Titel:
Anspruch auf bauaufsichtliches Einschreiten (verneint), Gebietserhaltungsanspruch, Gebot der Rücksichtnahme, Gemengelage, Ermessensreduzierung auf Null, Nachbarklage, Zimmerei
Normenketten:
BauGB § 34 Abs. 2
BauGB § 35
BauNVO §§ 4, 5
BayVwVfG Art. 37 Abs. 1
BayBO Art. 76
Schlagworte:
Anspruch auf bauaufsichtliches Einschreiten (verneint), Gebietserhaltungsanspruch, Gebot der Rücksichtnahme, Gemengelage, Ermessensreduzierung auf Null, Nachbarklage, Zimmerei
Fundstelle:
BeckRS 2022, 10512
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger begehrt den Erlass bauaufsichtlicher Maßnahmen gegenüber den Beigeladenen.
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Der Kläger ist Eigentümer des Grundstücks FlNr. ... Gem. … Am 11. Januar 2019 wurde dem Kläger eine Baugenehmigung zum Neubau eines Wohnhauses auf diesem Grundstück erteilt. Im Mai 2019 wurde dort ein sog. Tiny House errichtet. Der Kläger bewohnt die Wohnung im Erdgeschoss eines Zweifamilienhauses auf dem Grundstück FlNr. ... Gem. …, das von dem Grundstück FlNr. ... durch das unbebaute Grundstück FlNr. ... getrennt ist. Das Grundstück FlNr. ... steht im Miteigentum des Klägers und dessen Mutter; das Grundstück FlNr. ... steht im Eigentum der Mutter des Klägers.
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Die Beigeladene zu 1) ist Eigentümerin des südöstlich der genannten Grundstücke liegenden Grundstücks FlNr. ... Gem. … (Vorhabensgrundstück), das ihrem Ehemann, dem Beigeladenen zu 2), zur Nutzung durch dessen Zimmerei- und Holzbaubetrieb überlassen ist. Der Beigeladene zu 2) ist Eigentümer der östlich des Vorhabensgrundstücks liegenden Grundstücks FlNr. ... Gem. …, in dem die Beigeladenen wohnen. Ein Bebauungsplan besteht nicht.
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Mit Schreiben vom … März 2018 beantragte der Kläger bei dem Beklagten erstmals den Erlass einer Nutzungsuntersagung und Baueinstellung gegenüber dem Beigeladenen zu 2). Dieser habe einen illegalen Zimmereibetrieb angesiedelt und den Betrieb aufgenommen.
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Unter dem 25. März 2019 wurde unter der Firma des Beigeladenen zu 2) ein Antrag auf Erteilung einer Baugenehmigung zur Änderung der Nutzung des ehemaligen landwirtschaftlichen Gebäudes zu Lagertätigkeiten und Lagerzwecken auf der FlNr. ... Gem. … für dessen Zimmereibetrieb gestellt.
6
Gemäß Betriebsbeschreibung vom 25. März 2019 sollen Anlieferungen per Lkw einmal monatlich, gemäß überarbeiteter Betriebsbeschreibung vom 30. Oktober 2020 zwei- bis viermal monatlich von Montag bis Freitag zwischen 8:00 Uhr und 16:00 Uhr stattfinden. Die Auslieferungszeiten dauern hiernach 15-30 Minuten. Die An- und Abfahrten finden mit dem betriebseigenen Lkw und dem Lieferwagen statt, es werden vier Fahrbewegungen pro Tag vorgenommen.
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Unter dem 21. Oktober 2020 kommt ein von der Firma des Beigeladenen zu 2) in Auftrag gegebenes Lärmgutachten der Firma … GmbH bei Bewertung eines Tages mit einem Anlieferereignis per Lkw zu dem Ergebnis, dass an allen maßgeblichen Immissionsorten der Immissionsrichtwert für ein allgemeines Wohngebiet nach der TA Lärm eingehalten würde (Seite 13 des Gutachtens).
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Mit Bescheid vom 11. April 2019, dem Kläger zugestellt am 13. April 2019, lehnte das Landratsamt den Erlass einer Nutzungsuntersagung ab. Zwar werde das streitgegenständliche Gebäude ohne erforderliche Genehmigung genutzt. Die Nutzungsuntersagung sei jedoch nicht erforderlich. Der Antrag sei während eines anhängigen Baugenehmigungsverfahrens gestellt worden. Hinsichtlich der Ermessenausübung habe berücksichtigt werden können, dass die Firma des Beigeladenen zu 2) einen Bauantrag gestellt habe. Im Rahmen des Baugenehmigungsverfahrens sei bei der Prüfung der Genehmigungsfähigkeit über die Nutzungsuntersagung entschieden worden. Die Halle befinde sich im Innenbereich. Die Nutzung als reine Lagertätigkeit sei zulässig, da keine typisierende Betrachtungsweise angezeigt sei. Das konkrete Vorhaben müsse individuell beurteilt werden. Selbst bei Annahme eines faktischen allgemeinen Wohngebiets sei die geplante Nutzung nicht unzulässig. Der Betrieb des Beigeladenen zu 2) sei unter der Adresse … 1 gemeldet. Zuschnitt- und Abbundarbeiten fänden direkt auf der Baustelle und nicht auf dem Grundstück statt. Der Fuhrpark des Betriebs solle auf dem Grundstück untergebracht werden, wobei Anlieferungen nur ca. einmal monatlich stattfänden. Es handle sich gerade nicht um Tätigkeiten, die typischerweise von einer Zimmerei ausgingen. Das vom Betrieb ausgehende Störpotenzial beschränke sich auf das Be- und Entladen der Betriebsfahrzeuge und die Abfahrt zur sowie Rückkehr von der jeweiligen Baustelle. Eine am 6. August 2018 durchgeführte Ortseinsicht habe keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass von der gegenwärtigen Nutzung derart erhebliche Beeinträchtigungen für den Kläger ausgingen, die eine Ermessensreduktion auf Null annehmen ließen. Schließlich sei der Kläger auch deshalb nicht in seinem Wohnfrieden gestört, da er in M. wohne und das Grundstück FlNr. ... Gem. … noch nicht bebaut sei.
9
Mit Bescheid vom 3. Dezember 2020 erteilte der Beklagte der Firma des Beigeladenen zu 2) die begehrte Baugenehmigung, die Gegenstand des Verfahrens M 1 K 20.6867 ist. Das Lärmgutachten vom 21. Oktober 2020 sowie die Betriebsbeschreibung vom 30. Oktober 2020 wurden zum Bestandteil der Baugenehmigung gemacht.
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Die Baugenehmigung sieht folgende Immissionsschutzauflagen betreffend den Lärmschutz vor:
Die vom Gesamtbetrieb der Anlage ausgehenden Geräusche (Lagertätigkeiten, Liefer- und Betriebsverkehr) dürfen an den maßgeblichen Immissionsorten einen Beurteilungspegel von 55 dB(A) tagsüber (6-22 Uhr) nicht überschreiten. Kurzzeitige Geräuschspitzen dürfen den Beurteilungspegel von 55 dB(A) nicht um mehr als 30 dB überschreiten. Als maßgebliche Immissionsorte werden die zum Lüften erforderlichen Fenster schutzbedürftiger Räume nach DIN 4109 auf den Flurnummern ... sowie dem derzeit unbebauten Grundstück ... (sofern baurechtlich zulässig) der Gemarkung … festgelegt (Nr. 701.2).
Ein Nachtbetrieb ist nicht zulässig. Die zum Betrieb gehörenden lärmverursachenden Maschinen und Aggregate und Fahrzeuge sind nach dem Stand der Lärmschutztechnik zu errichten, zu betreiben und zu warten. Während des Verladens sind die Motoren der Fahrzeuge abzuschalten, außer sie werden unmittelbar für diesen Vorgang benötigt, das unnötige Laufenlassen von Motoren ist unzulässig (Nr. 701.3).
Lärmintensive Tätigkeiten (wie bspw. Hämmern, Fräsen, Sägen, Hobeln u.ä.) sind nicht gestattet (Nr. 701.4).
Zum Einsatz kommende Logistikmaschinen und/oder Flurförderzeuge dürfen einen Schallleistungspegel von LWA = 98 dB(A) nicht überschreiten. Die maximale tägliche Betriebsdauer darf 1 h nicht übersteigen (Nr. 701.5).
11
Mit am 12. April 2019 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz vom … April 2019 erhob der Kläger zunächst Untätigkeitsklage. In der mündlichen Verhandlung am 25. Januar 2022 beantragt er zuletzt,
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das Landratsamt Freising unter Aufhebung des erlassenen Bescheids vom 11.04.2019 zu verpflichten, die beantragte Nutzungsuntersagung mit Beseitigungsanordnung aller herangeschafften Betriebsgegenstände für den formell und materiell illegalen Zimmerei- und Montagebetrieb auf der FlNr. ... Gem. … mit 5.000 EUR zwangsgeldbewehrt für den Zuwiderhandlungsfall zu erlassen und durchzusetzen.
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Das Vorhaben sei als erheblich störender Gewerbebetrieb einzustufen, der ausschließlich in einem Gewerbe- oder Industriegebiet ausgeübt werden könne. Das Gebiet sei als faktisches reines oder allgemeines Wohngebiet einzuordnen. Im Umgriff seien keinerlei Gewerbe- oder Handwerksbetriebe vorhanden. Die einzige vorhandene landwirtschaftliche Nutzung stelle sich als Fremdkörper dar. Es sei von einer typisierenden Betrachtungsweise auszugehen. Danach sei ein Zimmerei- und Montagebetrieb in einem derartigen Gebiet bauplanungsrechtlich unzulässig. Selbst bei Annahme einer Gemengelage eines allgemeinen Wohngebiets dörflicher Prägung füge sich das Vorhaben nicht ein, da auch bei einer Gemengelage eine typisierende Betrachtungsweise vorzunehmen sei. Der Kläger sei durch das Vorhaben in seinem Gebietserhaltungsanspruch bzw. Gebietsprägungserhaltungsanspruch verletzt. Jedenfalls verstoße das Vorhaben gegen das Rücksichtnahmegebot. Die genehmigte Wohnnutzung des Klägers brauche keine Rücksicht auf die ungenehmigte Nutzung durch den Beigeladenen zu 2) nehmen. Der Kläger sei in unzumutbarer Weise infolge besonderer Intensität der Störung betroffen, sodass eine Ermessensreduktion auf Null vorliege.
14
Der Beklagte beantragt mit Schriftsatz vom 2. Mai 2019,
16
Er verweist im Wesentlichen auf die Ausführungen des Bescheids.
17
Die Beigeladenen beantragen mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 16. Dezember 2020,
19
Ein Anspruch auf bauaufsichtliches Einschreiten sei aufgrund der erteilten Baugenehmigung bereits ausgeschlossen. Die Ausführungen des Klägers belegten keine subjektive Rechtsverletzung. Planungsrechtlich sei von einer Gemengelage aus Dorfgebiet und allgemeinem Wohngebiet auszugehen, sodass ein Gebietserhaltungsanspruch des Klägers ausscheide. Hinsichtlich des Rücksichtnahmegebots ergebe sich keine unzumutbare Beeinträchtigung, da das lärmschutzfachliche Gutachten vom 3. Dezember 2020 belege, dass die Grenzwerte der TA Lärm eingehalten würden. Das der Behörde im Rahmen bauaufsichtlicher Maßnahmen zustehende Ermessen sei nicht auf Null reduziert, da aufgrund der Tatsache, dass der Kläger nicht vor Ort wohne und die im (Mit)-Eigentum des Klägers stehenden Grundstücke eine beachtliche Entfernung aufwiesen, eine besondere Intensität der Störung oder der Gefährdung nachbargeschützter Rechtsgüter nicht vorliege.
20
Das Gericht hat am 19. Oktober 2021 Beweis erhoben über die baulichen und örtlichen Verhältnisse auf dem Vorhabensgrundstück sowie in dessen Umgebung durch Einnahme eines Augenscheins. Hinsichtlich der dort getroffenen Feststellungen wird auf das Protokoll verwiesen.
21
Am 25. Januar 2022 fand die mündliche Verhandlung statt. Wegen des Verlaufs der mündlichen Verhandlung wird auf Niederschrift vom 25. Januar 2022, wegen der weiteren Einzelheiten und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichts- und die beigezogenen Behördenakten, auch im Verfahren M 1 K 20.6867, verwiesen.
Entscheidungsgründe
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I. Die Klage hat keinen Erfolg, da sie zwar zulässig, aber unbegründet ist. Die Ablehnung bauaufsichtlichen Einschreitens durch Bescheid vom 11. April 2019 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten; er hat keinen Anspruch auf bauaufsichtliches Einschreiten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Maßgeblicher Zeitpunkt ist bei der Verpflichtungsklage der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts.
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1. Entgegen der Auffassung des Beigeladenenbevollmächtigten ist ein Anspruch auf bauaufsichtliches Einschreiten nicht bereits deshalb ausgeschlossen, da der Firma des Beigeladenen zu 2) mittlerweile mit Bescheid vom 3. Dezember 2020 die begehrte Baugenehmigung erteilt wurde. Ein Anspruch auf bauaufsichtliches Einschreiten käme auch bei einer genehmigungsabweichenden Nutzung in Betracht. Ferner sind im Rahmen des Verfahrens auf bauaufsichtliches Einschreiten auch solche Normen Prüfungsgegenstand, die im Rahmen des Baugenehmigungsverfahrens nicht geprüft wurden, vgl. Art. 55 Abs. 2 BayBO, und die deshalb grundsätzlich zur Begründung bauaufsichtlichen Einschreitens dienen können.
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2. Der Kläger hat gleichwohl keinen Anspruch auf bauaufsichtliches Einschreiten gegenüber den Beigeladenen.
25
Ein Anspruch des Nachbarn auf bauaufsichtliches Einschreiten erfordert zum einen, dass er durch die bauliche Anlage in nachbarschützenden Rechten verletzt ist, zum anderen, dass das Ermessen der Bauaufsichtsbehörde auf Null reduziert ist. Liegt eine Ermessensreduzierung auf Null nicht vor, hat der Kläger lediglich einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über ein bauaufsichtliches Einschreiten der Bauaufsichtsbehörde sowie über Art und Weise des Einschreitens (BayVGH, B.v. 4.7.2011 - 15 ZB 09.1237 - juris Rn. 11; B.v. 7.9.2018 - 9 ZB 16.1890 - juris Rn. 6). Dabei gelten für die Ermessensausübung der Bauaufsichtsbehörde die allgemeinen Grundsätze (BayVGH, U.v. 4.12.2014 - 15 B 12.1450 - juris Rn. 21).
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Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Das Vorhaben verstößt schon nicht gegen nachbarschützende Vorschriften des öffentlichen Rechts (a)). Ferner ist nicht ersichtlich, dass der Betrieb abweichend von der erteilten Genehmigung ausgeübt wird (b)).
27
a) Das mit Bescheid vom 3. Dezember 2020 genehmigte Vorhaben der Firma des Beigeladenen zu 2) verletzt keine nachbarschützenden Vorschriften gegenüber dem Kläger. Insoweit wird auf das Verfahren M 1 K 20.6867 und die dortigen Ausführungen im Urteil vom 25. Januar 2022 verwiesen. Deshalb besteht gegenüber dem genehmigten Vorhaben kein Anspruch auf Einschreiten der Bauaufsichtsbehörde.
28
b) Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Betrieb abweichend von der erteilten Genehmigung so ausgeübt wird, dass sich ein Anspruch auf Einschreiten ergäbe. Dies hat auch der Kläger nicht substantiiert behauptet.
29
c) Da es somit bereits an der Grundvoraussetzung für einen Anspruch auf bauaufsichtliches Einschreiten oder auf ermessensfehlerfreie Entscheidung der Bauaufsichtsbehörde fehlt, erübrigen sich Ausführungen zur Ermessensbetätigung durch den Beklagten.
30
II. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO. Es entsprach der Billigkeit, dass der Kläger die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen trägt, da diese einen Antrag stellten und sich somit einem Prozessrisiko aussetzten.
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III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.