Titel:
Asyl (Herkunftsland, Nigeria), Minderjährige Klägerin, Beschneidungsgefahr (verneint), Abschiebungsverbot aufgrund kindlicher Entwicklungsstörung (verneint)
Normenketten:
AsylG § 3
AsylG § 3e
AsylG § 4
AufenthG § 60 Abs. 5
AufenthG § 60 Abs. 7
Schlagworte:
Asyl (Herkunftsland, Nigeria), Minderjährige Klägerin, Beschneidungsgefahr (verneint), Abschiebungsverbot aufgrund kindlicher Entwicklungsstörung (verneint)
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Urteil vom 03.04.2025 – 7 B 22.30061
Fundstelle:
BeckRS 2021, 68794
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
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Die Klägerin wurde am … … 2017 in der Bundesrepublik Deutschland als Tochter nigerianischer Asylbewerber geboren. Am 11. Dezember 2017 wurde für sie beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (ab hier kurz: Bundesamt) ein Asylantrag gestellt.
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Die Mutter der Klägerin verzichtete am selben Tag als deren gesetzliche Vertreterin auf eine persönliche Anhörung zu den Asylgründen der Klägerin. In ihrem eigenen Asylverfahren (Geschäftszeichen: …*) hatte sie am 12. September 2017 im Wesentlichen folgende Angaben gemacht: Sie gehöre zur Volksgruppe Bini/Edo und habe in ihrer Kindheit und Jugend in Benin City im Haus ihres Vaters gewohnt. Auch heute noch lebten dort ihre Eltern und ihre zehn Geschwister (fünf Brüder, fünf Schwestern). Später habe sie mit einer Freundin in der Innenstadt ein kleines Appartement bewohnt. In dieser Zeit sei sie als … berufstätig gewesen. Nigeria habe sei am 25. Dezember 2011 auf dem Luftweg verlassen. Danach habe sie 4 Jahre und 9 Monate in Frankreich verbracht. Von dort aus habe sie mehrfach versucht, mit dem Flixbus über die Schweiz nach Deutschland zu kommen. Ihr Partner, Herr L* … E* … …, habe bei einem dieser Einreiseversuche in der Schweiz einen Asylantrag gestellt und warte derzeit auf das Ergebnis. Sie habe in Frankreich und in Italien bereits Asylverfahren durchlaufen. In Frankreich habe sie ein Interview gehabt, in welchem sie eine unwahre Geschichte erzählt habe. Sie habe gesagt, dass auf ihre Kirchengemeinde ein Bombenanschlag verübt worden sei; das habe aber nicht gestimmt. Der wahre Grund für ihre Ausreise sei gewesen, dass ein Mann, den sie in Benin City kennengelernt habe, ihr Arbeit in Europa in Aussicht gestellt habe. Für die Reise nach Europa habe sie 60.000 Euro bezahlen sollen, sobald sie in Europa angekommen sein würde. Sie habe von vornherein gewusst, dass sie dafür als Prostituierte arbeiten sollte. Sie habe in Frankreich über 4 Jahre und 9 Monate in … auf der Straße als Prostituierte gearbeitet und ihre Schulden damit auf 30.000 Euro zurückgeführt. Eines Tages sie sie nachts heimlich fortgegangen. Ihr Freund, den sie in Frankreich kennengelernt hatte, habe ihr helfen können, da er mit der Prostitution nichts zu tun hatte. Zu ihrer Familie im Heimatland pflege sie weiterhin Kontakt. Im Falle einer Rückkehr nach Nigeria fürchte sie, mit der Familie des Mannes Schwierigkeiten zu bekommen, dem sie die Abzahlung der 60.000 Euro versprochen habe. Zur Genitalbeschneidung bei Mädchen und Frauen (FGM) führte sie aus, dass sie diese nicht gut finde. Sie würde ihre Tochter in Nigeria auf keinen Fall beschneiden lassen. Sie wäre natürlich auch in der Lage, ihre Tochter davor zu schützen, dass es jemand anderes gegen ihren Willen durchführen würde. Was der Vater des Kindes denke, wisse sie nicht; sie sei aber der Meinung, dass er ihre ablehnende Meinung respektieren würde.
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Mit Bescheid vom 15. Januar 2018 lehnte das Bundesamt den Asylantrag der Klägerin ab (Nr. 1 bis 3) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vorlägen (Nr. 4). Der Klägerin wurde die Abschiebung nach Nigeria angedroht (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate befristet (Nr. 6). Der Klägerin drohe nach dem Vorbringen ihrer Mutter keine Genitalbeschneidung. Es sei auch davon auszugehen, dass die Klägerin in Nigeria durch ihre Mutter versorgt werden könne, die bereits vor ihrer Ausreise in der Lage gewesen sei, ihren Lebensunterhalt sicherzustellen und über ein gutes familiäres Netzwerk verfüge. Auch der Vater der Klägerin könne zum Lebensunterhalt der Familie beitragen.
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Die Klägerin hat am 1. Februar 2018 Klage erhoben. Sie beantragt,
I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Gz. …*) vom 15.01.2018 wird in Ziff. 1., 3.-6. aufgehoben.
II. Die Beklagte wird verpflichtet, die Klägerin als Flüchtling anzuerkennen und festzustellen, dass die Voraussetzungen von § 3 AsylG vorliegen,
hilfsweise: der Klägerin subsidiären Schutz zu gewähren festzustellen, dass die Voraussetzungen von § 4 AsylG vorliegen
festzustellen, dass im Falle der Klägerin die Voraussetzungen von § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen.
III. Die Beklagte wird verpflichtet, das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gem. § 11 Abs. 1 AufenthG auf 0 Monate ab dem der Abschiebung befristet.
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Zur Begründung wird im Wesentlichen vorgetragen, dass die Eltern der Klägerin nicht in der Lage seien, diese in Nigeria vor der Genitalverstümmelung zu schützen, die in den Großfamilien beider Elternteile praktiziert werde. Zudem sei der Vater der Klägerin in Gefahr, weil er in Nigeria von einer Gruppe namens „Black Axe Confraternity“ verfolgt werde, deren Mitglied er früher gewesen sei. Ferner leide die Klägerin an einer Sprachentwicklungsstörung und bedürfe deshalb einer speziellen Frühförderung, um die Defizite aufzuholen. Hierzu wurde ein Arztbrief des Universitätsklinikums E* … vom 17. September 2020 vorgelegt, auf den wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird. In Nigeria könnte sie eine solche Förderung nicht erhalten, sodass die Gefahr bestehe, dass sie lebenslang im Alltag auf Unterstützung angewiesen wäre. Die Eltern wären in Nigeria mit der Betreuung der Klägerin neben ihren anderen Kindern überfordert, sodass es ihnen nicht möglich wäre, das Existenzminimum der Familie zu sichern.
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Mit Beschluss vom 24. Juni 2021 hat die Kammer den Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen. Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die beigezogenen Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung internationalen Schutzes gemäß §§ 3 ff., § 4 AsylG oder darauf, dass die Beklagte für sie ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG feststellt (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Bescheid ist auch insoweit rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, als das Bundesamt ihr die Abschiebung nach Nigeria angedroht und ein bedingtes Einreise- und Aufenthaltsverbot für 30 Monate angeordnet hat (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Die Eltern der Klägerin haben sich im gerichtlichen Verfahren im Kern darauf berufen, dass die Klägerin im Falle einer Rückkehr nach Nigeria aufgrund des Drucks ihrer jeweiligen Großfamilien einer Genitalverstümmelung unterzogen würde. Dieses Vorbringen rechtfertigt die mit der Klage verfolgten Ansprüche nicht.
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Eine von Seiten der Großfamilie oder des sonstigen sozialen Umfelds tatsächlich und konkret drohende Genitalbeschneidung wäre als nichtstaatliche, an das Geschlecht anknüpfende Verfolgungsmaßnahme i.S.d. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG zu werten. Soweit in Herkunftsstaaten von Asylsuchenden die Genitalbeschneidung von Mädchen und Frauen tatsächlich praktiziert wird, kann für weibliche Asylsuchende eine relevante Verfolgung durch private Akteure i.S.d. § 3c Nr. 3 AsylG anzunehmen sein, sofern der Betroffenen in Anbetracht ihrer individuellen Umstände eine Beschneidung nach dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit tatsächlich droht und der Staat oder die ihn beherrschenden Parteien oder Organisationen erwiesenermaßen nicht willens oder nicht in der Lage sind, Schutz vor Verfolgung i.S.d. § 3d AsylG zu bieten (vgl. VG Würzburg, U.v. 21.12.2018 – W 10 K 18.31682 – juris Rn. 35 f.; VG Augsburg, U.v. 13.12.2017 – Au 7 K 17.30060 – juris Rn. 55; VG Regensburg, U.v. 28.3.2017 – RN 5 K 16.32429 – juris Rn. 17).
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Nach den Erkenntnismitteln des Gerichts ist grundsätzlich auch davon auszugehen, dass es in Nigeria trotz des in dreizehn Bundesstaaten geltenden gesetzlichen Verbots und der verstärkten Bemühungen der staatlichen Institutionen, Genitalbeschneidungen von Mädchen und Frauen zu unterbinden, weiterhin zu traditionellen Genitalbeschneidungen bei Mädchen und Frauen (FGM) kommt. Die Prävalenz der FGM ist jedoch seit Jahren stark rückläufig. Bei landesweiter Betrachtung liegt sie in den jüngeren Altersgruppen nur noch in einer Größenordnung von 10 bis 15 Prozent (vgl. EASO, Country Guidance: Nigeria, 02/2019, S. 63; EASO, Country of Origin Information Report: Nigeria, Targeting of Individuals, 11/2018, S. 131). Es bestehen allerdings große Unterschiede je nach Region, Volksgruppe und Bildungsstand, zwischen Stadt und Land und schließlich auch hinsichtlich des Höchstalters, in dem Mädchen und jungen Frauen noch eine Genitalverstümmelung droht. Im Bundesstaat Lagos gilt die Praktik als nahezu ausgestorben (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Informationszentrum Asyl und Migration – weibliche Genitalverstümmelung – Formen, Auswirkungen, Verbreitung, Asylverfahren – April 2010, S. 44). Über die Beschneidung eines Kindes entscheiden in aller Regel die Eltern. Nur in Ausnahmefällen kommt es vor, dass andere Verwandte als die Eltern versuchen, auf diese bei der Entscheidungsfindung Einfluss zu nehmen (vgl. EASO, Country of Origin Information Report – Nigeria Country Focus, 06/2017, S. 41).
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Hiervon ausgehend ist es nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerin in Nigeria einer Genitalverstümmelung unterzogen werden würde. Ihre Eltern haben eindeutig und glaubhaft zum Ausdruck gebracht, diese Tradition abzulehnen. Dass die übereinstimmende Haltung der Eltern von Verwandten missachtet würde, kann zwar nicht völlig ausgeschlossen werden, gilt aber jedenfalls als äußerst ungewöhnlich (vgl. EASO, Country Guidance: Nigeria, 02/2019, S. 63). Im Einzelfall, etwa bei alleinstehenden Müttern mit unehelichen Kindern, mag der Einfluss des unmittelbaren sozialen Umfelds in dieser Frage stärker zu gewichten sein. Vorliegend gibt es ausgehend von der Erkenntnislage aber keine überzeugenden Gründe für die Annahme einer solchen Ausnahmekonstellation, in der Familienmitglieder so maßgeblichen Einfluss auf eine mögliche Beschneidung eines Kindes ausüben könnten, dass sich die Eltern dagegen nicht würden behaupten können. Diese Einschätzung wird bestätigt durch die Äußerungen der Mutter der Klägerin in ihrer Anhörung beim Bundesamt, in der sie mit Bestimmtheit angegeben hat, sie wäre „natürlich“ in der Lage, ihre Tochter vor einer Beschneidung zu bewahren. Wenn es verboten sei, dann sei es eben verboten. Mit Blick hierauf überzeugt es nicht, wenn sie nunmehr angibt, in dieser Frage keinen Einfluss zu haben. Die Behauptung, sie hätte bei der Anhörung durch das Bundesamt lediglich nicht verstanden, wovon die Rede gewesen sei, ist als offensichtlich unglaubhafte Ausflucht zu werten. Laut der maßgeblichen Passage des von ihr nach Rückübersetzung gebilligten Anhörungsprotokolls war sie explizit nach der traditionellen Genitalbeschneidung (FGM) gefragt worden. In ihrer Antwort hat sie zudem (zutreffend) auf das gesetzliche Verbot der Beschneidung Bezug genommen.
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Selbstständig tragend kann das Risiko einer Beschneidung jedenfalls dann mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, wenn sich die betreffende Familie sich – im Sinne einer inländischen Fluchtalternative (§ 3e AsylG) – fernab derjenigen Mitglieder Großfamilie niederlassen kann, von denen die Gefahr einer Beschneidung ausgehen könnte. Darauf muss sich die Klägerin verweisen lassen. Es ist nicht anzunehmen, dass es etwa in der Anonymität einer Großstadt wie Lagos, wo die Beschneidung heutzutage als absolute Ausnahme und aussterbende Tradition gilt (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Informationszentrum Asyl und Migration – weibliche Genitalverstümmelung – Formen, Auswirkungen, Verbreitung, Asylverfahren – April 2010, S. 44) gegen den Willen der Eltern zu einer Beschneidung der Klägerin kommen würde.
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Der Klägerin ist es unter Berücksichtigung ihrer individuellen Situation auch zumutbar, sich in einem für sie sicheren Landesteil Nigerias niederzulassen. Insbesondere ist davon auszugehen, dass ihre Eltern im Fall einer Rückkehr in der Lage wären, an einem neuen Wohnort das notwendige Existenzminimum für sich und ihre Kinder zu erwirtschaften (vgl. zur Prognose der gemeinsamen Rückkehr BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45/18 – juris).
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Insoweit berücksichtigt das Gericht, dass es in Nigeria angesichts der Wirtschaftslage und der Bedeutung großfamiliärer Bindungen nicht leicht ist, an einem neuen Wohnort ohne familiäres Netzwerk erfolgreich sozial Fuß zu fassen (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Nigeria, Stand 11/2020, S. 66). Hieraus folgt jedoch nur in eng umgrenzten Ausnahmefällen die Unzumutbarkeit des internen Schutzes, wenn zu erwarten ist, dass dem Betroffenen am Zielort das elementare wirtschaftliche Existenzminimum nicht zur Verfügung stehen würde oder eine anderweitige schwerwiegende Verletzung grundlegender Rechte oder eine sonstige unerträgliche Härte droht. Dabei sind die Maßstäbe des § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG mit denen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zur Deckung zu bringen. Notwendig, aber auch ausreichend ist, dass das wirtschaftliche Existenzminimum am Ort des internen Schutzes auf einem Niveau gewährleistet ist, das eine Verletzung des Art. 3 EMRK nicht besorgen lässt (vgl. BVerwG, U.v. 18.2.2021 – 1 C 4/20 – NVwZ 2021, 878 Ls. 2, Rn. 34 ff.).
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Einen solchen, eng zu handhabenden Ausnahmefall kann die Klägerin nicht in Anspruch nehmen. In Nigeria ist die allgemeine humanitäre Situation zwar schwierig, aber nicht so extrem, dass einer Abschiebung generell die Garantie des Art. 3 EMRK entgegengehalten werden könnte. Im Grundsatz ist vielmehr davon auszugehen, dass Rückkehrer dort insbesondere in den Großstädten des Landes mit einer unüberschaubaren Vielzahl von Erwerbsmöglichkeiten ökonomisch eigenständig überleben können, selbst wenn sie in keinem Familienverband sozialen Rückhalt finden (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Nigeria, Stand 11/2020, S. 71). Es ist nicht einmal ohne weiteres anzunehmen, dass alleinstehende und alleinerziehende Frauen mit kleinen Kindern nicht in der Lage wären, Arbeit finden und den Familienunterhalt selbst zu erwirtschaften (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Republik Österreich, a.a.O. S. 54, 71). Gerade bei Tätigkeiten im informellen Sektor, auf den die meisten Nigerianer zur Existenzsicherung angewiesen sind, kommt es durchaus in Betracht, dass beaufsichtigungsbedürftige Kinder mit zur Arbeit genommen werden bzw. die Erwerbstätigkeit und die Kinderbetreuung miteinander verbunden werden. Ferner kann nach den landesüblichen Gepflogenheiten bei der Kinderbetreuung oftmals auf die Unterstützung des familiären bzw. großfamiliären Umfelds zurückgegriffen werden.
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An dieser Einschätzung der wirtschaftlichen Lebensbedingungen hält das Gericht auch unter Berücksichtigung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie fest. Nach den in das Verfahren einbezogenen Erkenntnismitteln herrscht im Wirtschaftsleben Nigerias weitgehend wieder Normalität. Private Unternehmen, Restaurants und Freizeiteinrichtungen sind unter Hygieneauflagen geöffnet. Seit dem zweiten Halbjahr des Jahres 2020 erholt sich die Konjunktur nach einer auf fallende Rohölpreise und Einschränkungen der Mobilität in der ersten Phase der Pandemie im Frühjahr 2020 zurückgeführten ökonomischen Kontraktion. Für 2021 wird ein Wirtschaftswachstum von 2,2 Prozent erwartet (vgl. zum Ganzen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderinformation COVID-19-Pandemie, Stand 06/2020; EASO Special Report – Asylum Trends and COVID-19, Stand 06/2020; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Republik Österreich, Kurzinformation der Staatendokumentation Afrika, COVID-19 – aktuelle Lage, Stand 06/2020; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Nigeria, Country of Origin Information, Stand 11/2020, S. 5 f.). Belastbare Hinweise auf eine erhebliche und flächendeckende Verschlechterung der Versorgungslage gibt es nicht.
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Vor diesem Hintergrund ist nicht davon auszugehen, dass der intakte Kernfamilienverband der Klägerin in Nigeria von menschenrechtswidriger Verelendung bedroht wäre (vgl. zur Prognose einer gemeinsamen Rückkehr BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45/18 – NVwZ 2020, 158). Außergewöhnliche, zwingende Umstände, aufgrund deren angenommen werden müsste, dass gerade die Eltern der Klägerin nicht in der Lage sein würden, für sich und ihre Kinder in Nigeria zumindest auf dem Niveau des elementaren Existenzminimums zu sorgen, sind weder vorgetragen noch sonst erkennbar. Beide Elternteile sind jung und arbeitsfähig. Es ist auch nicht ersichtlich, dass sie an gesundheitlichen Beschwerden litten, die ihnen die Aufnahme von Erwerbsarbeit wesentlich erschweren oder unmöglich machen würden. Unter Berücksichtigung der durchschnittlichen Geburtenrate von 5,7 Kindern pro Frau (vgl. EASO, Country of Origin Information Report Nigeria – Key socio-economic indicators, S. 17) ist auch unter Einbeziehung des Unterhaltsbedarfs der Geschwister der Klägerin nicht zu besorgen, dass die Familie nach einer Rückkehr in eine existenzbedrohende Notlage geraten würde. Erforderlichenfalls müssen sich die Eltern der Klägerin bei der Kinderbetreuung in einer Weise abwechseln, die beiden die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ermöglicht. Auch dass die Klägerin laut der vorgelegten ärztlichen Stellungnahme an einer Sprachentwicklungsstörung leidet und deshalb besonderer Fürsorge bedarf, begründet keine durchgreifenden Zweifel daran, dass der Lebensunterhalt der Familie zumindest auf dem menschenrechtlich erforderlichen Mindestniveau gesichert werden kann. Es ist insbesondere nicht ersichtlich, dass der derzeitige Betreuungsbedarf der Klägerin sich wesentlich von dem eines durchschnittlichen Kindes unterscheidet, das aufgrund seines jüngeren Lebensalters noch auf einer früheren Entwicklungsstufe steht. Ergänzend verweist das Gericht darauf, dass die Eltern der Klägerin Unterstützungsleistungen der Beklagten für den Neuanfang in Nigeria erhalten können, wenn sie sich zu einer freiwilligen Ausreise entschließen. Die Rückkehr nach Nigeria wird insbesondere durch die Programme REAG/GARP und „Starthilfe Plus“ gefördert (vgl. https://www.returningfromgermany.de/en/countries/nigeria/; zuletzt abgerufen am 3.9.2021).
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Ein Anspruch der Klägerin auf die Zuerkennung internationalen Schutzes gemäß §§ 3 ff., § 4 AsylG lässt sich auch nicht aus dem Vorbringen ihrer Eltern in deren jeweiligen Asylverfahren ableiten. Auch insoweit muss sich die Klägerin jedenfalls auf internen Schutz gemäß § 3e AsylG verweisen lassen. Es bestehen keine begründeten Zweifel daran, dass die Klägerin mit ihren Eltern in Nigeria einen sicheren Landesteil aufsuchen und sich dort niederlassen kann. In Nigeria, einem Land mit ca. 193 Millionen Einwohnern, besteht weder ein flächendeckendes Meldewesen noch ein landesweites Fahndungssystem. Untergetauchte Personen können in der Regel nicht einmal in der näheren Umgebung ihres Heimatortes aufgefunden werden. Staatlicher Verfolgung, Repressionen Dritter sowie regionaler Instabilität kann daher in der Regel durch Umzug in einen anderen Landesteil ausgewichen werden (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Nigeria, Stand 09/2020, S. 17; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Nigeria Stand 11/2020, S. 67). Die schon in dem Klageverfahren B 4 K 18.31939 vor dem Verwaltungsgericht Bayreuth geäußerten und in der mündlichen Verhandlung wiederholten Befürchtungen des Vaters der Klägerin, von den Mitgliedern der Organisation „Black Axe“ überall in Nigeria aufgespürt werden bzw. bei der Einreise nach Nigeria identifiziert werden zu können, finden in den Erkenntnismitteln keine Stütze. Kulte und Geheimgesellschaften sind nicht in der Lage, eine Person in ganz Nigeria zu verfolgen (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Nigeria Stand 11/2020, S. 46). Auch polizeiliche Fahndungsausschreibungen können nicht zentral überprüft werden (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 11.12.2019 an Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). Es ist zudem unplausibel und in keiner Weise substantiiert worden, dass Kultmitglieder oder staatliche Sicherheitskräfte noch 13 Jahre nach seiner Ausreise nach Nigeria aktiv bemüht wären, den Vater der Klägerin ausfindig zu machen. Es gibt im Übrigen keine Anhaltspunkte dafür, dass bei Rückkehrflügen die Möglichkeit bestünde, über geeignete Datenbanken gesuchte Personen zu identifizieren (vgl. die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 19. Februar 2019 an VG Düsseldorf).
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Aus den dargestellten Gründen ist für die Klägerin mit Blick auf die wirtschaftliche Lebenssituation in Nigeria auch kein Abschiebungsverbot aus § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG festzustellen. Dass die voraussichtliche wirtschaftliche Situation der Klägerin eine Verletzung des Art. 3 EMRK nicht besorgen lässt, wurde bereits ausgeführt. Ist ein Abschiebungsverbot aus § 60 Abs. 5 AufenthG aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Lebensverhältnisse in Nigeria somit zu verneinen, so scheidet insoweit auch die Feststellung eines Abschiebungsverbotes in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aus. Denn hinsichtlich allgemeiner Gefahren, die einer Vielzahl von Personen gleichermaßen drohen, sind die Anforderungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (eine mit hoher Wahrscheinlichkeit drohende Extremgefahr) höher als jene des § 60 Abs. 5 AufenthG (vgl. BayVGH, U.v. 6.7.2020 – 13a B 18.32817 – juris Rn. 37).
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Ein Abschiebungsverbot ergibt sich auch nicht aus der gesundheitlichen Situation der Klägerin.
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Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers abgesehen werden, wenn im Zielstaat für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot kann sich bei Vorlage entsprechender ärztlicher Bescheinigungen (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 2 i.V.m. § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG) auch aus der Krankheit eines Ausländers ergeben. Erforderlich ist insoweit, dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung durch zielstaatsbezogene Umstände alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht (vgl. BVerwG, U.v. 17.10.2006 – 1 C 18.05 – juris Rn. 15; BayVGH, U.v. 23.9.2019 – 8 B 19.32560 – juris Rn. 16). Die Gefahr der wesentlichen Verschlimmerung einer Erkrankung kann insbesondere auf unzureichenden Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat beruhen oder darauf, dass im Abschiebezielstaat Behandlungsmöglichkeiten zwar vorhanden, für den betreffenden Ausländer aber aus finanziellen oder sonstigen persönlichen Gründen nicht erreichbar sind (vgl. BVerwG, B.v. 17.1.2019 – 1 B 85.18 – juris Rn. 5; BayVGH, U.v. 23.9.2019 – 8 B 19.32560 – juris Rn. 17). Von einer abschiebungsschutzrelevanten Verschlechterung des Gesundheitszustandes kann nicht schon dann gesprochen werden, wenn eine Besserung oder Heilung eines Krankheitszustandes des Ausländers im Abschiebungsfall nicht zu erwarten ist; eine solche Gefahr ist auch nicht schon bei jeder befürchteten ungünstigen Entwicklung des Gesundheitszustandes anzunehmen, sondern nur, wenn außergewöhnlich schwere körperliche oder psychische Schäden alsbald nach der Einreise des Betroffenen in den Zielstaat drohen (vgl. BayVGH, U.v. 23.9.2019 – 8 B 19.32560 – juris Rn. 16 m.w.N.).
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Weitergehende Anforderungen ergeben sich auch nicht aus § 60 Abs. 5 i.V.m. Art. 3 EMRK. Krankheiten begründen nach der Rechtsprechung des EGMR nur in besonderen Ausnahmefällen Abschiebungsverbote, in denen eine schwerwiegende, schnelle und irreversible Verschlechterung des Gesundheitszustands mit der Folge intensiven Leids oder einer erheblichen Herabsetzung der Lebenserwartung droht.
Demgegenüber spielt es grundsätzlich keine Rolle, ob die medizinische Versorgung im Bestimmungsland gleichwertig oder schlechter ist als das Gesundheitssystem im Ausweisestaat; Art. 3 EMRK garantiert nicht das Recht, im Heimatland eine besondere Behandlung zu erhalten, die dort der Bevölkerung nicht zur Verfügung steht (vgl. Dörig, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Aufl. 2020, § 19 Rn. 286 f. m.w.N.).
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Nach § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG ist eine der Abschiebung entgegenstehende Erkrankung durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft zu machen. Eine solche Bescheinigung soll insbesondere enthalten die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Diagnose, den Schweregrad der Erkrankung sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben. Durch das Zweite Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht (15.8.2019, BGBl. I, S. 1294) wurde § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 im Rahmen der Feststellung von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG für entsprechend anwendbar erklärt.
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Gemessen an diesen strengen Anforderungen führen die vorgetragenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Klägerin nicht zum Vorliegen eines Abschiebungsverbotes. Nach dem vorgelegten Arztbrief des Universitätsklinikums E* … vom 17. September 2020 ist bei der Klägerin die Sprachentwicklung rückständig. Anamnestisch auffällig seien auch die Entwicklungsbereiche Handmotorik, Kognition, und Sozialverhalten. Aufgrund dieses Befundes benötige sie eine allgemeine Frühförderung und kreative, kindgerechte Sprachanregungen zuhause. Das Gericht stellt diese fachärztliche Einschätzung nicht in Frage. Trotz der festgestellten Entwicklungsverzögerung der Klägerin ist jedoch nicht ersichtlich, dass sich der Gesundheitszustand der Klägerin im Fall einer Ausreise oder Abschiebung nach Nigeria, wo ihr die in Deutschland genutzten Betreuungs- und Förderungsangebote nicht zur Verfügung stehen würden, alsbald, konkret und erheblich in einer am Maßstab des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG gemessen abschiebungsschutzrelevanten Weise verschlechtern würde. Die insoweit erforderlichen außergewöhnlich schweren gesundheitlichen Schäden legt die ärztliche Bescheinigung nicht dar. Dass die in der Bundesrepublik zur Verfügung stehenden Mittel zur positiven Beeinflussung ihres Verhaltensrepertoires im Herkunftsland voraussichtlich nicht zur Verfügung stehen würden, reicht nicht aus. Eine sich auf die Entwicklung der Klägerin günstig auswirkende Frühförderung, die auch anderen nigerianischen Kindern in vergleichbarer Lage nicht zugänglich ist, gewährleisten weder § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK noch § 60 Abs. 7 AufenthG.
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Im Übrigen, insbesondere wegen der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG, wird auf die Begründung des Bescheides verwiesen und gemäß § 77 Abs. 2 AsylG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe abgesehen.
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Als unterliegende Beteiligte hat die Klägerin gemäß § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des Rechtsstreits zu tragen. Die Kostenentscheidung ist nach § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO für vorläufig vollstreckbar zu erklären.