Inhalt

SG München, Beschluss v. 10.08.2021 – S 28 RF 10/21 E
Titel:

Verwaltungsakt, Aufrechnung, Verwaltungsverfahren, Rechtsmittel, Verfahren, Widerspruch, Ablehnung, Arbeitsleistung, Zuziehung, Antragsteller, Anordnung, Beweisanordnung, Forderung, Staatskasse, feststellender Verwaltungsakt, Vertreter der Staatskasse, bare Auslagen

Schlagworte:
Verwaltungsakt, Aufrechnung, Verwaltungsverfahren, Rechtsmittel, Verfahren, Widerspruch, Ablehnung, Arbeitsleistung, Zuziehung, Antragsteller, Anordnung, Beweisanordnung, Forderung, Staatskasse, feststellender Verwaltungsakt, Vertreter der Staatskasse, bare Auslagen
Rechtsmittelinstanz:
LSG München, Beschluss vom 18.09.2025 – L 12 SF 225/21
Fundstelle:
BeckRS 2021, 69398

Tenor

I. Die Entschädigung des Antragstellers für seine Heranziehung am 9.12.2020 im Verfahren S 33 U 644/18 wird auf 0,00 € festgesetzt.
II. Die Beschwerde wird wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.

Gründe

I.
1
Gegenstand des gerichtlichen Festsetzungsverfahrens ist die Entschädigung des Antragstellers wegen der Wahrnehmung eines gerichtlich angeordneten Begutachtungstermins nach dem Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetz (JVEG).
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Im Verfahren S 33 U 644/18 wegen der Gewährung einer BK-Rente ernannte das Gericht auf Grund der Beweisanordnung vom 22.6.2020/29.10.2020 N. (München) als Sachverständigen und bat ihn um Erstellung eines Gutachtens nach ambulanter Untersuchung des Antragstellers.
3
Die Klinik des Sachverständigen lud den Antragsteller zum Termin am 9.12.2020. Lt. Anwesenheitsbescheinigung von N. fand die ambulante Untersuchung am 9.12.2020 von 8.00 bis ca. 15.00 Uhr statt.
4
Mit Entschädigungsantrag vom 26.12.2020, eingegangen bei Gericht am 29.12.2020, machte der Antragsteller wegen der Zeitversäumnis von acht Stunden Entschädigung geltend.
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Die Kostenbeamtin setzte mit Schreiben vom 7.4.2021 eine Entschädigung bei Nachteilsausgleich für den 9.12.2020 von 7.00 bis 15.00 Uhr in Höhe von 28,00 € (8 Stunden * 3,50 €) fest. Zugleich erklärte sie nach VV 19.1.1 zu Art. 70 BayHO die Aufrechnung der Forderung der Staatskasse aufgrund PKH-Rückforderung in dem Verfahren S 51 AS 28/14 (Rechnung vom 14.6.2018 über 537,29 €) gegen den Anspruch des Antragstellers auf allgemeine Zeitentschädigung aus dem Entschädigungsantrag vom 26.12.2020, so dass der auszuzahlende Entschädigungsanspruch 0,00 € betrug.
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Die gesetzlichen Voraussetzungen nach §§ 387 ff. BGB lägen vor. Eine Aufrechnung sei möglich, sofern Gegenseitigkeit der Forderungen gegeben sei. Der Entschädigungsanspruch des Antragstellers sei die Hauptforderung und müsse weder fällig noch durchsetzbar sein. Die PKH-Rückforderung bezeichne die Gegenforderung. Sie sei fällig und durchsetzbar, da der PKH-Aufhebungsbeschluss vom 7.2.2018 rechtskräftig geworden sei. Die Staatskasse sei Schuldnerin und Gläubigerin einer öffentlich-rechtlichen Forderung in Geld. Die Forderungen seien gleichartig. Auch seien sie gegenseitig, da der eine Gläubiger auch der Schuldner des anderen sei. Ein Aufrechnungsverbot bestehe hinsichtlich des Entschädigungsanspruchs nur für tatsächliche Auslagen, nicht jedoch für sonstige Entschädigungen nach dem JVEG – hier die beantragte allgemeine Zeitentschädigung. Die Aufrechnung sei zulässig und demnach zwingend schriftlich zu erklären. Als Folge der Aufrechnung werde der Entschädigungsanspruch des Antragstellers in Höhe von 28,00 € nicht ausgezahlt und die PKH-Rückforderung verringere sich um 28,00 € auf 509,29 €.
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Am 14.4.2021 hat der Antragsteller gegen die Aufrechnungserklärung Widerspruch eingelegt. Er ist der Auffassung, dass die Aufrechnung in Höhe von 28,00 € unzulässig ist. Eine Forderung, die nicht pfändbar sei, dürfe nicht aufgerechnet werden. Im Übrigen handele es sich um einen Verwaltungsakt. Im Fall einer Ablehnung des Widerspruches sei die Anfechtungsklage statthaft; die richterliche Festsetzung sei kein statthaftes Rechtsmittel. Auch werde ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör geltend gemacht, da er vor der Aufrechnungserklärung nicht angehört worden sei. Gegen die Festsetzung der 28,00 € wegen allgemeiner Zeitentschädigung sei nichts einzuwenden.
8
Der Vertreter der Staatskasse hat darauf hingewiesen, dass bei Anwendung eines Mittelbewirtschaftungssystems wie IHV die Geschäftsstelle für die schriftliche Aufrechnungserklärung zuständig sei. Die Aufrechnung sei kein eigenständiger Verwaltungsakt, weshalb die erteilte Rechtsbehelfsbelehrungzu § 4 JVEG im gerichtlichen Schreiben vom 7.4.2021 keinen Bedenken begegne. Geldansprüche auf Ersatz immaterieller Schäden seien frei übertragbar und damit pfändbar. Rein hilfsweise werde darauf hingewiesen, dass umstritten sei, ob einem Arbeitslosen überhaupt ein Nachteil durch eine gerichtliche Zuziehung in seinem Verfahren entstehe und er deshalb überhaupt anspruchsberechtigt gem. § 20 JVEG sei.
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Im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, auch in den Verfahren S 33 U 644/18 und S 51 AS 28/14, Bezug genommen. Im Verfahren S 51 AS 28/14 hat das Gericht mit Schreiben vom 13.6.2018/Zahlungsaufforderung vom 14.6.2018 den Antragsteller aus übergegangenem Recht (§ 59 RVG) verpflichtet, die von der Staatskasse an seinen Bevollmächtigten gezahlte Vergütung i.H.v. 537,29 € aufgrund Aufhebung der bewilligten Prozesskostenhilfe zu erstatten.
II.
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Die Festsetzung der Entschädigung erfolgt gemäß § 4 Abs. 1 JVEG durch gerichtlichen Beschluss, wenn der Berechtigte oder die Staatskasse die gerichtliche Festsetzung beantragt oder das Gericht sie für angemessen hält.
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Statthaftes Rechtsmittel ist, auch wenn sich der Antragsteller lediglich gegen die Aufrechnung wendet, der Antrag gemäß § 4 Abs. 1 JVEG. Die Kostenbeamtin hat im Zusammenhang mit der erklärten Aufrechnung keinen Verwaltungsakt erlassen, gegen den der Antragsteller zulässig Widerspruch erheben könnte. Sie hat wegen der Aufrechnung nach dem Gesamtzusammenhang weder Aktivitäten entfaltet, die Verwaltungsverfahren mit dem Ziel des Abschlusses durch Verwaltungsakt hätten sein können (vgl. § 8 SGB X), noch ihre Entscheidung als Verwaltungsakt bezeichnet oder anderweitig den Eindruck erweckt, sie habe durch Verwaltungsakt über die Aufrechnung entschieden (vgl. BSG, Beschluss vom 20.2.2020, Az. B 14 AS 3/19 R, Rn. 12 m.w.N.). Die durch die Kostenbeamtin abgegebene Erklärung, es werde keine Entschädigung ausgezahlt, ist somit kein (feststellender) Verwaltungsakt und auch keine gesonderte Ablehnung der Auszahlung (vgl. BSG, ebenda).
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Der vom Antragsteller eingelegte Widerspruch ist daher als Antrag auf gerichtliche Festsetzung der Entschädigung gem. § 4 Abs. 1 JVEG auszulegen.
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Die Entschädigung für die Heranziehung zum Termin am 9.12.2020 im Verfahren S 33 U 644/18 wird auf 0,00 € festgesetzt.
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Die gerichtliche Festsetzung gemäß § 4 Abs. 1 JVEG stellt keine Überprüfung der vom Kostenbeamten vorgenommenen Berechnung dar, sondern ist eine davon unabhängige erstmalige Festsetzung. Bei der Kostenfestsetzung durch den Kostenbeamten handelt es sich um eine lediglich vorläufige Regelung, die durch den Antrag auf gerichtliche Kostenfestsetzung hinfällig wird. Damit wird eine vorherige Berechnung der Beträge im Verwaltungswege sowohl bei den Einzelpositionen als auch im Gesamtergebnis gegenstandslos. Das Gericht hat daher eine vollumfassende Prüfung des Entschädigungsanspruchs vorzunehmen, ohne auf Einwände gegen die Kostenfestsetzung im Verwaltungsweg beschränkt zu sein. Die vom Gericht festgesetzte Entschädigung kann daher auch niedriger ausfallen, als sie zuvor vom Kostenbeamten vorgenommen worden ist; das Verbot der reformatio in peius gilt nicht (vgl. z.B. BayLSG, Beschluss vom 21.11.2013 – L 15 SF 91/13).
15
§ 191 SGG lautet: „Ist das persönliche Erscheinen eines Beteiligten angeordnet worden, so werden ihm auf Antrag bare Auslagen und Zeitverlust wie einem Zeugen vergütet; sie können vergütet werden, wenn er ohne Anordnung erscheint und das Gericht das Erscheinen für geboten hält.“
16
Vorliegend lag der Einladung des gerichtlichen Sachverständigen die gerichtliche Anordnung der ambulanten Untersuchung des Antragstellers – und somit seines persönlichen Erscheinens – zugrunde (vgl. B. Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Sozialgerichtsgesetz, 13. Auflage 2020, § 191 Rn. 2 m.w.N.).
17
Die Kostenbeamtin hat zutreffend eine Entschädigung von 28,00 € zugunsten des Antragstellers berechnet.
18
Gem. § 19 Abs. 1 Satz 1 JVEG erhalten Zeugen als Entschädigung u.a. Entschädigung für Zeitaufwand (§ 20). Nach § 20 JVEG (in der Fassung vom 23.7.2013) beträgt die Entschädigung für Zeitversäumnis 3,50 Euro je Stunde, soweit weder für einen Verdienstausfall noch für Nachteile bei der Haushaltsführung eine Entschädigung zu gewähren ist, es sei denn, dem Zeugen ist durch seine Heranziehung ersichtlich kein Nachteil entstanden.
19
Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 20 JVEG liegen vor.
20
Nach der Rechtsprechung des BayLSG wird eine Entschädigung für Zeitversäumnis – auch bei Beteiligten des sozialgerichtlichen Verfahrens – regelmäßig dann zu erbringen sein, wenn weder ein Verdienstausfall noch Nachteile bei der Haushaltsführung geltend gemacht werden können. Denn bei dieser Entschädigung für sonstige Nachteile ist es nicht erforderlich, dass dem Berechtigten geldwerte Vorteile entgehen. Zudem besteht mit § 20 letzter Halbsatz JVEG eine widerlegbare gesetzliche Vermutung dahingehend, dass ein Nachteil erstanden ist (BayLSG, Beschluss vom 24.11.2016, Az. L 15 RF 31/16, Rn. 60).
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Lediglich dann, wenn dem Antragsteller „ersichtlich“ kein Nachteil entstanden ist, ist eine Entschädigung für Zeitversäumnis nicht zu leisten. Davon, dass ersichtlich kein Nachteil entstanden ist, ist dann auszugehen, wenn sich aus den eigenen Angaben des Antragstellers ergibt, dass er die Zeit, wenn es den Gerichtstermin nicht gegeben hätte, nicht anderweitig sinnvoll verwendet hätte, oder wenn es offensichtlich ist, dass ein Nachteil nicht eingetreten ist. Von ersterem ist dann auszugehen, wenn ein Antragsteller im Antrag nichts angibt, was auf eine Zeitversäumnis hindeutet und nicht einmal durch Ankreuzen der entsprechenden Stelle im Antragsformular zu erkennen gibt, dass ihm eine Zeitversäumnis entstanden ist. Ob der Nichteintritt eines Nachteils aus anderen Gründen ersichtlich, d. h. offensichtlich erkennbar ist, ist anhand der Umstände des Einzelfalls zu prüfen. Die Anforderungen an die Prüfpflicht der Kostenbeamten sind dabei angesichts der gesetzlichen Vermutung nur sehr gering. Denn mit der Entschädigung für Zeitversäumnis gemäß § 20 JVEG wird auch der Verlust von Freizeit entschädigt, wobei die Verwendung von Freizeit sehr vielgestaltig ist und im Belieben des Einzelnen steht. Eine Beurteilung der Wertigkeit der Freizeitgestaltung steht dem Kostenbeamten genauso wie dem Kostenrichter nicht zu (BayLSG, ebenda, Rn. 61 m.w.N.).
22
Vorliegend ist daher davon auszugehen, dass dem Antragsteller aufgrund der Heranziehung am 9.12.2020 ein Nachteil entstanden ist.
23
Aufgrund der vom Antragsteller angegebenen erforderlichen Zeit der Heranziehung und der Anwesenheitsbescheinigung des Sachverständigen N. waren 8 Stunden á 3,50 €, also 28,00 €, zu entschädigen.
24
Der Anspruch des Antragstellers ist durch die Aufrechnungserklärung der Kostenbeamtin vom 7.4.2021 erloschen.
25
Eine Anhörung des Antragstellers vor Erklärung der Aufrechnung war nicht notwendig; ein Verwaltungsverfahren i.S.d. § 8 SGB X lag nicht vor (s. oben).
26
Die Voraussetzungen der Aufrechnung nach §§ 387ff. BGB sind gegeben.
27
Eine Aufrechnungslage lag zum Zeitpunkt des Zugangs der Aufrechnungserklärung vor. Eine Aufrechnungslage besteht, wenn die in § 387 BGB normierten Tatbestandsmerkmale Gegenseitigkeit, Gleichartigkeit, Durchsetzbarkeit der Aktivforderung des Aufrechnenden und Erfüllbarkeit der Passivforderung des Aufrechnungsgegners gegeben sind (BGH, Urteil vom 19.11.2013, Az. II ZR 18/12, Rn. 11 m.w.N.).
28
Die Staatskasse und der Antragsteller schuldeten einander (bestehende) Geldforderungen und damit Leistungen, die ihrem Gegenstand nach gleichartig sind. Die Staatskasse konnte die ihr geschuldete Leistung aufgrund PKH-Rückforderung in dem Verfahren S 51 AS 28/14 fordern; die Forderung des Antragstellers auf Entschädigung war entstanden und erfüllbar.
29
Die Aufrechnungserklärung erfolgte mit Schreiben der Kostenbeamtin vom 7.4.2021.
30
Auch bestand kein Aufrechnungsausschluss i.S.d. § 394 Satz 1 BGB. Es liegt keine Aufrechnung gegen eine unpfändbare Forderung vor.
31
Gem. § 850a Nr. 3 ZPO sind unpfändbar u.a. Aufwandsentschädigungen, soweit diese Bezüge den Rahmen des Üblichen nicht übersteigen. Nach der Rechtsprechung des BGH hat diese Regelung ihren Grund darin, dass die Aufwandsentschädigungen in Wirklichkeit kein Entgelt für eine Arbeitsleistung darstellen, sondern den Ersatz für tatsächlich entstandene Auslagen, für die der Empfänger der Vergütung bereits seine Gegenleistung aus seinem Vermögen erbracht hat oder noch erbringen muss. Der Schuldner soll davor geschützt werden, dass ihm der Gegenwert für seine tatsächlichen Aufwendungen durch die Pfändung noch einmal entzogen und dass ihm damit letztlich die Fortführung seiner Tätigkeit unmöglich gemacht wird, weil er die dafür erforderlichen Auslagen nicht mehr aufbringen kann (BGH, Beschluss vom 6.4.2017, Az. IX ZB 40/16, Rn. 10 m.w.N.). Darauf, wie die Zahlung in der Abrechnung bezeichnet wird, kommt es nicht an, sondern allein darauf, ob nach der vertraglichen Vereinbarung oder der gesetzlichen Regelung der Zweck der Zahlung ist, tatsächlichen Aufwand des Schuldners auszugleichen. Kein Aufwand im Sinne der Regelung liegt vor, wenn die Tätigkeit des Schuldners selbst vergütet werden soll (BGH, ebenda, Rn. 11). Grundsätzlich ist zu unterscheiden, ob ein tatsächlich entstandener Aufwand abgegolten oder Verdienstausfall ausgeglichen werden soll. Letzterer ersetzt das Arbeitseinkommen und ist deswegen grundsätzlich pfändbar (BGH, ebenda, Rn. 13).
32
Vorliegend geht es um eine Entschädigung des Antragstellers wegen Nachteilsausgleich und nicht um eine Aufwandsentschädigung (etwa Fahrkosten). Somit handelt es sich bei der Forderung des Antragstellers um keine unpfändbare Forderung. Ein Aufrechnungsausschluss wegen Unpfändbarkeit besteht daher nicht (vgl. auch SG Potsdam, Beschluss vom 28.9.2020, Az. S 30 SF 198/20 F).
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Die Aufrechnung ist daher zulässig und wirksam.
34
Infolge der wirksamen Aufrechnung war die Entschädigung des Antragstellers für seine Heranziehung am 9.12.2020 im Verfahren S 33 U 644/18 auf 0,00 € festzusetzen.
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Die Entscheidung ergeht kosten- und gebührenfrei (§ 4 Abs. 8 JVEG).
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Die Beschwerde war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Aufrechnungsthematik zuzulassen (§ 4 Abs. 3 JVEG).