Inhalt

VG Ansbach, Urteil v. 25.03.2021 – AN 18 K 17.30496
Titel:

Kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutzes 

Normenkette:
AsylG § 3, § 3a, § 3b
Leitsatz:
Für die Annahme eines Verfolgungsgrundes wegen homosexueller Orientierung muss die sexuelle Orientierung derart bedeutsam für die Identität sein, dass man nicht gezwungen werden sollte, auf diese zu verzichten. (Rn. 47) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Flüchtling, Afghanistan, identitätsprägende homosexuelle Orientierung (verneint), Asylverfahren, Homosexualität, Identitätsprägung
Fundstelle:
BeckRS 2021, 9846

Tenor

1.Die Klage wird abgewiesen.
2.Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Tatbestand

1
Der Kläger, ein afghanischer Staatsangehöriger tadschikischer Volkzugehörigkeit sunnitischen Glaubens, reiste im September 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 7. Dezember 2015 einen formellen Asylerstantrag.
2
Im Rahmen seiner persönlichen Anhörung gemäß § 25 AsylG erklärte der Kläger am 8. Dezember 2016 gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt), dass er ca. ein Jahr vor seiner Einreise nach Deutschland aus dem Heimatland Afghanistan ausgereist sei. Auf seiner Reise mit einem Schlepper, welche sein Vater und sein Onkel organisiert und bezahlt hätten, habe er sich fünf Monate in der Türkei aufgehalten, wo er in einer Nähfabrik als Helfer gearbeitet habe. Neben seinen Eltern, zu denen er jedoch seit Monaten keinen Kontakt mehr gehabt habe, lebten noch sechs Geschwister, fünf Onkel und vier Tanten in Afghanistan.
3
Zu seinen Ausreisegründen befragt, gab der Kläger an, dass er eine sexuelle Beziehung zu einem Jungen aus der Nachbarschaft unterhalten habe. Er habe in seiner Pubertät gemerkt, dass er homosexuell sei. Er und sein Freund seien erst nach einiger Zeit ein Liebespaar geworden, nachdem sie zunächst nur beste Freunde gewesen seien. Sie hätten sich schon gekannt als sie noch Kinder gewesen seien, aber erst ein Jahr vor der Ausreise des Klägers sei es intensiver zwischen ihnen geworden. Aus Angst habe er niemandem, auch einem weiblichen Familienmitglied nicht, von seiner Homosexualität erzählen können. Denn das sei in ganz Afghanistan ein Tabu und strafbar. Seine Familie habe gedacht, sie seien einfach beste Freunde. Der Kläger habe seinen Freund aus tiefsten Herzen geliebt, in der Zeit, in der sie zusammen gewesen seien, sei dieser sein Ein und Alles gewesen. Aber er habe große Angst gehabt, darüber zu sprechen.
4
Weiter führt der Kläger aus, dass sein Freund und er sich immer abends getroffen hätten, um miteinander zu schlafen. Dazu seien sie in ein nahegelegenes Gebiet, wo sich große Felder für Drogenanbau befunden hätten, gegangen. Der Vater seines Freundes sei üblicherweise fast jeden Tag um diese Zeit in die Moschee zum Beten gegangen. Eines Abends, als sie davon ausgegangen seien, dass der Vater des Freundes zum Beten gegangen sei, hätten sie sich wieder draußen getroffen. Mitten im Geschlechtsakt sei auf einmal der Vater seines Freundes gekommen und habe gerufen: „Jungs, was macht ihr da?“ Als der Vater des Freundes ihn dann so halb nackt gesehen habe, habe er geschimpft und den Kläger als Hundesohn bezeichnet und gefragt, was er hier mache. Der Kläger sei dann schnell weggelaufen. Der Vater seines Freundes sei zwar ein starker und kräftiger Mann, jedoch etwas dicklich, so dass er nicht sehr schnell habe laufen können. Der Vater habe seine Leute gerufen, dass diese alle sofort herkommen sollten. Der Kläger führt weiter aus, dass er derartige Angst gehabt habe, dass er ganz schnell gerannt und geflüchtet sei. Die Männer seien ihm gefolgt, und er habe Schüsse gehört. Der Kläger sei nicht zurück in sein Elternhaus gegangen, sondern direkt zum Haus seines Onkels. Dort habe er nur geweint und geschrien, es sei ihm richtig schlecht gegangen. Er habe Todesangst empfunden. Zunächst habe er kaum sprechen können, aber dann seinem Onkel die ganze Geschichte schließlich doch erzählt. Sein Onkel habe ihn zwei bis drei Ohrfeigen gegeben und ihn gefragt, wie er so etwas tun könne, denn dafür würde er getötet. Sein Onkel habe dann telefoniert, und etwa eine halbe Stunde später sei ein Auto gekommen, das ihn mitgenommen habe. Sein Onkel habe ihn beschimpft, weil er den Ruf der ganzen Familie beschädigt hätte. Sein Onkel habe auch gesagt, der Kläger solle verschwinden und sich nie wieder blicken lassen. Sie seien dann zunächst bis Kabul gefahren, und von dort aus habe die Ausreise begonnen.
5
Befragt, was der Kläger empfunden habe, als er realisiert habe, dass er sich in einen Mann verliebt habe, erklärt der Kläger: Er frage sich nach wie vor, warum er solche Gefühle habe und warum er so nicht für ein Mädchen empfinden könne. Er verstehe nicht, wie es dazu gekommen sei. In Deutschland habe er bisher keinen Lebenspartner gefunden. Er möge einfach Männer und wolle auch eines Tages mit einem Mann zusammen sein. Ein coming out sei nicht ausgeschlossen, aber es brauche Zeit.
6
Von seinem afghanischen Freund wisse er nichts. Als er in Deutschland angekommen sei, habe er mit seinem Vater Kontakt aufgenommen. Dieser habe ihm gesagt, er hätte für einen derart schlechten Ruf gesorgt, dass sie sich schämen würden und die anderen Menschen sie nicht mit direkten Augen ansehen könnten. Er habe der Familie Schande bereitet. Der Vater seines Freundes habe zu seinem Vater gesagt, dass er diesen sofort getötet hätte, wenn dieser nicht schon ein alter Mann wäre.
7
Bevor er nach Deutschland gekommen sei, habe er nichts über den hiesigen Umgang mit Homosexualität gewusst. Bei seinen deutschen Pateneltern habe er jedoch erlebt, wie deren Tochter mit ihrer Lebenspartnerin selbstverständlich und offen zusammenleben würde. Diese hätten ihm darüber berichtet, dass in Deutschland eine Frau mit einer Frau und ein Mann mit einem Mann zusammen sein dürften. Er habe bisher in Deutschland keinen Kontakt zu Gleichgesinnten aufnehmen können und mit niemanden darüber gesprochen, was er auf dem Herzen habe. Er habe sich nicht getraut, weil er Angst habe. Auch dass er in einer Gemeinschaftsunterkunft leben müsse, mache die Situation nicht einfacher für ihn.
8
Mit Bescheid vom 25. Januar 2017, dem Kläger mittels Postzustellungsurkunde am 28. Januar 2017 zugestellt, wurden die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt (Ziffer 1), der Antrag auf Asylanerkennung abgelehnt (Ziffer 2) sowie der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt (Ziffer 3). In Ziffer 4 des Bescheids wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Der Kläger wurde in Ziffer 5 aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe des Bescheids zu verlassen. Bei Nichteinhaltung wurde außerdem die Abschiebung - in erster Linie - nach Afghanistan angedroht. In Ziffer 6 des Bescheids wurde das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
9
Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf diese Bezug genommen.
10
Mit bei Gericht am 6. Februar 2017 eingegangenem Schriftsatz ließ der Kläger beantragen,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 25. Januar 2017 in den Ziffern 1 und 3 bis 6 das Bundesamt zu verpflichten, festzustellen, dass der Kläger international Schutzberechtigter gemäß § 3 AsylG i.V.m. der Genfer Flüchtlingskonvention ist, hilfsweise festzustellen, dass der Kläger subsidiär Schutzberechtigter gemäß § 4 AsylG ist, und weiter hilfsweise festzustellen, dass der Kläger humanitären Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 AufenthG genießt.
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Mit Schriftsatz vom 15. Februar 2017 beantragte das Bundesamt
Klageabweisung.
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Mit Beschluss der 18. Kammer vom 27. Januar 2021 wurde der Rechtsstreit der Berichterstatterin zur Entscheidung als Einzelrichterin übertragen.
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Mit Beschluss der Einzelrichterin vom 27. Januar 2021 wurde dem Kläger unter Beiordnung seines Rechtsanwaltes … Prozesskostenhilfe bewilligt.
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Am 24. Februar 2021 führte das Bundesamt eine ergänzende Anhörung des Klägers durch. Auf die Niederschrift (Blatt 45 ff. der Gerichtsakte) wird Bezug genommen. Aus einem Aktenvermerk der Sonderbeauftragten für geschlechtsspezifische Verfolgung des Bundesamts vom 24. Februar 2021 (Blatt 52 f. der Gerichtsakte) ergibt sich, dass die vorgetragene Vorverfolgung des Klägers nach Auffassung des Bundesamtes unwahrscheinlich sei. Es bleibe insbesondere unstimmig, dass der Kläger noch am Tag der Entdeckung geflohen sein solle und keinerlei Kenntnisse über den Verbleib seines Freundes (seiner ersten großen Liebe) habe. Auch die Angaben des Klägers zum Umgang mit der Entdeckung der eigenen Homosexualität in einem homophoben Umfeld wie in Afghanistan seien stereotyp in Richtung Verliebtheit und Jungsein geblieben. Dass der Kläger, der bei Ausreise 16 Jahre alt gewesen sei, sich keinerlei Gedanken über ein Leben als Homosexueller in Afghanistan und die damit verbundenen Folgen und Gefahren gemacht habe, erscheine höchst lebensfremd.
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Selbst bei Wahrunterstellung könne der Kläger bei einer Verfolgung durch nicht staatliche Dritte, z.B. den Vater seines Freundes oder eigene Familienmitglieder, auf internen Schutz verwiesen werden.
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Stichhaltige Anhaltspunkte für eine strafrechtliche Verfolgung seien nicht erkennbar. Die diesbezüglichen Ausführungen hinsichtlich einer Anzeige durch den Vater des Freundes seien reine Spekulation geblieben. Darüber hinaus würden keine belastbaren Erkenntnisse existieren, dass der afghanische Staat Homosexuelle systematisch verfolge (unter Hinweis auf den aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes).
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Aus der ergänzenden Anhörung ergebe sich auch nicht, dass der Kläger in Deutschland offen oder auch verdeckt homosexuell lebe. Er habe vielmehr angegeben, sich seiner Orientierung nicht sicher zu sein und sich gelegentlich auch zu Frauen hingezogen zu fühlen. Eine Beziehung seit seiner Ausreise aus Afghanistan habe er weder mit einem Mann noch mit einer Frau gehabt. Ferner ergebe sich aus der Anhörung, dass er nach seinem länger als fünf Jahre dauernden Aufenthalt in Deutschland offenbar nicht bereit sei, etwaige homosexuelle Neigungen offen zu leben. Hinsichtlich einer Beratung durch „…“ (Schwullesbisches Zentrum …*) sei es bei einem einmaligen Termin geblieben. Weitere Versuche, Kontakte zu Gleichgesinnten herzustellen, habe es laut dem Kläger nicht gegeben.
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Hinsichtlich des prognostizierten Rückkehrverhaltens sei somit nicht darauf zu schließen, dass der Kläger nach einer Rückkehr einen Lebensstil aufnehmen würde, der eine verfolgungsträchtige sexuelle Orientierung nach außen sichtbar machen würde.
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Mit bei Gericht am 9. März 2021 eingegangenem Telefax ließ der Kläger zur Anhörungsniederschrift und dem Vermerk des Bundesamtes vom 24. Februar 2021 Stellung nehmen und erklären, dass beide in sich widersprüchlich seien. Denn einerseits habe die Anhörerin den Vorhalt gemacht, männliche Homosexualität sei in Afghanistan ein „starkes Tabu“ (Seite 2, 8. Frage). Andererseits verharmlose die Anhörerin in ihrer Stellungnahme die Gefahren aufgrund homosexueller Handlungen in Afghanistan. Ebensowenig seien die Fragen auf Seite 3 nachvollziehbar. Insbesondere aber sei der Vermerk der Sonderbeauftragten vom 24. Februar 2021 unter keinem Aspekt verständlich. Denn, wie könne ein interner Schutz bestehen, wenn der Vater oder andere den Kläger bei einer Rückkehr verraten würden? Ebenso gebe die Behauptung, der afghanische Staat verfolge Homosexuelle nicht systematisch, nicht den Kerngehalt der Aussage des Lageberichts des Auswärtigen Amtes wieder. Ausdrücklich sei dort auf Seite 16 unter Ziffer 1.8.1 ausgeführt, dass Sexualpraktiken, die üblicherweise mit männlicher Homosexualität in Verbindung gebracht würden, mit langjähriger Haftstrafe sanktioniert würden. Im nächsten Absatz des Lageberichtes heiße es dann, dass eine systematische Verfolgung durch staatliche Organe nicht nachweisbar sei, was aber an der vollkommenen Tabuisierung des Themas liege. Hieraus den Schluss zu ziehen, dass staatliche Verfolgung nicht zu erwarten sei, sei eine völlige Fehlinterpretation des Lageberichts.
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Der ergänzenden Anhörung sei vielmehr zu entnehmen, dass der Kläger ohne jede Übertreibung und außerdem fair, vernünftig und abwägend seine sexuelle Situation schildere. Maßgeblich sei, dass die Familie offensichtlich über seine Homosexualität Bescheid gewusst habe, ohne dies auszusprechen, weil die Homosexualität eben tabuisiert sei. Ebenso sei davon auszugehen, dass die Familie nicht hinnehmen werde, wenn der verstoßene Sohn wieder zurückkehre und sie Gefahr liefe, mit einem homosexuellen Sohn in Verbindung gebracht zu werden.
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Die Auffassung der Sonderbeauftragten laufe wohl darauf hinaus, dass der Kläger sich in Afghanistan jeglicher sexueller Handlungen enthalten und zölibatär bis zum Alter leben solle. Überhaupt sei es unverständlich, warum das Bundesamt überhaupt eine ergänzende Anhörung durchgeführt und eine Sonderbeauftragte installiert habe.
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Mit Schriftsatz vom 10. März 2021 nahm das Bundesamt zum anwaltlichen Schreiben vom 9. März 2021 Stellung und führte aus, dass das Bundesamt eine ergänzende Anhörung durchgeführt habe, um eine mögliche Abhilfe zu prüfen. Aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse durch die Sonderbeauftragte werde jedoch von einer Aufhebung des Bescheids abgesehen. Die ausführliche Begründung hierzu finde sich im Aktenvermerk vom 24. Februar 2021. Ob dem Kläger wegen der vorgetragenen Homosexualität die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei, müsse somit in der mündlichen Verhandlung am 22. März 2021 geklärt werden.
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In der mündlichen Verhandlung am 22. März 2021 wiederholte der Klägervertreter seinen schriftsätzlich gestellten Klageantrag.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakt, insbesondere auf die Niederschrift zur mündlichen Verhandlung, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige, insbesondere fristgerecht erhobene Klage ist unbegründet, weil der Kläger keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG (1.), auf Feststellung des subsidiären Schutzstatus im Sinne von § 4 AsylG (2.) und auf Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG (3.) hat. Auch die in Ziffer 5) und 6) des angefochtenen Bescheids getroffenen Nebenentscheidungen begegnen keinen rechtlichen Bedenken (4.). Der ablehnende Bescheid des Bundesamtes vom 25. Januar 2017 ist daher rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in eigenen Rechten, § 113 Abs. 1 und 5 VwGO.
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Maßgeblich für die Beurteilung der hier erkennenden Einzelrichterin (§ 76 AsylG) ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, § 77 Abs. 1 AsylG.
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Das Gericht nimmt zur Begründung dieses Urteils vorab Bezug auf den ausführlichen und zutreffend begründeten Bescheid des Bundesamtes vom 25. Januar 2017, § 77 Abs. 2 AsylG, und führt im Hinblick auf den Verlauf und das Ergebnis der mündlichen Verhandlung am 22. März 2021 ergänzend aus:
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1. Der Kläger ist kein Flüchtling im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG.
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Danach ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II, S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
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Der Kläger begründet seine Klage auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Wesentlichen mit zwei Aspekten: So fürchtet er die Verfolgung durch den Vater seines Freundes …, weil er mit diesem eine homosexuelle Beziehung geführt haben will (1.1). Außerdem trägt der Kläger vor, homosexuell zu sein und aufgrund dessen in Afghanistan die Verfolgung fürchten zu müssen (1.2).
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Das Gericht ist zwar anders als das Bundesamt der Auffassung, dass der Kläger im Falle einer glaubhaft gemachten, identitätsprägenden Homosexualität in Afghanistan durchaus eine verfahrensrelevante Verfolgung zu befürchten hätte. Der Hinweis der eingesetzten Sonderbeauftragten für geschlechtsspezifische Verfolgung im Aktenvermerk des Bundesamtes vom 24. Februar 2021, der auf der Grundlage der ergänzenden Anhörung des Klägers am selben Tage gefertigt worden ist (Bl. 45 ff der Gerichtsakte), auf den aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes, wonach „stichhaltige Anhaltspunkte für eine strafrechtliche Verfolgung“ nicht erkennbar seien sowie „keine belastbaren Erkenntnisse, dass der afghanische Staat Homosexuelle systematisch verfolgt“, existieren würden, geht - derart aus dem Zusammenhang gerissen - fehl. So wird im aktuellen „Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan“ (Stand Juni 2020) unter 1.8.1 „Situation für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transsexuelle, Transgender und Intersexuelle (LGBTI)“ vielmehr festgestellt:
„Laut Art. 247 des afghanischen Strafgesetzbuches werden neben außerehelichem Geschlechtsverkehr auch solche Sexualpraktiken, die üblicherweise mit männlicher Homosexualität in Verbindung gebracht werden, mit langjähriger Haftstrafe sanktioniert. Neben der sozialen Ächtung von Bisexuellen, Homosexuellen und Transsexuellen verstärken Bestimmungen und Auslegung des islamischen Rechts mit Androhungen bis hin zur Todesstrafe den Druck auf die Betroffenen. Organisationen, die sich für den Schutz der sexuellen Orientierung einsetzen, arbeiten im Untergrund.
Eine systematische Verfolgung durch staatliche Organe ist nicht nachweisbar, was allerdings an der vollkommenen Tabuisierung des Themas liegt. Über die Durchführung von Strafverfahren gegen LGBTTI liegen dem Auswärtigen Amt deshalb keine Erkenntnisse vor. Es wird allerdings von gewalttätigen Übergriffen bis hin zu Vergewaltigungen homosexueller Männer durch die afghanische Polizei berichtet. (…)“
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Wenngleich die Tatsache, dass Homosexualität unter Strafe gestellt wird, allein möglicherweise nicht für eine verfahrensrelevante Verfolgung ausreicht, kann aufgrund der genannten Erkenntnisse für Afghanistan durchaus eine verfahrensrelevante und im Falle glaubhaft gemachter Homosexualität beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit angenommen werden.
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Allerdings hat der Kläger den angeblich fluchtauslösenden Vorfall sowie eine identitätsprägende und eine hier verfahrenserhebliche Verfolgungsgefahr auslösende homosexuelle Orientierung nicht zur Überzeugung des Gerichts glaubhaft gemacht, § 108 Abs. 1 VwGO.
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Den Prozess zur Bildung der gerichtlichen Überzeugungsgewissheit hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 04. Juli 2019 (1 C 33/18 -, Rn. 18f., juris) wie folgt beschrieben:
„Denn die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft setzt tatbestandlich eine begründete Furcht vor Verfolgung voraus. Hierfür bedarf es einer Gefahrenprognose anhand des Maßstabs der beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit und muss sich das Tatsachengericht - auch in Ansehung der „asyltypischen“ Tatsachenermittlungs- und bewertungsprobleme - die nach § 108 Abs. 1 VwGO erforderliche Überzeugungsgewissheit verschaffen. Verfehlt es bei der Verfolgungsprognose das gebotene Maß an Überzeugung, steht seine Entscheidung nicht im Einklang mit der Zielsetzung des Flüchtlingsrechts (vgl. BVerwG, Urteile vom 29.11.1977 - 1 C 33.71 - BVerwGE 55, 82 <83> Rn. 10 und vom 11.11.1986 - 9 C 316.85 - juris Rn. 11 zu den Anforderungen an den Nachweis asylbegründender Tatsachen)".
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aa) In dem vom Untersuchungsgrundsatz beherrschten Verwaltungsprozess ist es Aufgabe des Tatsachengerichts, den maßgeblichen Sachverhalt zu ermitteln, dazu von Amts wegen die erforderliche Sachverhaltsaufklärung zu betreiben und sich eine eigene Überzeugung zu bilden (§86 Abs. 1 Satz 1, § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Auch die in Asylverfahren gesteigerten Mitwirkungspflichten (§§ 15 und 25 AsylG) entbinden das Gericht nicht von seiner Aufklärungspflicht, um sich so die für seine Entscheidung gebotene Überzeugungsgewissheit zu verschaffen.
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Hierzu muss es die Prognosetatsachen ermitteln, diese im Rahmen einer Gesamtschau bewerten und sich auf dieser Grundlage eine Überzeugung bilden.
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Weder die geltend gemachte Vorverfolgung noch die sexuelle Orientierung des Klägers stehen zur - nach den vom Bundesverwaltungsgericht formulierten Maßstäben gebildeten - Überzeugungsgewissheit des Gerichts fest:
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1.1 Auch nach der zum dritten Mal erfolgten Schilderung des Klägers des angeblich fluchtauslösenden Vorfalls im Heimatland ist dieser nicht - hinreichend konkret und substantiiert - glaubhaft gemacht worden.
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Das Gericht schließt sich insoweit den Schlussfolgerungen des Bundesamts im angefochtenen Bescheid, aber auch in dem Aktenvermerk der Sonderbeauftragten für geschlechtsspezifische Verfolgung an. Trotz zahlreicher Nachfragen - des Bundesamtes und des Gerichts - bleibt die Schilderung des Klägers emotionslos, detailarm und teilweise auch widersprüchlich.
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Insbesondere die homosexuelle Beziehung des Klägers zu dem jungen Mann namens …, welche sich aus einer „normalen“ Freundschaft entwickelt haben soll, ist trotz des Hinweises des Klägers auf sein jugendliches Alter nicht ohne weiteres nachvollziehbar, vor allem im Hinblick auf den kulturellen und persönlichen Kontext des Klägers, seiner Familie und der Familie seines Freundes. Dass sich der Kläger an die Umstände, unter denen er und sein Freund einander ihre Liebe offenbart haben, nicht mehr erinnern kann, ist angesichts des persönlichen Umfeldes der beiden und des Tabubruches, den eine solche Beziehung bedeutet hätte, nicht verständlich. Erst auf Nachfrage seines Rechtsanwaltes gab der Kläger in der mündlichen Verhandlung an, dass sie sich unausgesprochen einig gewesen seien, was allerdings im Hinblick auf den oben geschilderten Kontext und die Lebenswirklichkeit der beiden jungen Männer ebenso unwahrscheinlich anmutet.
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Nicht glaubhaft ist zudem, weshalb sich der Kläger und sein Freund angeblich regelmäßig und immer zu einer bestimmen Tageszeit in den Mohnfeldern des Vaters von … getroffen haben, wenn doch gleichzeitig immer die Gefahr der Entdeckung durch den Vater bestanden haben muss. Denn nach Darstellung des Klägers in der mündlichen Verhandlung ist jener üblicherweise abends in die Felder gegangen, um den Wuchs zu kontrollieren, nachdem er zuvor in der Moschee zum Beten gewesen ist. Die Gefahr der Entdeckung hat demnach immer bestanden, und es ist nur eine Frage der Zeit gewesen, wann sich die heimlichen Treffen und der Kontrollgang einmal überschneiden würden.
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Gegenüber dem Bundesamt hatte der Kläger noch angegeben, untenrum nackt gewesen zu sein. In der mündlichen Verhandlung wiederum trug er vor, dass er obenrum unbekleidet gewesen sei. Dabei handelt es sich - angesichts der Schilderung einer sexuellen Handlung - um eine durchaus relevante Widersprüchlichkeit, welche Zweifel an der Glaubhaftigkeit des Vortrags aufkommen lässt.
43
Dass ein Mann wie der Vater von … stets von „Bodyguards“, die dann erfolglos die Verfolgung des Klägers aufgenommen haben sollen, umgeben sei, wie dies der Kläger in der mündlichen Verhandlung behauptet hat, erscheint geradezu abwegig.
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Insgesamt ist die Darstellung des Klägers, was seine Beziehung zu einem Mann sowie deren Entdeckung und Verfolgung durch … Vater angeht, auch nach der (dritten) Anhörung und trotz zahlreicher Nachfragen des Gerichts nicht schlüssig und aus Sicht des Gerichts sehr unwahrscheinlich.
45
Dass der Kläger etwa im gesamten Gebiet von Afghanistan in Anknüpfung an eine etwaige Bedrohung durch den Vater von …verfahrensrelevante Verfolgungsmaßnahmen zu befürchten hätte, macht er selbst nicht - hinreichend konkret und substantiiert - geltend.
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Die geltend gemachte Vorverfolgung steht nach alledem nicht zur erforderlichen Überzeugungsgewissheit der Einzelrichterin fest, § 108 Abs. 1 VwGO.
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1.2 Aber auch die homosexuelle Orientierung des Klägers ist nicht in verfahrenserheblicher Weise glaubhaft gemacht worden. Denn aus § 3b Abs. 1 Nr. 4 lit.a) i.V.m. 2. HS. AsylG ergibt sich, dass für die Annahme eines Verfolgungsgrundes die sexuelle Orientierung des Klägers derart bedeutsam für seine Identität sein müsste, dass er nicht gezwungen werden sollte, auf diese zu verzichten, vgl. EuGH, Urteil vom 07. November 2013 - C -199/12 bis C-201/12 -, juris. Eine derart identitätsprägende homosexuelle Orientierung steht jedoch nicht zur Überzeugungsgewissheit der Einzelrichterin fest.
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So hat der der Kläger im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 22. März 2021 ausdrücklich angegeben, es sei ihm „im Grunde egal, ob er mit einem Mann oder einer Frau zusammen sei“. Ihm komme es nur auf die Entscheidungsfreiheit an, er wolle nicht zu etwas gezwungen werden.
49
Von einer identitätsprägenden homosexuellen Orientierung des Klägers ist daher nicht auszugehen. Zwar stellt sich die Frage, ob aus dem Wortlaut des § 3b Abs. 1 Nr. 4, lit. a) AsylG („bedeutsam“) abgeleitet werden kann, dass auch eine nicht die Identität prägende, sondern auf andere Weise bedeutsame Homosexualität ausreichend wäre. Allerdings muss nach dem Wortlaut der Vorschrift die sexuelle Orientierung derart bedeutsam sein, „dass der Betreffende nicht gezwungen sein sollte, auf sie zu verzichten“, womit wohl letztlich eine identitätsprägende Orientierung gemeint sein dürfte. Ob auch eine unterhalb dieser Schwelle bestehende sexuelle Orientierung ausreichend sein kann, ist jedoch nicht entscheidungserheblich, weil eine etwaige homosexuelle Neigung des Klägers für ihn selbst offenbar keine eigenständige bzw. im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4, lit. a) AsylG gesteigerte Bedeutung besitzt. So kommt es ihm nicht einmal darauf an, welchen Geschlechts ein zukünftiger Partner ist. Er wünscht sich einfach eine Beziehung zu einem anderen Menschen. Ein zölibatäres Leben, wie es der Klägervertreter formuliert hat, ist für den Kläger damit in keiner Weise die einzige Möglichkeit, da er sich eine Beziehung zu einer Frau offenbar genauso vorstellen kann wie zu einem Mann. Völlig frei in der Entscheidung zu sein, ohne, dass es dem Kläger selbst auf ein bestimmtes Geschlecht ankommt, ist jedoch nicht von § 3b Abs. 1 Nr. 4, lit.a) AsylG geschützt.
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Nach alledem führt auch die angebliche Homosexualität des Klägers nicht zu einem Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
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2. Ein Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes in Sinne von § 4 AsylG besteht ebenfalls nicht.
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Denn nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer nur dann subsidiär schutzberechtigt, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß Satz 2: Die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).
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Das Gericht bezieht sich insoweit auf die Feststellungen und die Begründung des angefochtenen Bescheids, da der Kläger auch im Rahmen des Gerichtsverfahrens keine darüberhinausgehenden, maßgeblichen Gesichtspunkte vorgetragen hat und das Gericht den Ausführungen des Bundesamtes folgt, § 77 Abs. 2 AsylG.
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3. Dasselbe gilt für die begehrte Feststellung des Vorliegens von Abschiebungshindernissen gemäß § 60 Abs. 5 und Satz 1 AufenthG.
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Insoweit wird lediglich im Hinblick auf eine etwaige Verschlechterung der humanitären Situation aufgrund der Corona-Pandemie und die Rechtsprechungsänderung des Baden-Württembergischen Verwaltungsgerichtshofes durch Urteil vom 17. Dezember 2020 (A 11 S. 2042 - juris) darauf hingewiesen, dass dem Kläger nach Überzeugung des Gerichts im Falle seiner Abschiebung nach Afghanistan keine unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK droht und eine Abschiebung daher gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG nicht unzulässig wäre.
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Das Gericht konnte sich in der mündlichen Verhandlung davon überzeugen, dass es sich bei dem Kläger um einen augenscheinlich gesunden, jungen und sehr leistungsfähigen Mann handelt. Etwaige Zweifel am guten Gesundheitszustand wurden nicht vorgetragen. Der Kläger spricht nahezu fließend Deutsch, hat nach eigenen Angaben den „Quali“ geschafft und steht kurz vor dem Abschluss seiner Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann. Der Kläger hat zudem eine lange und sehr strapaziöse Reise nach Europas hinter sich gebracht, was zeigt, wie zäh und durchsetzungsfähig er ist, so dass er nach Überzeugung des Gerichts durchaus auch unter den aktuell deutlich verschlechterten Bedingungen aufgrund der Corona-Pandemie in Afghanistan nicht zu verelenden droht.
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Das Gericht ist zudem davon überzeugt, dass der Kläger auf ein funktionierendes familiäres Netzwerk in Afghanistan zurückgreifen kann. Der Familie des Klägers ging es vor seiner Ausreise wirtschaftlich gut. Dass sich dies geändert haben sollte, wurde nicht einmal ansatzweise vorgetragen. Der Kläger hat nach eigenen Angaben neben seinen Eltern noch mehrere Onkel und Tanten in Afghanistan. Dass der Kläger von der Familie „verstoßen“ worden sein soll, man ihm aber trotzdem noch die Flucht finanziert hat und er nur noch mit der Mutter in Kontakt steht, ist nicht glaubhaft.
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4. Die in Ziffer 5 des Bescheids vom 25. Januar 2017 angedrohte Abschiebung beruht auf § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG und ist rechtmäßig, weil die entsprechenden gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen.
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Die im Rahmen von § 11 Abs. 3 AufenthG zu treffende Ermessensentscheidung über die Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG (hier festgesetzt auf 30 Monate) ist nicht zu beanstanden (§ 114 Satz 1 VwGO).
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Nach alledem ist der angefochtene Bescheid rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in eigenen Rechten. Die Klage ist daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO als unbegründet abzuweisen. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.