Inhalt

VGH München, Beschluss v. 15.04.2021 – 20 NE 21.1003
Titel:

Präsenzunterricht nur mit negativer Corona-Testung 

Normenketten:
VwGO § 47 Abs. 6
12. BayIfSMV § 18 Abs. 4
GG Art. 2, Art. 3
Leitsatz:
Es ist rechtmäßig, die Teilnahme am Präsenzunterricht in der Schule von einer negativen Corona-Testung abhängig zu machen.  (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Präsenzunterricht, Testpflicht, Corona-Pandemie
Fundstelle:
BeckRS 2021, 7913

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 10.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
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1. Der Antragsteller, der die 4. Grundschulklasse in Bayern besucht, beantragt, § 18 Abs. 4 (Satz 1 und 2) der Zwölften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (12. BayIfSMV vom 5.3.2021, BayMBl. 2021 Nr. 171) in der Fassung der Änderungsverordnung vom 9. April 2021 (BayMBl. 2021 Nr. 261), die mit Ablauf des 18. April 2021 außer Kraft tritt (§ 30 12. BayIfSMV), durch Erlass einer einstweiligen Anordnung vorläufig außer Vollzug zu setzen.
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2. Mit seinem Eilantrag vom 7. April 2021, der mit mehreren Schriftsätzen ergänzt wurde, trägt der Antragsteller im Wesentlichen vor, durch die angegriffene Regelung massiv in seinen Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 und 2 GG verletzt zu sein und macht einen Gleichheitsverstoß nach Art. 3 Abs. 1 GG geltend. Die Testpflicht vermeintlich kranker Schüler sei nicht von § 28a Abs. 1 Nr. 16 i.V.m. § 33 Nr. 3 IfSG gedeckt. Die Regelung verstoße gegen den Parlamentsvorbehalt und gegen Art. 79 Abs. 2 GG. Die Grenzwerte in § 28a Abs. 3 IfSG seien unwissenschaftlich, rein politischer Natur und ohne Aussagekraft. Die Ungleichbehandlung von Schülern und Lehrern, die selbst zuhause testen dürften, sei gleichheitswidrig. Die Tests seien für Schüler körperlich und psychisch belastend. Sie dürften nicht durch ungeschultes Lehrpersonal durchgeführt werden. Heimunterricht für Testverweigerer sei mit erheblichen Nachteilen bei Benotung, sozialer Ungerechtigkeit, Stigmatisierung und Verfestigung von Bildungsungerechtigkeiten verbunden, sodass mittelbar Testzwang herrsche. Die Maßnahme sei unverhältnismäßig. Die häusliche Testung sowie Trennwände und Belüftungsanlagen stellten mildere Mittel dar. Die Einschätzungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) seien wegen dessen fehlender politischer Unabhängigkeit als nachgeordnete Behörde des Bundesministeriums für Gesundheit nicht demokratisch legitimiert.
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3. Auf Hinweis auf die ablehnende Senatsentscheidung vom 12. April 2021(Az. 20 NE 21.926) hat der Antragsteller seinen Eilantrag aufrechterhalten und auf § 18 Abs. 4 12. BayIfSMV i.d.F.d. Änderungsverordnung vom 9. April 2021 (BayMBl. 2021 Nr. 261) umgestellt. Ein Gleichheitsverstoß ergebe sich nicht nur aus der Ungleichbehandlung von Schülern und Lehrkräften (Testmöglichkeit zuhause), sondern zudem aus der fehlenden Differenzierung zwischen den verschiedenen Schularten. Die Medizin-Betreiberverordnung verpflichte Betreiber von Medizinprodukten, nur Personen mit dem Anwenden und Betreiben zu beauftragen, die die dafür erforderliche Ausbildung und Kenntnis hätten. Mit Nichtwissen werde bestritten, dass der Antragsgegner ein toxikologisches Gutachten hinsichtlich etwaiger Ethylenoxid-Sterilisationsrückständen auf Teststäbchen eingeholt habe. Auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung sei verletzt. Da beide Elternteile des Antragstellers berufstätig seien, hätten sie kein echtes Wahlrecht. Schüler trügen nicht überproportional zum Infektionsgeschehen bei; die Positivrate werde nicht im Verhältnis zu den hohen Testzahlen zugrunde gelegt. Schnelltests führten häufig zu falsch-positiven und falsch-negativen Befunden.
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4. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten Bezug genommen.
II.
A.
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Der zulässige Antrag hat keinen Erfolg. Die Voraussetzungen des § 47 Abs. 6 VwGO, wonach das Normenkontrollgericht eine einstweilige Anordnung erlassen kann, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist, liegen nicht vor. Ein in der Hauptsache zu erhebender Normenkontrollantrag gegen § 18 Abs. 4 12. BayIfSMV hat unter Anwendung des Prüfungsmaßstabs im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO (1.) bei summarischer Prüfung keinen Erfolg (2.). Eine Folgenabwägung geht zulasten des Antragstellers aus (3.).
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1. Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache anhängigen oder noch zu erhebenden Normenkontrollantrags, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen (vgl. BVerwG, B.v. 25.2.2015 ‒ 4 VR 5.14 u.a. ‒ ZfBR 2015, 381 - juris Rn. 12). Dabei erlangen die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags eine umso größere Bedeutung für die Entscheidung im Eilverfahren, je kürzer die Geltungsdauer der in der Hauptsache angegriffenen Normen befristet und je geringer damit die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Entscheidung über den Normenkontrollantrag noch vor dem Außerkrafttreten der Normen ergehen kann.
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Ergibt die Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag zulässig und (voraussichtlich) begründet sein wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist (BVerwG, B.v. 25.2.2015 ‒ 4 VR 5.14 u.a. ‒ juris Rn. 12).
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Lassen sich die Erfolgsaussichten nicht absehen, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Gegenüberzustellen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die begehrte Außervollzugsetzung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber später Erfolg hätte, und die Folgen, die entstünden, wenn die begehrte Außervollzugsetzung erlassen würde, der Normenkontrollantrag aber später erfolglos bliebe. Die für eine einstweilige Außervollzugsetzung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, also so schwer wiegen, dass sie - trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache - dringend geboten ist (vgl. BVerwG, B.v. 25.2.2015 - 4 VR 5.14 u.a. - juris Rn. 12; Ziekow in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 47 Rn. 395; Hoppe in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 47 Rn. 106).
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2. Nach diesen Maßstäben ist der Antrag auf einstweilige Außervollzugsetzung des § 18 Abs. 4 12. BayIfSMV abzulehnen, weil der in der Hauptsache zu erhebende Normenkontrollantrag bei summarischer Prüfung voraussichtlich keinen Erfolg hat. Zur Begründung wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf den Senatsbeschluss vom 12. April 2021 (Az. 20 NE 21.926) verwiesen, der dem Antragsteller bekannt ist.
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Das Vorbringen des Antragstellers rechtfertigt keine andere Einschätzung. Soweit er die fachlichen Einschätzungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) anzweifelt, lässt er außer Bedacht, dass der Gesetzgeber dem RKI insbesondere in § 4 IfSG im Zusammenhang mit dem Infektionsschutz eine tragende Rolle eingeräumt hat (BayVerfGH, E.v. 8.5.2020 - Vf. 34-VII-20 - juris Rn. 104; vgl. auch BVerfG, B.v. 10.4.2020 - 1 BvQ 28/20 - NJW 2020, 1427 - juris Rn 13). Weshalb Art. 79 Abs. 2 GG (Zwei-Drittel-Mehrheit bei Grundgesetzänderung) verletzt sein sollte, erschließt sich dem Senat nicht. Der Einwand, die 7-Tage-Inzidenz sei kein geeigneter Richtwert, greift nicht durch. § 28a Abs. 3 Satz 4 IfSG legt fest, dass Maßstab für die zu ergreifenden Schutzmaßnahmen insbesondere die Anzahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 je 100.000 Einwohnern innerhalb von sieben Tagen ist. Dass der Gesetzgeber dabei seinen weiten Gestaltungsspielraum im Rahmen der Erfüllung seiner verfassungsrechtlichen Schutzpflichten gegenüber Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit und der Gesundheit (vgl. dazu BVerfG, B.v. 12.5.2020 - 1 BvR 1027/20 - NVwZ 2020, 1823 - juris Rn. 6) überschritten hätte, ist nicht erkennbar. Dass es dem Lehrpersonal, anders als den Schülerinnen und Schülern, ermöglicht wird, sich zuhause zu testen (§ 18 Abs. 4 Satz 7 12. BayIfSMV) bedeutet keinen Gleichheitsverstoß; dass sich die gegenübergestellten Vergleichsgruppen in der Ausgangssituation wesentlich gleich verhielten, ist schon nicht hinreichend dargelegt. Nicht dargelegt oder sonst erkennbar ist auch, dass Trennwände oder Belüftungsanlagen gleichermaßen effektive Mittel der Pandemiebekämpfung in Schulen darstellten. Dass von der Testobliegenheit erhebliche Gesundheitsgefährdungen für die Schülerinnen und Schüler ausgingen, ist ebenfalls nicht substanziiert dargelegt oder sonst erkennbar.
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3. Auch wenn man von offenen Erfolgsaussichten in der Hauptsache ausgeht, ergibt eine Folgenabwägung insbesondere im Hinblick auf die derzeit wieder deutlich steigenden Infektionszahlen, dass die Folgen des weiteren Vollzugs der angegriffenen Norm weniger schwer wiegen als die Folgen einer zu erwartenden Verstärkung des Infektionsgeschehens bei einer einstweiligen Außervollzugsetzung.
12
Das pandemische Geschehen verstärkt sich aktuell erneut. Nach dem Situationsbericht des Robert-Koch-Instituts (RKI) vom 14. April 2021 (abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Apr_2021/2021-04-14-de.pdf? blob=publicationFile) nimmt die Zahl der Übertragungen von COVID-19 in der Bevölkerung in Deutschland stark zu. Etwa seit Mitte März 2021 - also in zeitlichem Zusammenhang zur Ausweitung des Präsenzunterrichts nach Inkrafttreten der 12. BayIfSMV zum 8. März 2021 - hat sich der Anstieg der Fallzahlen beschleunigt, besonders stark bei Kindern und Jugendlichen, von denen zunehmend Übertragungen und Ausbruchsgeschehen ausgehen. COVID-19-bedingte Ausbrüche betreffen momentan insbesondere private Haushalte und zunehmend auch Kitas, Schulen und das berufliche Umfeld. Das RKI schätzt die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland insgesamt als „sehr hoch“ ein. Der Anstieg der Fallzahlen insgesamt und der Infektionen durch die VOC B 1.1.7. würden zu einer deutlich ansteigenden Anzahl von Hospitalisierungen und intensivpflichtigen Patientinnen und Patienten führen. Bundesweit ist seit Mitte März wieder ein deutlicher Anstieg der COVID-19-Fallzahlen auf Intensivstationen zu verzeichnen. Nach der aktuellen Risikobewertung des RKI (Stand 31.3.2021, vgl. https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/ N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html) ist die Dynamik der Verbreitung einiger neuer Varianten (VOC) von SARS-CoV-2 besorgniserregend.
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In dieser Situation ergibt die Folgenabwägung, dass die zu erwartenden Folgen einer Außervollzugsetzung der angegriffenen Norm im Hinblick auf die damit einhergehende mögliche Eröffnung weiterer Infektionsketten schwerer ins Gewicht fallen als die Folgen ihres Vollzugs für die Interessen der Normadressaten.
B.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Gegenstandswertes ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG. Da die angegriffene Verordnung bereits mit Ablauf des 18. April 2021 außer Kraft tritt (§ 30 12. BayIfSMV), zielt der Eilantrag inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache, weshalb eine Reduzierung des Gegenstandswertes für das Eilverfahren nach Ziff. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 nicht angebracht ist.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).