Inhalt

VGH München, Beschluss v. 18.04.2021 – 20 NE 21.850
Titel:

Keine Außervollzugsetzung der Absonderungspflicht nach Rückkehr aus einem Risikogebiet

Normenketten:
VwGO § 47 Abs. 6
IfSG § 2 Nr. 17, § 28 Abs. 1 S. 1, § 30 Abs. 1 S. 2, § 32 S. 1, § 36 Abs. 8 S. 1 Nr. 1
BayEQV § 1
Leitsätze:
1. Von einem Ansteckungsverdacht, der Voraussetzung der Anordnung einer Absonderung nach § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG ist, kann demnach allein aufgrund der Rückreise aus einem Risikogebiet nicht ausgegangen werden. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
2. Angesichts der schwer wiegenden Folgen für Leib und Leben, deren Abwehr die Quarantänepflicht nach Rückkehr aus einem Risikogebiet dient, und angesichts des pandemischen Geschehens, kann die Absonderungspflicht nicht ausgesetzt werden. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Corona-Pandemie, Verordnungsermächtigung des Bundes, Absonderung, Ansteckungsverdacht, Risikogebiet, Corona, Einreise, Quarantäne, Folgenabwägung
Fundstelle:
BeckRS 2021, 7915

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 10.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
1
1. Die Antragstellerin beantragt sinngemäß die vorläufige Außervollzugsetzung des § 1 der Verordnung über Quarantänemaßnahmen für Einreisende zur Bekämpfung des Coronavirus (Einreise-Quarantäneverordnung - EQV) vom 5. November 2020 (BayMBl. 2020 Nr. 630), die zuletzt mit Verordnung zur Änderung der Zwölften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung und der Einreise-Quarantäneverordnung (EQV) vom 25. März 2021 (BayMBl. 2021 Nr. 224) geändert worden ist und mit Ablauf des 18. April 2021 außer Kraft tritt (§ 5 EQV).
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2. Zur Begründung ihres Antrags trägt die Antragstellerin im Wesentlichen vor, die EQV sei rechtswidrig, weil bei Rückkehr aus einem Risikogebiet nicht von einem Ansteckungsverdacht auszugehen sei. Vielmehr sei auf den Nachweis von Antikörpern oder auf eine T-Zellenantwort gegen das Virus beim Reiserückkehrer abzustellen. Es liege auch eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung vor, weil für Daheimgebliebene keine Absonderungsverpflichtung bestehe. Da die EQV kein geeignetes Mittel zur Verhinderung der Mobilität sei, sei sie unverhältnismäßig. Es sei außerdem fraglich, ob eine so gefährliche Lage, wie sie vom Robert-Koch-Institut behauptet werde, überhaupt vorliege.
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3. Wegen der Einführung des § 36 Abs. 8 Satz 1 Nr. 1 mit Gesetz vom 29. März 2021 (BGBl. 2021 I Seite 370), der eine Verordnungsermächtigung des Bundes zur Anordnung einer Absonderung vorsieht, auch wenn die Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG (Ansteckungsverdacht nach § 2 Nr. 7 IfSG) nicht vorliegen, bat der Senat den Antragsgegner um Stellungnahme. Mit Schriftsatz vom 12. April 2021 wurde ausgeführt, die Verordnungsermächtigung stehe der Wirksamkeit der in der EQV getroffenen Regelungen nicht entgegen. Der Antragsgegner bleibe bei seiner bisherigen Rechtsauffassung. Die Annahme eines Ansteckungsverdachts bei Rückkehr aus einem Risikogebiet sei weiterhin zulässig. Auf Bundesebene sei nach dem Informationsstand des Antragsgegners bislang keine Entscheidung getroffen worden, wann eine bundesrechtliche Verordnung auf Grundlage des § 36 Abs. 8 Satz 1 Nr. 1 IfSG erlassen werden solle. Die Bundesregierung gehe demnach auch davon aus, dass landesrechtliche Regelungen wie die der EQV weiterhin zulässig blieben. Allein die Schaffung einer Ermächtigungsgrundlage hindere den Erlass landesrechtlicher Regelungen auf der Grundlage des § 32 Satz 1 IfSG i.V.m. §§ 28 Abs. 1 Satz 1, 29, 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG nicht. Vielmehr sei vom Eintritt einer „Sperrwirkung“ erst auszugehen, wenn die Bundesregierung von der Verordnungsermächtigung Gebrauch mache. Außerdem bleibe die Wirksamkeit einer zuvor ordnungsgemäß erlassenen Rechtsverordnung durch die nachträgliche Änderung einer Ermächtigungsgrundlage unberührt. Keinesfalls habe der Bund mit der Aufnahme einer Verordnungsermächtigung den Eintritt einer Regelungslücke in Zeiten stark steigender Infektionszahlen beabsichtigt.
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4. Im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakten Bezug genommen.
II.
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Der zulässige Antrag, der im Sinne der Gewährung umfassenden Rechtsschutzes so auszulegen ist, dass die vorläufige Außervollzugsetzung des § 1 EQV beantragt wird, hat keinen Erfolg. Ein Antrag, der auf die Gestaltung des Inhalts einer Norm abzielt, wäre als unzulässig abzulehnen, weil dies im Entscheidungsprogramm des § 47 Abs. 6 VwGO nicht vorgesehen ist.
A.
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Die Voraussetzungen des § 47 Abs. 6 VwGO, wonach das Normenkontrollgericht eine einstweilige Anordnung erlassen kann, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist, liegen nicht vor. Die Erfolgsaussichten eines noch zu erhebenden Normenkontrollantrags in der Hauptsache gegen die Regelung des § 1 EQV sind unter Anwendung des Prüfungsmaßstabs im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO bei summarischer Prüfung als offen anzusehen (1.). Eine Folgenabwägung geht zulasten der Antragstellerin aus (2.).
7
1. Der Senat verweist zur Begründung auf die Beschlüsse vom 2. März 2021 (20 NE 21.570 - BeckRS 2021, 3815), vom 3. Dezember 2020 (20 NE 20.2749 - BeckRS 2020, 33531) und vom 28. September 2020 (20 NE 20.2142 - BeckRS 2020, 27261). Die dortigen Erwägungen gelten weiterhin. Der Senat hat ausdrücklich offengelassen, ob die Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Satz 1 IfSG erfüllt sind und vom Vorliegen einer ausreichenden gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage für den Erlass der EQV ausgegangen werden kann. Daran wird trotz der sich zuletzt ausbreitenden besorgniserregenden Virusmutationen (VOC) mit potenziell leichterer Ansteckungsmöglichkeit und möglicherweise schwereren Krankheitsverläufen festgehalten. Nach der Aufnahme des Begriffes der Risikogebiete in § 2 Nr. 17 IfSG (vgl. Art. 1 Nr. 2b des Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 18.11.2020, BGBl I S. 2397) hat der Bundesgesetzgeber nun den Weg eröffnet, im Wege einer Bundesverordnung eine Absonderungspflicht für Einreisende allein an ihre Rückkehr aus Risikogebieten anzuknüpfen. Mit der Aufnahme einer Verordnungsermächtigung in § 38 Abs. 8 Satz 1 Nr. 1 IfSG durch das Gesetz zur Fortgeltung der die epidemische Lage von nationaler Tragweite betreffenden Regelungen vom 29. März 2021 (BGBl. I Seite 370) hat der Bundesgesetzgeber die Regelungsmaterie der Einreise aus dem Ausland während der Fortgeltung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 IfSG, eine Materie der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG, dahingehend geregelt, dass abweichend von § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG, der bislang unverändert geblieben ist, eine Absonderung nach Rückkehr aus einem als Risikogebiet eingestuften Gebiet auch zulässig ist, wenn der nach § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG notwendige Ansteckungsverdacht nach § 2 Nr. 7 IfSG nicht besteht. Damit hat der Bundesgesetzgeber zum Ausdruck gebracht, dass alleine die Rückkehr aus einem Risikogebiet nicht das Vorliegen eines Ansteckungsverdachts begründet, sondern dass weitere Umstände hinzutreten müssen, die zu der Annahme eines Ansteckungsverdachts berechtigen. Insofern haben sich die in den bereits genannten Senatsbeschlüssen geäußerten Zweifel an der auf § 32 Satz 1 i.V.m. § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG gestützten Landesverordnung bestätigt. Von einem Ansteckungsverdacht, der im Rahmen der Ermächtigung des Antragsgegners nach § 32 Satz 1 IfSG zur Anordnung einer Absonderung nach § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG notwendige Voraussetzung ist, kann demnach allein aufgrund der Rückreise aus einem Risikogebiet nicht ausgegangen werden. Erforderlich ist die Darlegung, warum über die Rückkehr aus einem Risikogebiet hinaus Anhaltspunkte bestehen, die das Bestehen eines Ansteckungsverdachts, also die Annahme, der Betroffene habe Krankheitserreger aufgenommen, wahrscheinlicher ist als das Gegenteil, begründen können. Dies wird der Antragsgegner bei der Entscheidung, die Geltungsdauer der EQV über den 18. April 2021 (§ 5 EQV) hinaus nochmals zu verlängern, zu berücksichtigen haben.
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2. Die Folgenabwägung ergibt, dass die Interessen der Gesamtbevölkerung am Schutz von Leib und Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) die Schutzgüter, auf die sich die Antragstellerin sinngemäß beruft (Art. 2 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG) überwiegen.
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a) Das pandemische Geschehen ist von ansteigenden Infektionszahlen geprägt. Nach dem Situationsbericht des Robert-Koch-Instituts (RKI) vom 13. April 2021 (abrufbar unter https://www...de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situ-ationsberichte/Apr_2021/2021-04-13-de.pdf? blob=publicationFile) steigt die 7-Tages-Inzidenz für ganz Deutschland seit Mitte Februar 2021 stark an und liegt bereits bei über 100/100.000 Einwohner. Die hohen bundesweiten Fallzahlen werden durch zumeist diffuse Geschehen mit zahlreichen Häufungen insbesondere in Haushalten, im beruflichen Umfeld sowie in Kitas und Horteinrichtungen verursacht. Das Geschehen ist nicht regional begrenzt, die Anzahl der Landkreise mit einer 7-Tages-Inzidenz über 100/100.000 Einwohner nimmt ebenfalls seit Mitte Februar 2021 deutlich zu. Etwa seit Mitte März hat sich der Anstieg der Fallzahlen beschleunigt. Der 7-Tage-R-Wert liegt über 1, wobei der Einfluss der Osterfeiertage zu beachten ist. Die COVID-19-Fallzahlen stiegen in den letzten Wochen in allen Altersgruppen wieder an, besonders stark jedoch bei Kindern und Jugendlichen, von denen auch zunehmend Übertragungen und Ausbruchsgeschehen ausgehen. Auch bei den über 80-Jährigen hat sich der wochenlang abnehmende Trend nicht fortgesetzt. Beim Großteil der Fälle ist der Infektionsort nicht bekannt. COVID-19-bedingte Ausbrüche betreffen momentan insbesondere private Haushalte, zunehmend auch Kitas, Schulen und das berufliche Umfeld, während die Anzahl der Ausbrüche in Alters- und Pflegeheimen abgenommen hat. Insgesamt ist die VOC B.1.1.7 inzwischen in Deutschland der vorherrschende COVID-19-Erreger. Das ist besorgniserregend, weil die VOC B.1.1.7 nach bisherigen Erkenntnissen deutlich ansteckender ist als andere Varianten. Zudem vermindert die zunehmende Verbreitung und Dominanz der VOC 1.1.7 die Wirksamkeit der bislang erprobten Infektionsschutzmaßnahmen erheblich.
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Der Anstieg der Fallzahlen insgesamt und der Infektionen durch die VOC B 1.1.7. werden nach Einschätzung des RKI zu einer deutlich ansteigenden Anzahl von Hospitalisierungen und intensivpflichtigen Patientinnen und Patienten führen. Bundesweit ist seit Mitte März wieder ein deutlicher Anstieg der COVID-19-Fallzahlen auf Intensivstationen (ITS) zu verzeichnen. Die Anzahl der Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen (Inzidenz) betrug am 13. April 2021 bundesweit 141 und in Bayern 160.
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b) In dieser Situation ergibt die Folgenabwägung, dass die zu erwartenden Folgen einer Außervollzugsetzung der angegriffenen Norm - im Hinblick auf die damit einhergehende mögliche Eröffnung weiterer Infektionsketten - schwerer ins Gewicht fallen als die Folgen ihres weiteren Vollzugs für die Grundrechte des Antragstellers. Gegenüber den bestehenden Gefahren für Leib und Leben, vor denen zu schützen der Staat nach dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verpflichtet ist (vgl. auch BVerfG, B.v. 11.11.2020 - 1 BvR 2530/20 - juris Rn. 16), müssen die Interessen der Antragstellerin gegenwärtig zurücktreten.
B.
12
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Gegenstandswertes ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG. Da die angegriffene Verordnung bereits mit Ablauf des 18. April 2021 außer Kraft tritt (§ 5 EQV), zielt der Eilantrag inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache, weshalb eine Reduzierung des Gegenstandswertes für das Eilverfahren auf der Grundlage von Ziff. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 nicht angebracht ist.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).