Inhalt

VG München, Urteil v. 23.03.2021 – M 4 K 17.4916
Titel:

Rechtsschutzbedürfnis bei Anfechtung eines Unterschleifbescheids

Normenketten:
BayVwVfG § 35
VwGO § 42 Abs. 2
BayJAPO § 11 Abs. 1, Abs. 5, Abs. 6, Abs. 7
Leitsätze:
1. Die Herabsetzung einer Einzelnote einer mündlichen Prüfung durch einen "Unterschleifbescheid" stellt einen ausnahmsweise gesondert anfechtbaren Verwaltungsakt dar. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ist eine Prüfungsbescheinigung über die Benotung der Ersten juristischen Staatsprüfung bestandskräftig geworden, fehlt der Anfechtung eines eine Einzelnote nachträglich korrigierenden "Unterschleifbescheids" das Rechtsschutzinteresse. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Prüfungsrecht, Erste Juristische, Staatsprüfung 2017/1, mündliche Prüfung, Kontaktaufnahme mit Prüfer vor mündlicher Prüfung, statthafte Klageart gegen „Unterschleifbescheid“, Rechtsschutzinteresse (verneint), Erste juristische Staatsprüfung, Einzelnote, Unterschleif, Kontaktaufnahme, Prüfer, Verwaltungsakt, Rechtsschutzinteresse
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Urteil vom 19.12.2022 – 7 B 21.3133
Fundstelle:
BeckRS 2021, 7712

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger wendet sich gegen die nachträgliche Bewertung seiner mündlichen Prüfungsleistung im Prüfungsgebiet Zivilrecht mit ungenügend (0 Punkten) im Rahmen der Ersten Juristischen Staatsprüfung 2017/1.
2
Der Kläger hat im Termin 2017/1 den schriftlichen Teil der Ersten Juristischen Staatsprüfung bestanden. Mit Schreiben des Landesjustizprüfungsamtes vom 26. Juni 2017 lud dieses den Kläger zur mündlichen Prüfung am 10. Juli 2017 unter namentlicher Bekanntgabe der Besetzung der Prüfungskommission (Bl* * der Behördenakte (im Folgenden: BA)).
3
Mit E-Mail vom ... 2017 wandte sich der Kläger an den Prüfer in der mündlichen Prüfung im Prüfungsgebiet Zivilrecht, Dr. S. (Bl. ... BA). Auszugsweise lautete die E-Mail wie folgt:
4
„Trotz meiner unternehmerischen Tätigkeit vermochte ich im prüfungsvorbereitenden Klausurenkurs konstant acht oder mehr Punkte zu erreichen. Sehnenscheidenentzündung hin oder her - meine schriftlichen Ergebnisse mit durchschnittlich nur 6,66 Punkten kommt angesichts dessen einem akademischen Versagen gleich. Ich habe Angst, dass dieses Missgeschick ein unüberwindliches Hindernis für meinen Traum einer berufsbegleitenden Promotion im Steuerrecht begründen könnte. Ich bin froh, dass ich meinen Mitunternehmern 18 Monate zur Examensvorbereitung abringen konnte. „Einen Egotrip für einen Verbesserungsversuch“ [Zitat] gestehen Sie mir jedoch nicht zu, damit verbleibt mir nur der 10.07.2017 um Ihnen oder einem Ihrer beiden Namensvettern mein fundiertes juristisches Verständnis zu offenbaren. Vor diesem Hintergrund brenne ich zu erfahren, ob Sie mein Prüfer sein werden und in welchen vom Prüfungsstoff erfassten Rechtsgebieten Sie brillieren. Über einen kurzen Rückruf wäre ich Ihnen sehr verbunden; (…)“
5
Die klägerische E-Mail leitete Dr. S. am ... 2017 an den Vorsitzenden der Prüfungskommission mit dem Hinweis weiter, dass er nicht darauf antworten werde (Bl ... BA). Der Vorsitzende der Prüfungskommission leitete die E-Mail am ... 2017 an das Landesjustizprüfungsamt weiter (Bl. ... A).“
6
Der Kläger nahm an der mündlichen Prüfung am 10. Juli 2017 teil. Die Prüfungskommission bewertete seine Leistung im Prüfungsgebiet Zivilrecht mit 9 Punkten und eröffnete dem Kläger am Ende der mündlichen Prüfung mündlich seine Einzelnoten und die Gesamtnote der Ersten Juristischen Staatsprüfung (Bl. … BA). Er erhielt eine Prüfungsbescheinigung vom 10. Juli 2017 mit einer Prüfungsgesamtnote der Ersten Juristischen Staatsprüfung von 7,32 Punkten.
7
Das Landesjustizprüfungsamt hörte den Kläger mit Schreiben vom 11. Juli 2017 (Bl ... BA) zu einer beabsichtigten Bewertung der Leistung im Prüfungsgebiet Zivilrecht in der mündlichen Prüfung vom 10. Juli 2017 mit ungenügend (0 Punkte) an. Die Kontaktaufnahme des Klägers mit Dr. S. am ... 2017 unter Bekanntgabe persönlicher Lebensumstände und der Fragen, ob er sein Prüfer sei, in welchem vom Prüfungsstoff umfassten Rechtsgebieten dieser brilliere und unter Bitte um Rückruf stelle einen Unterschleif nach § 11 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 JAPO dar.
8
Der Kläger nahm mit Schreiben vom 30. Juli 2017 Stellung (Bl. … Er räumte den tatsächlichen Geschehensablauf ein und führte im Wesentlichen aus, dass kein Unterschleif vorliege. Es stehe jedem Prüfling frei, sich mit den Prüfern zu unterhalten und Informationen über sie einzuholen. Da die Prüfer völlig frei seien, aus dem breiten Feld des Zivilrechts den Gegenstand der Prüfung auszuwählen, bringe die Kenntnis des Tätigkeitsfelds des Prüfers keinen Vorteil.
9
Mit Bescheid vom 12. September 2017 (Bl. 64 ff.) teilte das Landesjustizprüfungsamt dem Kläger mit, dass die Leistung des Prüfungsteilnehmers in der mündlichen Prüfung im Prüfungsgebiet Zivilrecht der Ersten Juristischen Staatsprüfung 2017/1 mit der Note „ungenügend“ (0 Punkte) bewertet wird, § 11 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 der Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Juristen (JAPO) vom 13. Oktober 2003, zuletzt geändert durch Verordnung vom 27. November 2015. Die sofortige Vollziehung des Beschlusses wurde angeordnet, § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO. Der Bescheid wurde im Wesentlichen damit begründet, dass der Kläger durch seine E-Mail vom … … 2017 versucht habe, im Vorfeld der mündlichen Prüfung in Erfahrung zu bringen, was Gegenstand der mündlichen Prüfung im Zivilrecht sein werde, um sich dadurch einen Vorteil zu verschaffen. Dies stelle einen versuchten Unterschleif nach § 11 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 JAPO dar. Indem der Kläger im Vorfeld der Prüfung mit dem Prüfer Kontakt aufgenommen habe, um zu versuchen, sich über dessen Tätigkeitsgebiet auszutauschen, habe er in unzulässiger Weise versucht, sich einen nicht gerechtfertigten Vorteil zu verschaffen. Auch wenn sich die Frage nicht explizit auf das konkrete Thema bezogen habe, das der Prüfer Dr. S. zum Gegenstand des Prüfungsgesprächs machen würde, hätte bereits eine Eingrenzung desjenigen Bereichs aus dem Zivilrecht, in dem er prüfen würde, dem Kläger einen deutlichen Vorteil gegenüber den anderen Prüflingen gebracht und eine gezieltere Vorbereitung auf die Prüfung ermöglicht.
10
Das Landesjustizprüfungsamt versandte das Schreiben am 15. September 2017 an den Kläger (Bl. … BA). Ein Zustellnachweis ist nicht aktenkundig.
11
Mit Schriftsatz vom 16. Oktober 2017, eingegangen beim Bayerischen Verwaltungsgericht München am selben Tag, erhob der Prozessbevollmächtigte des Klägers Klage mit dem Antrag,
den Bescheid vom 12. September 2017 aufzuheben.
12
Mit Schriftsatz vom 10. Januar 2018 begründete der Klägerbevollmächtigte die Klage im Wesentlichen damit, dass der Kläger keinen Unterschleif begangen habe. Charakteristisch für Unterschleif sei, dass der Prüfling heimlich unter Verletzung der Chancengleichheit das Prüfungsergebnis beeinflusse. Hieraus folge, dass der Prüfling täuschend vorgehen und die Verletzung der Chancengleichheit verbergen müsse. Hierfür ergebe sich kein Anknüpfungspunkt, da der Kläger transparent unter Offenlegung seiner Identität den Prüfer nach seinem Tätigkeitsschwerpunkt zu befragen versucht habe. Hätte der Kläger - wie nicht - vom Prüfer den konkreten Prüfungsstoff erfahren (oder ihn zu erfahren versucht), wäre ein Unterschleif gegeben. Darüber hinaus müsse der Tatbestand des Unterschleifs jedoch eng ausgelegt werden, sonst beginge jeder Examenskandidat, der sich über Tätigkeitsbereiche der Prüfer informiere, Unterschleif. Der Anwendungsbereich des „Unterschleifs“ würde konturlos und unangemessen ausufern. Da das LJPA keine Prüferbeeinflussung, § 11 Abs. 5 JAPO, annehme, sei nicht die Kontaktaufnahme, sondern die versuchte Einholung von Informationen über Tätigkeitsgebiet entscheidend. Es sei aber statthaft, dass sich Prüflinge über Prüfer, deren Tätigkeitsbereiche und den Ablauf vergangener Prüfungen informierten. Bei Annahme einer Unterschleifshandlung sei eine Bewertung mit 0 Punkten aufgrund der persönlichen Umstände des Klägers unverhältnismäßig. Jedenfalls liege ein minderschwerer Fall vor, § 11 Abs. 6 JAPO.
13
Mit Schriftsatz vom 6. Februar 2018 erwiderte das Landesjustizprüfungsamt für den Beklagten und beantragte,
die Klage kostenpflichtig abzuweisen.
14
Zur Begründung trägt das Landesjustizprüfungsamt im Wesentlichen vor, dass Unterschleif kein heimliches Vorgehen oder täuschendes Verbergen voraussetze. Ein prüfungsrechtlicher Unterschleif sei nicht mit einem strafrechtlichen Betrug gleichzusetzen. Auch stelle eine Prüferbeeinflussung nach § 11 Abs. 5 JAPO einen vertypten besonders schweren Fall eines Unterschleifs dar, sei jedoch nicht heimlich. § 11 JAPO bezwecke vielmehr die Wahrung der Chancengleichheit und nicht die Vermeidung von „irrtumsbedingter Notenvergabe“ des Prüfers. Der Kläger habe nicht nur allgemein nach dem Tätigkeitsbereich von Dr. S. gefragt, sondern um einen telefonischen Austausch über die „prüfungsrelevanten Tätigkeitsbereiche“ des Prüfers gebeten. Erkennbares Ziel sei es gewesen, Auskünfte über mögliche Prüfungsgegenstände zu erhalten. Dies würde eine gezielte Vorbereitung ermöglichen und einen nicht gerechtfertigter Vorteil darstellen. Die Einsichtnahme in die Protokolle vergangener Prüfungen und die Möglichkeit, als Student einer früher anberaumten mündlichen Prüfung beizuwohnen, stehe einem telefonischen Austausch über Interessengebiete nicht gleich. Die Herabstufung der Bewertung sei nicht unverhältnismäßig; ein minderschwerer Fall liege nicht vor.
15
Das Landesjustizprüfungsamt übersandte dem Kläger mit Anschreiben vom 8. August 2018 eine abgeänderte Prüfungsbescheinigung vom 10. Juli 2017 mit einer Prüfungsgesamtnote der Ersten Juristischen Staatsprüfung von 6,57 Punkten und ein Zeugnis vom 8. August 2018 mit einer Prüfungsgesamtnote der Ersten juristischen Prüfung von 8,94 Punkten.
16
Der Klägerbevollmächtigte vertiefte sein Vorbringen mit Schriftsätzen vom 12. April 2018, 29. September 2018 und 15. September 2019. Auf den Inhalt dieser Schriftsätze wird Bezug genommen, § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO.
17
Mit Schreiben vom 24. Februar 2021 erklärte das Landesjustizprüfungsamt und mit Schreiben vom 17. März 2021 der Bevollmächtigte des Klägers ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung.
18
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

19
Über die Klage entscheidet das Gericht gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung, da die Beteiligten auf eine solche verzichtet haben.
20
1. Die Klage ist unzulässig. Sie ist zwar statthaft, ihr fehlt jedoch das Rechtsschutzinteresse.
21
1.1. Die Klage gegen den Unterschleifbescheid ist als Anfechtungsklage statthaft (§ 42 Abs. 1 Var. 1 VwGO).
22
Der Unterschleifbescheid stellt einen Verwaltungsakt nach Art. 35 Satz 1 BayVwVfG dar, denn der Bescheid beinhaltet eine verbindliche Regelung mit Außenwirkung. Die Bewertung der mündlichen Prüfung im Gebiet Zivilrecht mit „ungenügend“ knüpft als Sanktion an die Feststellung eines Unterschleifversuches an. Die Herabsetzung dieser Einzelnote im streitgegenständlichen Bescheid hat damit nicht lediglich informatorischen Charakter und geht über die bloße Mitteilung von Einzelnoten hinaus. In diesem Fall kann nach Auffassung des Gerichts - ausnahmsweise und unabhängig von der Regelung des § 11 Abs. 7 Satz 1 JAPO und von § 44a VwGO - auch eine Einzelnote, die in einen Prüfungsbescheid einfließt, bereits gesondert angegriffen werden (vgl. VG München, U.v. 29.1.2019 - M 4 K 17.3273 - juris Rn. 44; VG Würzburg, U.v. 16.7.2020 - W 2 K 19.1086 - juris Rn. 19).
23
1.2. Allerdings fehlt einer Klage gegen den „Unterschleifbescheid“ vorliegend das Rechtsschutzbedürfnis, weil die Prüfungsbescheinigung der Ersten Juristischen Staatsprüfung vom 8. August 2018 mit der Prüfungsgesamtnote bestandskräftig geworden ist. Denn selbst im Fall eines Obsiegens des Klägers im vorliegenden Verfahren und der Aufhebung des streitgegenständlichen Unterschleifbescheids müsste die Prüfungsbescheinigung ebenfalls abgeändert werden. Dies ist nach Eintritt der Bestandskraft dieses Bescheids jedoch nicht mehr möglich, so dass für eine isolierte Aufhebung des Unterschleifbescheids kein Rechtsschutzinteresse besteht (VG München, U.v. 29.1.2019 - M 4 K 17.3273 - juris Rn. 44; a.A. VG Würzburg, U.v. 16.7.2020 - W 2 K 19.1086 - juris Rn. 20 zur LPO I).
24
Vorliegend übersandte das Landesjustizprüfungsamt dem Kläger mit Schreiben vom 8. August 2018 die Prüfungsbescheinigung der Ersten Juristischen Staatsprüfung vom 8. August 2018 und das Zeugnis der Ersten Juristischen Prüfung mit einer Prüfungsgesamtnote von 8,94 Punkten. Diese Bescheide, in die die streitgegenständliche Einzelnote eingeflossen sind, sind mangels Anfechtung durch die Klagepartei bestandskräftig geworden. Eine Wiedereinsetzung des Klägers in die Klagefrist scheitert an § 60 Abs. 3 VwGO.
25
Der Klage fehlt somit das Rechtsschutzinteresse, womit sie unzulässig ist.
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2. Ohne dass es für die Entscheidung darauf ankommt, merkt das Gericht an, dass es in materiell-rechtlicher Hinsicht Zweifel hegt, ob die vom Beklagten herangezogene Rechtsgrundlage des Unterschleifs, § 11 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 JAPO, den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Bestimmtheit einer prüfungsrechtlichen Sanktionsnorm genügt (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.2.2019 - 6 C 3/18 - juris Rn. 15).
27
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.