selben Tag, erhoben die Kläger Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 24. Juni 2021.
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Zur Begründung verweisen die Kläger im Wesentlichen auf die bereits im Verwaltungsverfahren vorgelegten ärztlichen Atteste, wonach sich entsprechend schwere Erkrankungen insbesondere der Klägerin zu 4) ergeben würden. Darüber hinaus legen die Kläger für die Klägerin zu 4) eine ärztliche Stellungnahme des Universitätsklinikums … vom 15. November 2021, einen Bericht des Universitätsklinikums vom 13. Januar 2022, eine ärztliche Stellungnahme des Universitätsklinikums … vom 17. Januar 2022 und einen Schwerbehindertenausweis mit einem GdB von 100 vor. Auf die Unterlagen wird Bezug genommen. Aus den vorgelegten Unterlagen ergebe sich, dass bei einem Abbruch der Versorgung eine erhebliche Verschlechterung zu erwarten sei. In Aserbaidschan mangele es an adäquater medizinischer Versorgung. Selbst wenn diese vorliegen sollte, wäre diese auf Grund fehlender sozialer Absicherung aus finanzieller Sicht nicht zu erhalten. Selbst wenn die medizinische Versorgung als kostenlos eingeschätzt würde, so sei dadurch noch nicht das Leben außerhalb des medizinischen Bereichs gesichert. Auf Grund dieser Versorgung wäre ein Elternteil der Zugang zum Arbeitsmarkt nicht möglich, so dass ein Elternteil allein und selbständig für die Familie sorgen müsste. Für den Kläger zu 1) sei ein Betreuer bestellt worden, wie sich aus dem Betreuerausweis des Amtsgerichts … vom 12. August 2021 ergebe. Auch die Corona-Pandemie und der Krieg in der Ukraine hätten wirtschaftliche Auswirkungen auf den aserbaidschanischen Staat. Zudem wird bezüglich des Klägers zu 1) eine psychiatrische Stellungnahme zur Vorlage bei der Ausländerbehörde des Facharztes für Psychiatrie/Psychotherapie … vom 28. Juli 2021 vorgelegt sowie ein ärztlicher Bericht des Klinikums … vom 10. März 2022. Demnach werden beim Kläger zu 1) u.a. ein residuales Übergangssyndrom nach Psychose sowie eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode, diagnostiziert. Der Kläger zu 1) habe Risperidon, Pregabalin sowie die Fortführung einer Arbeitstherapie verordnet bekommen.
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Die Kläger beantragen,
- 1.
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Der Bescheid der Beklagten vom 24. Juni 2021, zugestellt am 29. Juni 2021, Az. …, wird aufgehoben.
- 2.
-
Die Beklagte wird verpflichtet unter Abänderung der Bescheide vom 22. Dezember 2016, Az. … und … festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen.
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Die Beklagte beantragt,
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Zur Erwiderung führt die Beklagte im Wesentlichen aus, dass die im Hinblick auf den Kläger zu 1) vorgelegte psychiatrische Stellungnahme vom 28. Juli 2021 nicht den gesetzlichen Anforderungen des § 60a Abs. 2c AufenthG genüge. Die Ausführungen seien vage und unsubstan-tiiert. Zudem sei davon auszugehen, dass psychiatrische Erkrankungen in Aserbaidschan grundsätzlich kostenlos behandelbar seien. Eine signifikante Einschränkung der Arbeitsfähigkeit in allen Bereichen sei nicht zu erkennen. Soweit angenommen werde, dass der Kläger zu 1) erkrankungsbedingt nicht abschiebefähig sei, handele es sich dabei um kein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot. Hinsichtlich der Klägerin zu 4) würden keine neuen Erkenntnisse vorgetragen. Die insoweit vorgelegten Atteste seien bereits in der angegriffenen Entscheidung verwertet.
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Soweit die Klägerseite neue Atteste vorlege, scheide ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG weiterhin aus. Ärztliche Verlaufsuntersuchungen könnten in Aserbaidschan durchgeführt und die empfohlenen begleitenden therapeutischen Fördermaßnahmen auf landestypischem Niveau fortgeführt werden. Die erforderliche Medikation werde nicht näher bezeichnet. Hinsichtlich des individuellen Zugangs müsse sich die Klägerin zu 4) zunächst auf die in öffentlichen Krankenhäusern kostenlose Versorgung verweisen lassen. Am 1. April 2021 sei eine allgemeine Krankenversicherung eingeführt worden. Alle ärztlichen Behandlungen und die Versorgung mit Medikamenten sollten damit abgedeckt werden. Es sei weiterhin davon auszugehen, dass die Familie ihr Existenzminimum oder zumindest einen Teil hiervor durch die Arbeitskraft der Kläger zu 1) und 2) sichern könne. Die Kläger zu 1) und 2) seien arbeitsfähig. Es lägen auch keine Erkenntnisse darüber vor, dass das aserbaidschanische Sozialsystem und der dortige Arbeitsmarkt auf Grund des Krieges in der Ukraine vollständig zusammengebrochen wären.
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Mit Beschluss vom 11. November 2021 ist der Rechtsstreit auf den Einzelrichter übertragen worden.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf die beigezogenen Behördenakten, die Gerichtsakten sowie das Protokoll über die mündliche Verhandlung.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist unbegründet.
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Der Bescheid der Beklagten vom 24. Juni 2021 ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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1. Die Asylfolgeanträge der Kläger erweisen sich als unzulässig (§§ 29 Abs. 1 Nr. 5, 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG), weil weitere Asylverfahren mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG nicht durchzuführen sind.
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Stellt ein Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrages erneut einen Asylantrag (Folgeantrag), so ist gemäß § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen. Ein weiteres Asylverfahren findet unter den Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 VwVfG nur statt, wenn sich die dem Verwaltungsakt zugrundeliegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zu Gunsten des Betroffenen geändert hat (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG), neue Beweismittel vorliegen, die für den Betroffenen eine günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG) oder Wiederaufgreifensgründe entsprechend § 580 ZPO gegeben sind (§ 51 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG).
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Nach § 51 Abs. 2 VwVfG ist ein Folgeantrag nur zulässig, wenn der Antragsteller ohne grobes Verschulden außer Stande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in seinem Asylerstverfahren insbesondere durch Rechtsbehelf, geltend zu machen. Die dreimonatige Präklusionsfrist des § 51 Abs. 3 Satz 1 VwVfG findet nach einem Urteil des EuGH vom 9. September 2021 - C-18/20 - keine Anwendung mehr.
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Die Voraussetzungen des § 51 VwVfG, insbesondere eine Änderung der Sachlage, sind vorliegend nicht gegeben.
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Soweit der Kläger zu 1) vorträgt, er könne nicht nach Aserbaidschan zurück, da er dort politische Probleme gehabt habe, so ist dies keine neue Sachlage. Vielmehr ist dieser Vortrag bereits mehrfach in früheren Asylverfahren vorgetragen worden.
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Diesbezüglich erfolgte auch kein neuer Vortrag in der mündlichen Verhandlung. Zudem gaben die Kläger in der mündlichen Verhandlung an, seit den vergangenen gerichtlichen Verfahren auch nicht mehr in Aserbaidschan gewesen zu sein.
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Eine Änderung der Sachlage liegt auch nicht vor auf Grund des Konflikts in Bergkarabach.
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Es ist festzuhalten, dass sich Aserbaidschan zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht mehr im Krieg mit Armenien hinsichtlich der Region Bergkarabach befindet. Der Konflikt aus dem Jahre 2020 wurde im Herbst 2020 insoweit beigelegt. Auf Grund der derzeitigen Umstände ist daher nicht davon auszugehen, dass insbesondere der Kläger zu 3) dort als Soldat eingesetzt würde.
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Eine geänderte Sachlage, insbesondere zu Gunsten des Klägers zu 3), ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass er möglicherweise zum Wehrdienst eingezogen würde. Zudem ist keine Misshandlung des Klägers zu 3) dort zu befürchten.
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Grundsätzlich ist festzustellen, dass jeder Staat das Recht hat, eine Streitkraft zu unterhalten, seine Staatsangehörigen zum Wehrdienst dieser Streitkraft heranzuziehen und Personen, die sich dem Wehrdienst entziehen, angemessen zu bestrafen. Eine asylrelevante Verfolgung nach § 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG kann zwar auch in einer unverhältnismäßigen Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung bestehen, oder etwa dann angenommen werden, wenn die Heranziehung zum Wehrdienst als solche in diskriminierender Weise erfolgt. Beides ist vorliegend nicht der Fall.
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Der Auskunftslage lassen sich keine Hinweise darauf entnehmen, dass die Heranziehung zum Militärdienst in diskriminierender Weise, d.h. in einer an ein asylrelevantes Merkmal im Sinne des § 3 AsylG anknüpfenden Weise erfolgt (vgl. Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Aserbaidschan des Auswärtigen Amtes vom 22.2.2019, S. 11 f.). Soweit mit einer Bestrafung zu rechnen ist, knüpft auch diese nicht an ein asylrelevantes Merkmal an, sondern an die Verletzung einer staatsbürgerlichen Pflicht. Zudem stellen die Strafvorschriften Aserbaidschans wegen Wehrdienstentziehung keine unverhältnismäßige Bestrafung dar. Eine unverhältnismäßige Bestrafung wegen einer Wehrdienstentziehung kann regelmäßig nur dann angenommen werden, wenn der Betreffende durch die fehlende Möglichkeit der Verweigerung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen und die darauffolgende Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung in seinem Recht aus Art. 9 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl. 1952 II, S. 685) - EMRK - verletzt wird (vgl. EGMR, U.v. 7.7.2011 - 23459/03 - juris). Dabei kommt es insbesondere darauf an, ob der Betroffene eine echte und aufrichtige Gewissensentscheidung gegen den Wehr- oder Kriegsdienst glaubhaft machen kann (vgl. BayVGH, B.v. 15.2.2016 - 11 ZB 16.30012 - juris).
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Dies ist vorliegend abzulehnen, weil die diesbezüglichen Ausführungen des Klägers zu 3) als Pauschalerwägungen und nicht als Ausdruck einer tiefgreifenden Gewissensentscheidung zu bewerten sind. Eine fehlende Bereitschaft, die mit dem Wehrdienst verbundenen Risiken für Leib und Leben einzugehen, ist nicht für eine Wehrdienstverweigerung aus pazifistischen Gewissensgründen ausreichend. Die diesbezüglichen Ausführungen des Klägers, die erstmals so in der mündlichen Verhandlung vor Gericht erfolgten, bleiben bezüglich des Wehrdienstes oberflächlich und vage. Der Kläger beließ es bei Ausführungen, dass er nicht in Bergkarabach getötet oder zum Wehrdienst eingezogen werden wolle. Ob der Kläger insgesamt dem Wehr- oder Kriegsdienst abgeneigt ist, ließ er mit der Oberflächlichkeit seiner Aussagen offen. Es kann nicht von einer ernsthaften Gewissensentscheidung ausgegangen werden. Die in Aserbaidschan verhängten Strafen wegen Wehrdienstentziehung sind auch nicht unverhältnismäßig hoch. Hat sich eine Person nach Annahme eines Einberufungsbefehls dem Militärdienst entzogen, so hat sie bis zum Alter von 37 Jahren in der Armee zu dienen. Weiter muss mit Bestrafung gerechnet werden. Gemäß Art. 334 des aserbaidschanischen Gesetzbuches steht auf Desertion eine Haftstrafe von drei bis sieben Jahren, in Kriegszeiten und während Kampfhandlungen von fünf bis zehn Jahren (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Verwaltungsgericht Bayreuth vom 23.2.2011).
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Der Kläger zu 3) hat zudem weder vorgetragen, dass er einen Einberufungsbefehl erhalten hätte, noch hat er dargelegt, inwieweit er bei den aserbaidschanischen Behörden überhaupt registriert ist als potentieller Wehrdienstleistender vor dem Hintergrund des Umstandes, dass er in …Deutschland geboren wurde.
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Darüber hinaus gelangt das Gericht unter Auswertung der Erkenntnismittel zu der Überzeugung, dass es innerhalb des aserbaidschanischen Militärs jedenfalls nicht mehr zu schutzrelevanten Handlungen kommt. Während sich in einem Lagebericht des Auswärtigen Amtes aus dem Jahre 2014 noch Hinweise auf Mobbing in der Armee entnehmen ließen, ist dies bei aktuellen Lageberichten gerade nicht mehr der Fall und wohl auch der damals amtierende Verteidigungsminister wurde am 22. Oktober 2013 ausgewechselt (vgl. Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Aserbaidschan des Auswärtigen Amtes vom 13. Februar 2014, S. 15, vom 18.6.2018, S. 11 und vom 22.2.2019, S. 11 f.). Demnach ist entgegen dem Vortrag des Klägers zu 3) in der mündlichen Verhandlung, dass er auf Grund seiner Tattoos an der Hand entweder geschlagen oder eventuell sogar getötet werde, nicht von einer entsprechenden Bestrafung auszugehen.
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Im Übrigen folgt das Gericht der ausführlichen und zutreffenden Begründung im streitgegenständlichen Bescheid (§ 77 Abs. 2 AsylG), so dass von einer weiteren Ausführung abgesehen wird.
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2. Auch hinsichtlich der im vorliegenden Verfahren begehrten Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG erweist sich die Klage als unbegründet.
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Gemäß §§ 24 Abs. 2, 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG hat das Bundesamt für ... in Entscheidungen über unzulässige Asylanträge festzustellen, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegen. Den Klägern stehen zur Überzeugung des Gerichts keine nationalen Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG zur Seite.
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Hierfür nimmt das Gericht zunächst Bezug auf die ausführliche und zutreffende Begründung der Beklagten in dem streitgegenständlichen Bescheid (§ 77 Abs. 2 AsylG).
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Ergänzend gilt Folgendes:
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Die Kläger können die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht beanspruchen.
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a) Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Insbesondere Art. 3 EMRK steht einer Abschiebung entgegen, wenn dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe droht.
41
Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG sind vorliegend nicht gegeben. Diesbezüglich wird auf die Begründung des streitgegenständlichen Bescheids Bezug genommen, der das Gericht folgt (§ 77 Abs. 2 AsylG). Zudem wird auf obige Ausführungen verwiesen.
42
b) Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG setzt eine einzelfallbezogene, erhebliche und konkrete Gefahrensituation voraus, wobei es nicht darauf ankommt, von wem die Gefahr ausgeht und wodurch sie hervorgerufen wird. Erheblich ist eine Gefahr, wenn sie von bedeutendem Gewicht ist, konkret, wenn ihre Verwirklichung mit einer auf stichhaltigen Gründen beruhenden beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG dabei nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch eine Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Konkret ist die durch eine Krankheit verursachte Gefahr, wenn die Verschlechterung des Gesundheitszustandes alsbald nach Rückkehr in das Herkunftsland eintreten würde, weil eine adäquate Behandlung dort nicht möglich ist. Es ist jedoch nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist, § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG. Maßgeblich sind vielmehr die dort üblichen Standards. Nicht zu prüfen ist deshalb, ob in Aserbaidschan eine medizinisch optimale Behandlung oder gar eine Heilung zu erreichen ist. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG liegt eine ausreichende medizinische Versorgung in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaates gewährleistet ist.
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Im aserbaidschanischen Gesundheitssystem hat die Regierung in den letzten Jahren erhebliche Investitionen vorgenommen (vgl. Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Aserbaidschan des Auswärtigen Amtes vom 17.11.2020, Stand: November 2020, S. 21). Zu Anfang des Jahres wurde eine allgemeine Krankenversicherung eingeführt, die auf eine Verbesserung der medizinischen Versorgung insgesamt abzielt. Ihre schrittweise verbindliche Einführung wurde wegen der Covid-19-Pandemie auf 2021, mithin auf dieses Jahr, verschoben.; theoretisch gibt es eine alle notwendigen Behandlungen umfassende kostenlose medizinische Versorgung. Dringende medizinische Hilfe wird in Notfällen gewährt, mittellose Patienten werden minimal versorgt, dann jedoch nach einigen Tagen „auf eigenen Wunsch“ entlassen, wenn sie die Behandlungskosten und „Zuzahlungen“ an die Ärzte und das Pflegepersonal nicht aufbringen können. In diesem Fall erfolgt dann die weitere Behandlung ambulant oder nach Kostenübernahme durch Dritte. Neben der staatlichen Gesundheitsversorgung bildete sich in den vergangenen Jahren ein florierender privater medizinischer Sektor heraus, der gegen Barzahlung medizinische Leistungen auf annähernd europäischem Standard bietet. Bei stationärer Behandlung sind alle Medikamente kostenfrei (vgl. IOM Länderinformationsblatt Aserbaidschan 2016, S. 2). Ambulante Patienten zahlen ihre Medikamente mit Ausnahme bei Krebserkrankungen und psychischen Erkrankungen selbst. Medikamente sind vergleichsweise teuer. Auch wenn die medizinische Versorgung noch nicht europäischen Standards entspricht, können verbreitete Erkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck, Asthma, Anämie, Gelenk- und Rückenschmerzen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie die coronare Herzkrankheit, Herzrhythmusstörungen, psychische Erkrankungen wie Depressionen, Drogenmissbrauch und posttraumatische Belastungsstörungen in Aserbaidschan adäquat behandelt werden. Bis auf wenige Ausnahmen sind die in Deutschland üblichen Medikamente auch in Aserbaidschan erhältlich (vgl. Information zur medizinischen Versorgung in Aserbaidschan der Botschaft Baku vom 29.4.2016). Nicht vorhandene Medikamente können in der Regel durch andere, wirkungsgleiche ersetzt werden.
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Unter Zugrundelegung der genannten Maßstäbe und Erkenntnismittel erweist sich eine Abschiebung der Kläger nach Aserbaidschan weder gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG noch nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG als unzulässig. Zur Begründung wird vollumfänglich auf die zutreffenden Ausführungen der Beklagten in dem angefochtenen Bescheid Bezug genommen, denen das Gericht folgt (§ 77 Abs. 2 AsylG).
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Hinsichtlich der vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen und Atteste bezüglich Erkrankungen der Kläger ist festzuhalten, dass bezüglich der geplanten Operation des Klägers zu 1) am Nacken, wie er erstmals in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, kein ärztliches Attest vorgelegt wurde. Es ist daher nicht davon auszugehen, dass dies zum einen in Aserbaidschan nicht behandelbar wäre, insbesondere auch vor dem Hintergrund der Erkenntnismittellage. Zum anderen ist nicht erkennbar, dass eine erhebliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes bei einer Rückkehr nach Aserbaidschan drohen würde.
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Hinsichtlich der vorgetragenen psychischen Erkrankung des Klägers zu 1) ist festzuhalten, dass psychische Erkrankungen nach der Erkenntnismittellage in Aserbaidschan behandelbar sind.
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Hinsichtlich der Erkrankungen der Klägerin zu 4) wird zunächst auf die Entscheidung im früheren Verfahren der Klägerin beim Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach vom 26. Oktober 2020 (AN 16 K 17.30105) Bezug genommen. Soweit die Erkrankungen der Klägerin zu 4) behandelbar sind, insbesondere die Epilepsie, ist von einer Behandelbarkeit in Aserbaidschan vor dem Hintergrund der Erkenntnismittellage auszugehen. Es wurden keine ärztlichen Stellungnahmen vorgelegt, wonach die Klägerin zu 4) eines bestimmten Medikaments bedürfe. Von daher ist davon auszugehen, dass diese Medikamente oder jedenfalls vergleichbare Wirkstoffe in Aserbaidschan vorhanden sind, so die Erkenntnismittellage. Die spastische Zerebralparese bzw. ihre Folgen sind insoweit nicht behandelbar. Soweit durch Physiotherapie, Ergotherapie oder Logopädie die Folgen hieraus verbessert werden können, so ist nach der Erkenntnismittellage festzuhalten, dass diese auch in Aserbaidschan erhältlich sind (vgl. Auskunft der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Baku an das Verwaltungsgericht Ansbach vom 14.4.2015).
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Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG liegen daher nicht vor.
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Darüber hinaus ist festzuhalten, dass nach der Erkenntnismittellage die entsprechenden Behandlungen und Medikamente, insbesondere vor dem Hintergrund der Einführung einer allgemeinen Krankenversicherung, für die Kläger kostenlos zur Verfügung stehen. Sollte es im Einzelfall dennoch zu Kosten kommen, ist jedenfalls davon auszugehen, dass die Kläger diese auch erreichen können. Die Kläger zu 1) und 2) sind arbeitsfähig. Aus den vorgelegten ärztlichen Attesten des Klägers zu 1) ergibt sich insbesondere nicht, dass dieser auf Grund seiner psychischen Erkrankung arbeitsunfähig wäre. Auch wenn in Betracht gezogen wird, dass die Betreuung der Klägerin zu 4) insoweit sicherlich Zeit in Anspruch nimmt, so ist davon auszugehen, dass die Kläger, die im Familienverbund ausreisen könnten, in der Lage sein werden, sich ein Existenzminimum im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG zu erwirtschaften und damit auch gegebenenfalls finanziell in der Lage sein werden, Medikamente oder medizinische Behandlungen zu erwerben.
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Soweit die Kläger vortragen, dass die finanzielle Absicherung der Familie vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie und des Krieges in der Ukraine schwierig sei, so macht sich das Gericht zunächst die Begründung im streitgegenständlichen Bescheid zu eigen. Darüber hinaus ist auch für das Gericht nicht erkennbar, dass der Staat Aserbaidschan von der Corona-Pandemie in einem größeren Ausmaß wirtschaftlich betroffen wäre, als es die meisten anderen Staaten sind. Auch der aserbaidschanische Staat bekämpft die Folgen der Pandemie. Hinsichtlich des Krieges in der Ukraine liegen dem Gericht keine Erkenntnisse vor, dass dies Auswirkungen auf den aserbaidschanischen Staat in einem Umfang hätte, das über das hinausgeht, wie auch andere Staaten hiervon betroffen sind.
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 161 Abs. 1, 154 Abs. 1 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.