Inhalt

VG Bayreuth, Urteil v. 19.03.2021 – B 10 K 18.776
Titel:

Kostenerstattung, zweitangegangener Rehabilitationsträger, Hilfe zur Erziehung, Eingliederungshilfe, wesentliche körperliche Behinderung, schwer einstellbarer Diabetes, Mellitus Typ 1

Normenketten:
SGB VIII § 35a
SGB IX § 14 Abs. 1, Abs. 4
SGB X § 102
SGB X § 111
SGB I § 43
SGB XII § 53
Schlagworte:
Kostenerstattung, zweitangegangener Rehabilitationsträger, Hilfe zur Erziehung, Eingliederungshilfe, wesentliche körperliche Behinderung, schwer einstellbarer Diabetes, Mellitus Typ 1
Fundstelle:
BeckRS 2021, 67937

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.   

Tatbestand

1
Der Kläger als Sozialhilfeträger begehrt von der Beklagten als Jugendhilfeträger Kostenerstattung für im Hilfezeitraum vom 4.8.2016 bis 31.7.2017 aufgewendete Kosten der Eingliederungshilfe nach §§ 53 ff. Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) in Höhe von 49.868,24 EUR für den Hilfeempfänger F. … (im Folgenden F.), geboren am … Ab 4.7.2013 wurde dem Hilfeempfänger auf Antrag seiner Eltern Hilfe zur Erziehung gemäß § 27 i.V.m. § 31 Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) in Form von sozialpädagogischer Familienhilfe durch das Landratsamt … (Fachbereich für Jugend und Familie) gewährt.
2
Im Ersthilfeplan der Beklagten vom 4.7.2013 ist vermerkt, dass F. seit Dezember 2012 Diabetiker ist. In der Schule sei er in der Lage, die Insulinzufuhr selbstständig zu regeln. Nachts brauche er noch die Unterstützung der Mutter, was für diese eine hohe Belastung sei.
3
Im Hilfeplan vom 29.1.2014 (S. 42 ff. der Beklagtenakte) ist die Situation des Hilfeempfängers folgendermaßen beschrieben:
„(…) F. steht nicht selbstständig auf, er bummelt morgens lang, er geht nicht raus, Hausaufgaben macht er auch nicht wirklich. Weiterhin lässt F. die Spritzen und die Teststreifen in der Wohnung rumliegen. F. geht zunehmend weniger in die Schule, seine Fehltage betragen ca. 30 im halben Jahr. (…) Ihm ist oft langweilig, er hat keine Freizeitbeschäftigung (…).
F. weigert sich oft, sich zu testen und zu spritzen. Dies ist insgesamt eine schwierige, bzw. zeitweise auch lebensbedrohliche Situation. Neben dem Diabetes wurde noch eine Depression bei ihm diagnostiziert. Diese wird zurzeit nicht behandelt, da die Behandlung der Diabetes im Vordergrund steht. Für F. ist eine Kur beantragt worden. (…). In der Familie besteht noch ein hoher Bedarf an Erziehungshilfe. Insbesondere die Situation von F., sollte sie sich nicht lösen, wird eine Gefährdung der Gesundheit für F. bedeuten.“
4
Da ab 1.4.2014 beide Elternteile in der Stadt … wohnten, wurde der Fall von der Stadt … in deren Zuständigkeit übernommen und weiterhin sozialpädagogische Familienhilfe gewährt.
5
Im Hilfeplan vom 20.11.2014 (S. 92 der Beklagtenakte) ist vermerkt:
„F. hatte in den letzten zurückliegenden Monaten mehrere Klinikaufenthalte in …, um auf ein neues Langzeitinsulin umgestellt zu werden. Des Weiteren wurde über eine Insulinpumpe gesprochen. Damit diese individuell auf die Bedürfnisse von F. eingestellt werden kann, ist eine verlässliche Dokumentation der Zuckerwerte zwingend erforderlich. Die Fehlzeit an der … Schule, die seit diesem Jahr besucht wird, hat sich etwas reduziert. (…) Frau *. (Anmerkung: Kindsmutter) bemüht sich aktiv um die gesundheitlichen Belange der Kinder. Phasenweise wirkt sie überfordert, verdrängt Verantwortlichkeiten und erstarrt im Phlegma.“
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Mit Bescheid der Beklagten vom 9.3.2015 wird mit Ablauf des 5.3.2015 die gewährte Hilfe zur Erziehung eingestellt, weil der Hilfeempfänger seine Insulinproblematik zwar kenne, sich aber dennoch nicht an ärztliche Ratschläge und Hinweise halte, die Hilfe nicht annehme. Hinsichtlich dieser bisher gewährten ambulanten Hilfen ist aus dem Stundennachweis des Jugendhilfehauses … (S. 108 ff. der Beklagtenakte) für den 18.2.2015 zu entnehmen, dass der Hilfeempfänger erst eine Insulinpumpe bekommen könne, wenn er zeige, dass er seine Krankheit ernst nehme. Für den 25.2.2015 ist eingetragen, dass F. weiterhin sehr häufig Fehlzeiten in der Schule habe, sowie, dass er seine Zuckerwerte nicht regelmäßig eintrage. Die Werte würden immer noch sehr stark schwanken.
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Aus einer Hilfeteambesprechung vom 5.4.2016 bei der Beklagten (S. 111 der Beklagtenakte) geht hervor, dass F. sich häufig schlapp fühle und über Bauchschmerzen klage, was zu Fehltagen in der Schule führe. Nach Aussage des Klassenlehrers sei die Mutter nicht konsequent genug und könne sich bei dem 15-jährigen kaum durchsetzen. Es sei bereits ein Schulzwangverfahren eingeleitet worden, sowie eine ärztliche Schulunfähigkeitsbescheinigung für jeden Tag in der Schule vorzulegen. Dem komme die Familie jedoch nicht nach. Der Hilfeempfänger habe bisher bereits zwei Klassenstufen wiederholt und beende im Juli 2016 seine Schulpflicht (…).
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Am 6.4.2016 wurde von der Kindsmutter für den Hilfeempfänger auf Empfehlung des Jugendamts der Beklagten gemäß § 27 SGB VIII ein Antrag auf Gewährung von Jugendhilfe u.a. durch Unterbringung des Hilfeempfängers in einer Schule für Diabetiker mit Internatsunterbringung gestellt.
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Mit Bescheid vom 3.5.2016 wurde dem Hilfeempfänger ab dem 6.4.2016 wiederum Hilfe zur Erziehung in Form von sozialpädagogischer Familienhilfe gewährt. Aus den Gründen des Bescheids geht hervor, dass die Eltern mit dem Verhalten und der Erkrankung des Jugendlichen an ihre Belastungsgrenzen stoßen würden und deshalb Hilfestellung, insbesondere für die weitere Schul- und Ausbildungsperspektive ihres Kindes, bräuchten.
10
Hinsichtlich des Hilfeempfängers liegt ein ärztliches Attest des Facharztes für Innere Medizin, Endokrinologie und Diabetologie. Schwerpunktpraxis für Diabetes, Herrn … (im Folgenden Herr D.) aus … vom 2.5.2016 vor (S. 124 der Beklagtenakte). Darin ist ausgeführt:
„Der Patient befindet sich in unserer fachärztlichen und diabetologischen Betreuung. Seit 12/2012 liegt bei F. ein Diabetes Mellitus Typ 1 vor. Die Erkrankung ist chronisch und bedarf einer lebenslangen Insulintherapie mit regelmäßigen Kontrollen und Anpassung der Insulindosis. Leider konnte trotz regelmäßiger Betreuung über uns und stationärer Behandlung in einer Diabetesfachklinik bisher keine zufriedenstellende Einstellung erzielt werden. Es liegen bei F. bisher keine diabetesbedingten Folgeschäden vor. Um die Entstehung von Folgeschäden zu vermeiden, ist dringend eine Verbesserung der Einstellung erforderlich. Deshalb ist aus ärztlicher Sicht die Aufnahme von F. im Internat in … zu befürworten.“
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Am 9.5.2016 (vgl. S. 125 der Beklagtenakte) wurde von den Eltern bei der Beklagten ein Antrag auf Gewährung von Jugendhilfe gemäß § 35a SGB VIII in Form der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche für F. gestellt. F. benötige aufgrund seiner Erkrankung (Diabetes Typ 1) eine intensive Betreuung. Eine ambulante Betreuung sei in diesem Umfang nicht leistbar, sodass eine Internatsunterbringung notwendig sei, um den Hilfeempfänger in Bezug auf seine Erkrankung und seinen künftigen Lebensweg, insbesondere der Schul- und Ausbildung zu unterstützen.
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Mit Schreiben vom gleichen Tag wurde dieser Antrag von der Beklagten an den Kläger weitergeleitet. Der Kläger sei der zuständige Rehabilitationsträger gemäß § 14 Abs. 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX). Bei dem an Diabetes Mellitus erkrankten Hilfeempfänger liege eine körperliche Behinderung im Sinn des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX vor, die seine Fähigkeit, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, wesentlich einschränke. Er nehme seine Erkrankung nicht ernst. Es seien Folgeschäden zu befürchten.
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Aus der Dokumentation des Hilfeplangesprächs vom 19.5.2016 bei der Beklagten ergibt sich Folgendes (S. 133 ff der Beklagtenakte):
„Gesundheit: F. ist seit vier Jahren Diabetiker Typ 1. Mittlerweile ist der Jugendliche gut eingestellt und weiß über sein Krankheitsbild gut Bescheid. F. ist regelmäßig in der Praxis Dr. D. … in Behandlung. Anfang Mai war sein Krankheitszustand wieder kritisch. F. … erlitt eine Acetonvergiftung und musste medizinisch stationär behandelt werden. Seine Werte sind häufig schwankend. Die Testung seiner Blutwerte übernimmt der Jugendliche weitgehend eigenständig, jedoch nicht immer rechtzeitig. Nachts sind teilweise zwei bis drei Testungen notwendig, die die Kindsmutter übernimmt. Aufgrund des lethargischen Verhaltens des Jugendlichen stößt die Kindsmutter jedoch an ihre Belastungsgrenze. Sie unterstützt den Hilfeempfänger bei der Krankheitsbewältigung im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Eine Aufnahme im Internat für diabeteserkrankte Kinder und Jugendliche in … ist für den 27.6.2016 geplant.“
Emotionaler und sozialer Bereich: Der Hilfeempfänger beschreibt sich als eher ruhigen Jugendlichen. Jedoch sei er bei provokantem Verhalten gegenüber seiner Person schnell gereizt und werde aggressiv. Es kam bereits vor, dass der Hilfeempfänger die Impulskontrolle verlor und eine Tür eintrat.
Schule: Beim Hilfeempfänger sind nach wie vor Schulversäumnisse zu verzeichnen. Das Klassenziel wird voraussichtlich nicht erreicht. Dem Jugendlichen fällt es nach wie vor schwer, morgens aufzustehen. Er fühlt sich des Öfteren unwohl und verbleibt ohne ärztliche Abklärung zu Hause (…)“
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In der Klägerakte (S. 47) befindet sich ein vom Kläger angefordertes weiteres ärztliches Attest des o.g. Facharztes Herrn D. vom 3.6.2016: Darin ist u.a. ausgeführt:
„Um die Entstehung von Folgeschäden zu vermeiden, ist dringend eine Verbesserung der Einstellung erforderlich. F. hatte mehrere ketoazidiotische Entgleisungen mit stationärem Aufenthalt. Der Umgang mit der Erkrankung ist bedenklich. Eine familiäre Unterstützung ist nicht ausreichend gewährleistet. Die Aufnahme von F. im Internat … ist dringend erforderlich, um F. psychisch zu stabilisieren und einen sicheren Umgang mit der Erkrankung zu gewährleisten. Ansonsten drohen lebensbedrohliche Situationen.“
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In der Klägerakte (S. 56) befindet sich noch ein ärztliches Attest des o.g. Facharztes, Herrn D., vom 17.6.2016. Ergänzend zum Attest vom 3.6.2016 ist ausgeführt:
„F. ist nicht einstellbar, da er seine chronische Erkrankung ausnutzt, um auf sich aufmerksam zu machen und vor allem der Schule fernzubleiben. Intensive Gespräche führten zu keiner Verbesserung des Verhaltens. Die Eltern leben getrennt. Die Mutter ist mit der Situation überfordert. (…) Zum Vater besteht kein enger Kontakt.“
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Eine vom Kläger angeforderte Stellungnahme der Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Dr. …, aus … vom 1.7.2016 (Klägerakte S. 57) bestätigt, dass der Hilfeempfänger aufgrund folgender Störungen bis vor zwei Jahren in Behandlung gewesen sei: Anpassungsstörung F 43.2, Enuresis F 98.8, Enkopresis F 98.1. Diese Störungsbilder seien nicht der Grund dafür, dass seine Diabeteserkrankung so schwer einstellbar sei.
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Aus dem Nachweis für ambulante Leistungen vom Juni 2016 ergibt sich für den 17.6.2016, dass F. … immer noch zu oft in einem kritischen Gesundheitszustand sei. Seine Mutter vermute, er führe diesen selbst herbei, um nicht in die Schule zu müssen. Sie fühle sich überfordert und könne oft keinen Einfluss auf F. nehmen. Am 21.6.2016 ist vermerkt, dass F. weiterhin die Schule verweigere und versuche, seine Krankheit zu instrumentalisieren. Am 30.6.2016 ist vermerkt, dass F. sich wieder nicht an Abmachungen halte (S. 142 der Beklagtenakte).
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Mit Bescheid vom 19.7.2016 wurde die bisher gewährte Hilfe zur Erziehung in Form von sozialpädagogischer Familienhilfe mit Ablauf des 31.7.2016 wegen der Aufnahme des Hilfeempfängers in ein Internat für diabeteserkrankte Kinder und Jugendliche zum 5.8.2016 eingestellt.
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Mit Schreiben vom 27.7.2016 (S.144 der Beklagtenakte) lehnte der Kläger die Übernahme des Falles in seine Zuständigkeit ab. Die Maßnahme der Eingliederungshilfe nach § 53 SGB XII käme im Fall des Hilfebedürftigen nicht in Betracht. Aus den vorliegenden Unterlagen sowie der Stellungnahme der Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie Frau Dr. … gehöre F. aufgrund einer Anpassungsstörung, der Enuresis diurna sowie der Enkopresis zum Personenkreis nach § 35 a SGB VIII i. V. m. § 2 SGB IX. Der insulinpflichtige Diabetes Mellitus Typ 1 sei keine wesentliche Behinderung im Sinne des § 53 SGB XII i. V. m. § 2 Abs. 1 SGB IX. Es sei eine Erkrankung, die unbestritten schwerwiegend sei und ein konsequentes Management erfordere, um Stoffwechselentgleisungen und die damit verbundenen Spätfolgen, eventuell sogar lebensbedrohliche Zustände zu verhindern. Aufgrund der Überforderung der Mutter sei von deren Seite keine Unterstützung zu erwarten. Es seien jedoch keine kognitiven Einschränkungen festzustellen, die es dem Hilfebedürftigen nicht möglich machen würden, einen konsequenten Umgang mit der Erkrankung Diabetes zu erlernen. Das Ziel der Internatsunterbringung sei die Hilfestellung zur psychischen Stabilisierung und zum Erlernen eines verantwortungsvollen Umgangs mit dem Diabetes. Eine Maßnahme der Eingliederungshilfe nach § 53 SGB XII sei daher nicht gegeben. Deshalb könne auch keine Konkurrenz nach § 10 Abs. 4 SGB VIII, die eine Vor- und Nachrangregelung erforderlich machen würde, angenommen werden.
20
Der mit der Bedarfsprüfung beauftragte sozialpädagogisch medizinische Dienst (SMD) des Klägers (vgl. S. 59 der Klägerakte) stellte am 7.7.2016 u.a. fest, dass bei F. die Gefahr einer ständigen Stoffwechselentgleisung bestehe und damit die absichtliche Herbeiführung einer lebensbedrohlichen Situation. Auf Grund der bereits vorliegenden Folgen, d.h. Schulverweigerung, Verweigerung von sozialen Kontakten, Isolierung, selbstschädigendem Verhalten i.V.m. Fehlen von elterlicher Unterstützung auf Grund von eigener Überforderung würde eine stationäre „EH“ empfohlen.
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Mit Bescheid vom gleichen Tag (S. 62 der Klägerakte) gewährte der Kläger als zweitangegangener Rehabilitationsträger ab 4.8.2016 bis 31.7.2017 vorläufig die Leistungen für die Betreuung des Hilfeempfängers zur Sicherstellung einer angemessenen Schulbildung gemäß SGB VIII u.a. Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Menschen zum Besuch einer Förderschule (Internat) sowie Hilfe zum Lebensunterhalt in Einrichtungen und in Form eines angemessenen Barbetrags. Er sehe aber die Zuständigkeit der Beklagten als gegeben und werde für die Zeit ab 4.8.2016 Kostenerstattung geltend machen und um die Fallübernahme in eigener Zuständigkeit der Beklagten bitten.
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Mit Schriftsatz vom 4.8.2016 lehnte die Beklagte die Kostenerstattung sowie die Fallübernahme ab (S. 146 der Beklagtenakte). In der Orientierungshilfe der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe zum Behindertenbegriff nach SGB IX und XII vom 24.11.2009 (BAGüS) gehörten zu den nach § 1 EinglHV körperlich wesentlich behinderten Menschen unter 5.1.3 Personen, deren Leistungsvermögen infolge Erkrankung, Schädigung oder Fehlfunktion eines inneren Organs in erheblichem Umfang eingeschränkt ist – auch Menschen mit schwer einstellbarem Diabetes Mellitus. Nach der vorliegenden fachärztlichen Bescheinigung vom 2.5.2016 habe trotz regelmäßiger Betreuung und stationärer Behandlung in einer Diabetes-Fachklinik beim Hilfeempfänger bisher keine zufriedenstellende Einstellung erreicht werden können. Es handele sich somit bei der Behinderung des Hilfeempfängers um schwer einstellbaren Diabetes Mellitus. Der Hilfeempfänger gehöre damit zum Personenkreis der Leistungsberechtigten nach § 53 SGB XII i. V. m. § 2 SGB IX. § 10 Abs. 4 SGB VIII sei demnach anzuwenden.
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In den Klägerakten finden sich zwei Leistungsbeschreibungen für die vom Hilfebedürftigen besuchte Einrichtung (Stand Juli 2014 sowie Stand Juni 2018), die sich inhaltlich im Wesentlichen decken. Die Hauptspezialisierung des Jugendhauses liege bei der Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit Diabetes Mellitus Typ 1. Das heilpädagogische Ziel sei die individuelle Förderung der körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Entwicklung, um ein eigenverantwortliches und gelingendes Leben mit der chronischen Erkrankung bzw. eine erfolgreiche Reintegration in die Herkunftsfamilie zu ermöglichen. Die Selbstbehandlung des Diabetes Mellitus sei eine komplexe, alle Aktivitäten des täglichen Lebens durchdringende Aufgabe; bei knapp 1% der Kinder und Jugendlichen scheitere die Krankheitsbewältigung und ausreichende Stoffwechselführung trotz Ausschöpfung ambulanter und kurzstationärer Maßnahmen z.B. auch wegen ungünstiger familiärer Interaktionen und auch schlicht einer Überforderung der Managementfähigkeiten in der Familie. Die Kombination von psychosozialen und körperlichen Beeinträchtigungen würde die gesamte Entwicklung der Jugendlichen in dem Maß gefährden, dass seelische und körperliche Behinderungen in der Regel drohen würden, bzw. sich bereits manifestiert hätten. Die heilpädagogische Jugendhilfeeinrichtung lege den Schwerpunkt ihrer Arbeit im Bereich des Angebots der stationären Erziehungshilfe auf die Prävention und Überwindung von durch die chronische Erkrankung bedingter Benachteiligung der altersgerechten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und ebenso verursachte Beeinträchtigungen in der gesamten persönlichen Entwicklung. Rechtliche Grundlage für die Aufnahme in die Einrichtung sei unter anderem § 35 a SGB VIII, Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche. Über Einzelfallregelungen sollen auch Jugendliche im Rahmen der Eingliederungshilfe gemäß §§ 53 bis 54 SGB XII aufgenommen werden.
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Mit Schriftsatz vom 24.8.2017 (S. 148 der Beklagtenakte) forderte der Kläger als zweitrangig angegangener Rehabilitationsträger erneut die Erstattung der in der Zeit ab 4.8.2016 übernommenen Kosten der Internatsunterbringung im Jugendhaus „…“ in … F. gelinge es, in der Einrichtung die Stoffwechselsituation zu kontrollieren, zu protokollieren und Insulinanpassungen vorzunehmen. Lediglich, wenn er sich außerhalb der Planstrukturen der Einrichtung, zum Beispiel in Beurlaubung bei seiner Mutter, befinde, lägen die Blutzuckerwerte außerhalb des Zielbereiches und es erfolge eine unzureichende Dokumentation. Somit handele es sich bei der Erkrankung des Hilfeempfängers nicht um einen schwer einstellbaren Diabetes im Sinne des § 53 SGB XII. Es sei lediglich pädagogisches Einwirken erforderlich, mit dem Ziel, dass F. langfristig ein konsequentes Diabetesmanagement eigenständig bewerkstelligen könne.
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Beigefügt ist ein Situationsbericht des Jugendhauses „…“ bzgl. F. vom 22.11.2016. Da momentan kein Platz in einer anderen Gruppe sei, lebe F. noch immer in der Gruppe 1, der Aufnahmegruppe, die durch eine feste Tagesstruktur gekennzeichnet sei und grundsätzlich nach sechs bis acht Wochen verlassen würde. Es wird u.a. ausgeführt:
„Gesundheitliche Entwicklung: F. … ist gesundheitlich recht stabil (…). Unsere hausinterne Psychologin, Frau …, stellte beim Hilfeempfänger einen leicht unterdurchschnittlichen Intelligenzquotienten fest. (…) Der durchschnittliche Langzeitblutzucker, HBA1C betrug bei der Aufnahme 10,3%, der Normbereich sollte nicht über 7,5% liegen. F. … Wert konnte von 10,3%, auf 9,1% und nun auf 7,4% gesenkt werden. Dafür ist eine dauerhafte Kontrolle notwendig, die mit dem strukturierten Tagesablauf und der täglichen Reflektion der Blutzuckerwerte einhergeht. Der Hilfeempfänger wurde zu den Themen Insulinwirksamkeit, Hyperglykämie und Hypoglykämie nochmals für ein besseres Verständnis im täglichen Umgang mit seinem Diabetesmanagement geschult. Er benötigt weiter viel Anleitung und Motivation, zum Beispiel für die täglichen Blutzuckertestungen vormittags in der Schule oder die Insulinanpassung vor bzw. nach dem Sport. In den bisher stattgefundenen Beurlaubungen lagen seine Blutzuckerwerte außerhalb des Zielbereichs. Zudem wurde unzureichend dokumentiert und durch die passive Freizeitgestaltung der Diabetes verdrängt. Der Hilfeempfänger fällt in seinen Beurlaubungen in sein altes Verhaltensmuster zurück und kann das Erlernte noch nicht umsetzen. (…).
Psychologische Einschätzung: F. … nimmt während seines Aufenthalts im Jugendhaus psychologische Beratungsgespräche in Anspruch. Hier ging es zunächst um Stabilisierung und Zurechtfinden in der für F. … völlig neuen Lebenssituation. Großes Thema war für ihn die Schule. Ein weiterer Schwerpunkt lag in der Integration ins Gruppengeschehen. Hier gelingt es F. … nach anfänglicher Unsicherheit und Zurückhaltung gut, Kontakt zu Gleichaltrigen zu finden. Momentan liegt der Fokus der Gespräche auf dem Thema Krankheitsakzeptanz. Erste Fortschritte sind bereits zu verzeichnen.“
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Aus einem Bericht der Einrichtung in … vom 24.10.2017 (vgl. S. 95 f. der Klägerakte) geht hervor, dass der Hilfeempfänger vermehrt mit der Akzeptanz seiner Diabeteserkrankung kämpfe. Auch in der Schule und bei seinen täglichen Aufgaben handele er häufig sehr verträumt, erledige sie nur halbherzig. Der Hilfeempfänger benötige hinsichtlich seines Diabetes ständige Motivation und engmaschige Kontrolle, damit er ein befriedigendes Diabetesmanagement aufrechterhalten könne. Notwendige Blutzuckerwerte in der Schule würden oft vergessen oder das Insulinspritzen vergessen. Die Ablehnung des Diabetes und die damit verbundene Unterlassung lebensnotwendiger Maßnahmen würden ein hohes gesundheitliches Risiko darstellen. F. … beginne sich zu öffnen und aktiv verschiedene Problemsituationen zu erkennen und zu bearbeiten. Ein Verbleib im Jugendhaus sei unerlässlich.
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Auch im Situationsbericht vom 26.6.2018 findet sich eine ähnliche Einschätzung des Hilfeempfängers.
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Mit Schriftsatz vom 12.7.2018, eingegangen beim Bayerischen Verwaltungsgericht Bayreuth am 27.7.2018, erhob der Kläger Klage und hat beantragt,
Die Beklagte wird verpflichtet, für die Zeit vom 4.8.2016 bis zum 31.7.2017 aufgewendete Kosten der Eingliederungshilfe nach §§ 53 ff. SGB XII in Höhe von 49.868,24 EUR zu erstatten.
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In der Klagebegründung wird im Wesentlichen vorgetragen, dass der Kläger wegen der neben der Diabeteserkrankung diagnostizierten Anpassungsstörung, der Enuresis Diurna sowie der Enkopresis des Leistungsberechtigten, sowie wegen der mangelnden Compliance seitens der erziehungsberechtigten Mutter beim Hilfeempfänger die Zugehörigkeit zum nach § 35 a SGB VIII anspruchsberechtigten Personenkreis als gegeben angesehen habe. Er habe mit Bescheid vom 27.7.2016 die erforderliche Hilfe im Jugendhaus „…“ seit 4.8.2016 zunächst für die Zeit bis 31.7.2017 im Rahmen des § 14 Abs. 2 Satz 3 SGB IX bewilligt. Aufgrund der fehlenden, wesentlichen Teilhabebeschränkung durch eine körperliche oder geistige Behinderung im Sinne des § 53 SGB XII scheitere der Anspruch auf Eingliederungshilfe nach SGB XII, sodass der Kläger am 27.7.2016 die Kostenerstattung im Rahmen des § 14 Abs. 4 SGB IX sowie die Fallübernahme durch die Beklagte begehrt habe. Beim Hilfeempfänger liege unbestritten eine körperliche Beeinträchtigung durch die Erkrankung Diabetes vor. Den vorliegenden Unterlagen ließe sich jedoch entnehmen, dass die Erkrankung per se nicht unbeherrschbar wäre. Vielmehr werde der Leistungsberechtigte durch seine seelische Behinderung an einem konsequenten Diabetesmanagement gehindert. Ferner mangele es an der Compliance im häuslichen Umfeld. Eine kognitive Beeinträchtigung sei nicht aktenkundig. Es gelinge dem Leistungsberechtigten in der Einrichtung, selbstständig die Stoffwechselsituation zu kontrollieren, zu protokollieren und die Insulinanpassungen vorzunehmen. Lediglich, wenn er außerhalb der Planstrukturen der Einrichtung sei, zum Beispiel bei Beurlaubung bei seiner Mutter, lägen die Blutzuckerwerte außerhalb des Zielbereichs und es erfolge eine unzureichende Dokumentation. Demnach sei die Diabeteserkrankung in ihren Auswirkungen keinesfalls so ausgeprägt, dass eine wesentliche Einschränkung der Teilhabefähigkeit durch das Vorliegen einer körperlichen oder solchen drohenden Behinderung als gegeben angesehen werden könne. Darüber hinaus hätten Kinder und Jugendliche nach § 35a SGB VIII einen Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweiche und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt sei oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten sei.
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Beim Vergleich der beiden Anspruchsnormen ergebe sich, dass bei § 35a SGB VIII im Gegensatz zur Sozialhilfe keine wesentliche Behinderung gefordert sei. Bei der Jugendhilfe stehe Prävention im Vordergrund und sie diene zur Förderung des jungen Menschen in seiner Entwicklung sowie Erziehung zu einer eigenverantwortlichen, gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Deshalb besitze der Leistungsberechtigte lediglich einen Anspruch auf Leistungen gegen die Beklagte als Träger der Jugendhilfe, aber keinen Anspruch auf Eingliederungshilfe gegen den Kläger als Träger der Sozialhilfe.
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Damit bestehe auch keine Konkurrenzsituation im Sinne des § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII. Wegen der Leistungsverpflichtung aus § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IX eröffne sich dem Kläger die Möglichkeit, seinen Nachrang auf der Grundlage des § 14 Abs. 4 SGB IX wiederherzustellen. Aus diesem Grund bestimme sich der Rechtsweg im vorliegenden Fall nach § 114 Satz 2 2. Alternative SGB X.
32
Die Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 20.8.2018,
die Klage kostenpflichtig abzuweisen.
33
Aus Sicht der Beklagten zähle der Hilfeempfänger zum Personenkreis des § 53 SGB XII, was der Orientierungshilfe der BAGüS vom 24.11.2009 zu entnehmen sei; zum Personenkreis des § 53 SGB XII würden darin unter Nr. 5.1.3 Personen zählen, deren Leistungsvermögen in Folge Erkrankung, Schädigung oder Fehlfunktion eines inneren Organs in erheblichem Umfang eingeschränkt ist. Hierunter fallen Personen, die an schwer einstellbarem Diabetes Mellitus leiden. Der Hilfeempfänger brauche eine stationäre Unterbringung und Betreuung sowohl wegen massiver Verhaltensauffälligkeiten als Folge einer seelischen Behinderung, als auch wegen einer körperlichen Behinderung in Folge seiner schweren Diabeteserkrankung. Die Beklagte vertrete die Auffassung, dass der Hilfeempfänger wegen seiner Diabeteserkrankung seelische Probleme, wie zum Beispiel eine Anpassungsstörung, habe. Aus diesem Grund würden auch in der Einrichtung verstärkt Gespräche zur Krankheitsakzeptanz geführt. Gemäß § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII gingen bei vorliegender körperlicher Behinderung Leistungen der Sozialhilfe den Leistungen der Jugendhilfe vor. Ob für den Hilfeempfänger ein Schwerbehindertenausweis beantragt oder vorliegend sei, sei der Beklagten nicht bekannt.
34
Mit Schriftsatz vom 21.9.2018 erwiderte der Kläger, dass es keinen Automatismus zwischen einer Erkrankung mit Diabetes Mellitus Typ 1 und einer Kostentragung in der vom Leistungsberechtigten belegten Spezialeinrichtung im Rahmen der Eingliederungshilfe nach §§ 53 ff. SGB XII gäbe. Denn in der Hauptsache handele es sich um eine Jugendhilfeeinrichtung mit dem Schwerpunkt im Bereich stationärer Erziehungshilfe.
35
Mit Schriftsatz vom 25.9.2018 erwiderte die Beklagte, dass es unbestritten sei, dass auch erzieherische Elemente in die Arbeit mit den Jugendlichen einflössen. Auch an Diabetes erkrankte Kinder benötigten, wie auch gesunde Kinder, Erziehung. Der Hilfeempfänger zähle jedoch nach Auffassung der Beklagten zum Personenkreis des § 53 SGB XII.
36
Mit Schriftsatz vom 22.11.2018 erwiderte der Kläger, dass eine entsprechende Rückfrage bei der Einrichtung ergeben habe, dass der Hilfeempfänger zunächst in der Aufnahmegruppe der Einrichtung untergekommen sei, von dort erst im Februar 2017 in eine nach SGB XII eingliederungshilferelevante intensivpädagogische Stabilisierungsgruppe gewechselt habe und erst nach Ablauf des streitbefangenen Zeitfensters in eine weitere eingliederungshilferelevante Verselbstständigungsgruppe gekommen sei. Damit sei allein schon von der Konzeption der Einrichtung her nicht vorgesehen, dass der Leistungsberechtigte grundsätzlich bis Februar 2017 eine Leistung in originärer Zuständigkeit des Klägers erhalten habe. Des Weiteren sei noch nicht klar, in welcher Höhe der Leistungsberechtigte einen GDB aufgrund der Diabeteserkrankung erhalten habe. Insgesamt liege ein Schwerbehindertenausweis vor. Dieser fuße jedoch nicht nur auf der Diabeteserkrankung, sondern auch auf dem Vorhandensein von psychovegetativen Störungen. Sollten letztere wiederum prägend für die Schwerbehinderteneigenschaft sein, würde dies die Rechtsposition des Klägers stärken.
37
Mit Schreiben vom 19.12.2018 erwiderte die Beklagte, dass aus einem Situationsbericht der Einrichtung vom 14.11.2018 zu entnehmen sei, dass dem Hilfebedürftigen trotz eines verbesserten Umgangs mit seiner Krankheit weiterhin die Akzeptanz seiner Erkrankung fehle und er seine Krankheit ignoriere. Nach Auffassung der Beklagten bestehe ein Bedarf an Eingliederungshilfe für F. aufgrund seiner körperlichen Behinderung und ein Bedarf an Leistungen der Jugendhilfe. Gemäß § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII sei der Kläger vorrangig zur Leistung verpflichtet, da es auf den Schwerpunkt des Hilfebedarfs nicht ankomme.
38
Mit Schriftsatz vom 7.1.2019 bekräftigte der Kläger nochmals, dass kein Automatismus zwischen dem Vorliegen einer chronischen Erkrankung und der Gewährung von Eingliederungshilfe nach SGB XII bestehe. Der Fokus der vom Hilfebedürftigen besuchten Einrichtung liege darauf, den mehr oder weniger beeinträchtigten Klienten durch geeignetes erzieherisches Begleiten ein adäquates Diabetesmanagement für die meist beherrschbare Erkrankung anzuerziehen, damit Folgeschäden vermieden werden könnten. Auch beim Hilfeempfänger sei die Erkrankung beherrschbar. Es fehle, bedingt durch Persönlichkeitsstruktur des Leistungsberechtigten, an der Disziplin, das vermittelte Diabetesmanagement konsequent in die Realität umzusetzen. Um das zu erreichen bedürfe es erzieherischer Hilfe. Die Vermittlung und Stärkung der theoretischen Grundlagen, die Kontrolle der lebensnotwendigen Maßnahmen, die Kontinuität des Settings, seien alles Faktoren in der originären Zuständigkeit der Jugendhilfe. Für Eingliederungshilfe wird nach der Überzeugung des Klägers kein Raum gesehen.
39
Der Leistungsberechtigte habe eine Schwerbehinderteneigenschaft mit GDB 50, allerdings sei das Merkmal H (Hilfebedürftigkeit) ab 1.7.2017 aberkannt worden. Der GDB setze sich zusammen aus GDB 50 für Diabetes und GDB 10 für psychovegetative Störungen.
40
Auf entsprechende Abfrage verzichteten die Beteiligten auf mündliche Verhandlung.
41
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Behördenakten verwiesen.

Entscheidungsgründe

42
Die Klage, über die nach entsprechenden Erklärungen der Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ohne mündliche Verhandlung entschieden werden konnte, ist als allgemeine Leistungsklage zulässig, aber unbegründet. Der Kläger hat gegenüber der Beklagten keinen Anspruch auf Erstattung der von ihm für die internatsmäßige Betreuung des Hilfeempfängers F. geleisteten Zahlungen in Höhe von 49.868,24 EUR.
43
1. Für die vorliegende Streitsache ist der Verwaltungsrechtsweg und nicht etwa der Rechtsweg zu den Sozialgerichten eröffnet (§ 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Nach § 114 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist für einen Erstattungsanspruch derselbe Rechtsweg wie für den Anspruch auf die Sozialleistung gegeben, sofern kein Fall der §§ 102 ff. SGB X vorliegt (§ 114 Abs. 1 Satz 2 SGB X). Zwar wäre für Streitigkeiten über die vom Kläger als Sozialhilfeträger erbrachten Leistungen der Eingliederungshilfe nach §§ 53 ff. SGB XII in der ab 1.1.2005 bis 31.12.2019 gültigen Fassung (a.F.) der Rechtsweg zu den Sozialgerichten einschlägig (§ 51 Abs. 1 Nr. 6a und § 51 Abs. 1 Nr. 10 Sozialgerichtsgesetz [SGG], doch richtet sich die Rechtswegzuständigkeit für Klagen eines zweitangegangenen Rehabilitationsträgers auf Kostenerstattung nach § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX (a.F.) als lex specialis zu §§ 102 ff. SGB X, wie hier, nach der Hilfe, die der (erstangegangene und weiterleitende) Rehabilitationsträger hätte erbringen müssen. Die Beklagte hat als erstangegangener Träger der Jugendhilfe nach den Vorschriften des SGB VIII den für den Leistungsempfänger durch seine Eltern gestellten Antrag gemäß § 35a SGB VIII auf Übernahme der Kosten für die Unterbringung im Jugendhaus „…“ in … am 9.5.2016 im Rahmen des § 14 Abs. 1 SGB IX a.F. an den Kläger weitergeleitet. Für jugendhilferechtliche Ansprüche besteht jedoch keine Sonderzuweisung an einen anderen öffentlich-rechtlichen Rechtsweg, so dass der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO eröffnet ist. Daran ändert auch die Regelung in § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX in der vom 1.5.2004 bis 31.12.2017 gültigen Fassung (a.F.) nichts, wonach der zweitangegangene Rehabilitationsträger seine Aufwendungen (nur) nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften erstattet erhält. Diese Bestimmung stellt sicher, dass nur Aufwendungen, die nach Art und Umfang den gesetzlichen Vorschriften des leistenden Rehabilitationsträger entsprechen, erstattet werden müssen. Sie bestimmt nicht die Voraussetzungen des Erstattungsanspruches selbst (vgl. zu allem BayVGH, B.v. 21.1.2008 – 12 C 07.474 – juris).
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2. Die Klage ist aber unbegründet.
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Der Kläger als Sozialhilfeträger, der aufgrund eines nach § 14 Abs. 1 SGB IX a.F. an ihn weitergeleiteten Antrags der Beklagten zunächst geleistet hat, hat keinen Erstattungsanspruch gegenüber der Beklagten. Er ist auch nach seinem eigenen Leistungsrecht zur Übernahme der Unterbringungskosten für den Hilfeempfänger F. in einem Internat für diabeteskranke Kinder und Jugendliche originär zuständiger Rehabilitationsträger, weil die erbrachten Leistungen gleichermaßen Eingliederungshilfeleistungen gemäß § 53 SGB XII a.F. wegen der körperlichen Behinderung des Hilfeempfängers darstellen und somit den Leistungen der Jugendhilfe im Rang vorgehen (§ 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII).
46
Nach § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX hat der Rehabilitationsträger, der aufgrund eines nach § 14 Abs. 1 SGB IX a.F. weitergeleiteten Antrags auf Leistungen zur Teilhabe geleistet hat, einen Erstattungsanspruch nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften, wenn nach Bewilligung der Leistung durch diesen Rehabilitationsträger festgestellt wird, dass ein anderer Rehabilitationsträger für die Erbringung der Leistung zuständig war.
47
§ 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX ist Rechtsgrundlage für einen speziell einschlägigen Erstattungsanspruch, den der zweitangegangene Rehabilitationsträger gegenüber dem eigentlich zuständigen Rehabilitationsträger hat. Dieser Erstattungsanspruch geht den allgemeinen Erstattungsansprüchen nach dem SGB X vor und verdrängt diese. In der Sache trifft § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX a.F. damit eine spezielle Regelung im Verhältnis zu § 102 SGB X, die diese ersetzt (vgl. dazu BT-Drs. 14/5074, S. 102 zu § 14), denn der zweitangegangene Rehabilitationsträger ist im Verhältnis zum Leistungsberechtigten nicht nur vorläufig, sondern endgültig und umfassend leistungspflichtig. Im Gegenzug hierfür erhält er einen vollständigen Ersatz aller Aufwendungen, wenn er nach der Zuständigkeitsordnung der Rehabilitationsträger Leistungen, für die er nicht zuständig war, auf Grund der Zuständigkeit als zweitangegangener Träger erbringen musste (vgl. zu allem BayVGH, B.v. 21.1.2008 – 12 C 07.474 – juris).
48
Der Erstattungsanspruch ist gemäß § 111 Satz 1 SGB X nicht ausgeschlossen. Die Norm findet auch bei Erstattungsansprüchen nach § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX a.F. Anwendung. Die Geltendmachung des Erstattungsanspruchs durch den Kläger mit Schriftsatz vom 27.7.2016 erfolgte für die Zeit ab Beginn der Leistung, ab dem 4.8.2016, und somit rechtzeitig. Die Ausschlussfrist des § 111 Satz 1 SGB X wurde mangels Ablaufs des Leistungszeitraums nicht in Gang gesetzt (vgl. BayVGH, U.v. 30.7.2019 – 12 BV 16.2545 – BeckRS 2019, 17338).
49
2.1 Der Kläger als überörtlicher Sozialhilfeträger und damit als Träger der Eingliederungshilfe für Leistungen nach § 5 Nr. 1, 2, 4, 5 SGB IX in der vom 1.7.2001 bis 31.12.2017 gültigen Fassung (a.F.) ist nach § 6 Nr. 7 SGB IX ein Rehabilitationsträger gemäß § 14 Abs. 4 SGB IX a.F. Gemäß § 3 Abs. 3 SGB XII i.V.m. Art. 81 Abs. 1 Satz 1 AGSG in der ab 30.8.2014 bis 16.1.2018 gültigen Fassung (a.F.), Art. 82 Abs. 1 Nr. 1 AGSG in der vom 1.1.2008 bis 28.2.2018 gültigen Fassung (a.F.), ist für die Leistungen der Eingliederungshilfe gem. §§ 53 ff. SGB XII a.F. der Kläger als überörtlicher Träger der Sozialhilfe sachlich und gem. § 98 Abs. 2 SGB XII in der ab 1.1.2013 bis 31.7.2019 gültigen Fassung (a.F.) örtlich zuständig. Der Hilfeempfänger wohnte in der Stadt … und damit im Regierungsbezirk …
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2.2 Der für den Erstattungsanspruch vorausgesetzte Antrag auf Leistungen der Teilhabe gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IX a.F. wurde ordnungsgemäß gestellt und weitergeleitet.
51
Gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IX a.F. wurde ein Antrag auf Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII am 9.5.16 bei der Beklagten (öffentlicher Jugendhilfeträger) als erstangegangenem Rehabilitationsträger (§ 6 Nr. 6 SGB IX) gestellt. Gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IX a.F. wurde dieser Antrag innerhalb der Frist von zwei Wochen, nämlich am gleichen Tag, am 9.5.16, gemäß § 14 Abs. 1 Satz 2 SGB IX a.F. an den nach Ansicht des Jugendhilfeträgers zuständigen Rehabilitationsträger, den Kläger, als den nunmehr zweitangegangenem Rehabilitationsträger weitergeleitet.
52
Beantragt wurden Leistungen zur Teilhabe gemäß § 4 Abs. 1 SGB IX i.V.m. § 4 Abs. 3 SGB IX in der vom 1.7.2001 bis 31.12.2017 gültigen Fassung (a.F.); der Antrag auf Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche gemäß § 35 a SGB VIII vom 9.5.16 bezieht sich auf eine intensive Betreuung des Hilfeempfängers, um diesen im Hinblick auf seine Erkrankung sowie Schul- und Ausbildung zu unterstützen, also seine persönliche Entwicklung und damit seine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern. Als „Kinder“ gemäß § 4 SGB IX zählen nach der Begründung des Regierungsentwurfs entsprechend Artikel 1 der UN-Kinderrechtskonvention Personen bis zur Vollendung des achtzehnten Lebensjahres (vgl. Jacob Joussen, LPK-SGB IX, 5. Aufl. 2019, § 4 Rn. 24). Der Hilfeempfänger war im streitgegenständlichen Zeitraum ein Kind im Sinn der Vorschrift.
53
2.3 Mit Bescheid vom 27.7.2016 bewilligte der Kläger als zweitangegangener Rehabilitationsträger die streitgegenständliche Jugendhilfeleistung nach § 14 Abs. 1 Satz 2 bis 4 a.F. unter gleichzeitiger Aufforderung zur Fallübernahme durch die Beklagte. Bewilligt wurden nach Maßgabe des SGB VIII zur Sicherstellung einer angemessenen Schulbildung ab 4.8.2016 Hilfen zum Lebensunterhalt sowie insbesondere Eingliederungshilfe für seelisch Behinderte (Besuch Förderschule Internat).
54
Der Rehabilitationsträger, an den der Leistungsantrag abgegeben wurde, ist an diese Abgabe gebunden. Der Mensch mit Behinderungen oder der von Behinderung bedrohte Mensch soll durch Fragen der Zuständigkeit keine Nachteile erleiden und notwendige Leistungen erhalten. Die Regelung des § 14 SGB IX ist eine Sonderregelung gegenüber § 43 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I), der vorläufige Leistungen regelt, weil die Zuständigkeit endgültig festgestellt wurde. Die „endgültige“ Zuständigkeit bedeutet, dass der zweitangegangene Rehabilitationsträger den Antrag im Hinblick auf alle sozialrechtlichen Möglichkeiten umfassend zu prüfen hat (vgl. Jabben in BeckOK SozR, 59. Ed. 1.9.2020, SGB IX § 14 Rn. 3-7).
55
2.4 Ein anderer Rehabilitationsträger (vgl. § 6 Nr. 6 SGB IX), die Beklagte, war für die Leistung nicht vorrangig zuständig.
56
Der Hilfeempfänger hat sowohl infolge seiner unstreitig gegebenen seelischen Behinderung einen Anspruch auf Jugendhilfe nach § 35 a SGB VIII gegen die Beklagte als auch mit Blick auf seine körperliche Behinderung wegen seiner Diabetes Mellitus Typ 1-Erkrankung gleichermaßen einen Anspruch auf Sozialhilfe in Form der Eingliederungshilfe nach § 53 SGB XII a.F. Beide Hilfeansprüche erforderten unter Zugrundelegung der zur Bedarfsfeststellung anzustellenden konkreten Betrachtungsweise auch gleichartige bzw. sich überschneidende Leistungen, insbesondere die Unterbringung und Betreuung in der Jugendhilfeeinrichtung für diabeteskranke Kinder und Jugendliche (vgl. OVG Saarland, B.v. 27.8.2009 – 3 A 352/08 – juris). Die Vor- und Nachrangregel des § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII ist deshalb vorliegend anwendbar und führt unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des BVerwG (U.v. 23.09.1999 – 5 C 26.98 – beck-online) zu der vorrangigen Leistungszuständigkeit des Klägers.
57
Der Ansicht des Klägers, dass kein Anspruch des Hilfeberechtigten auf Eingliederungshilfe gem. § 53 SGB XII a.F. und somit keine Maßnahmenkongruenz mit der Folge der Anwendung von § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII gegeben sei, da eine wesentliche Teilhabebeschränkung durch eine körperliche oder geistige Behinderung nicht vorliege, sondern lediglich ein Anspruch auf Jugendhilfe gem. § 35 a SGB VIII in Gestalt erzieherischer Hilfe wegen der bestehenden Verhaltensauffälligkeiten (fehlendende Disziplin bei Diabetesmanagement) als typisches Merkmal einer wesentlichen seelischen Behinderung vorhanden sei, kann nach Auffassung der Kammer nicht gefolgt werde.
58
2.4.1 Für den Hilfeempfänger bestand ein Anspruch gegen die Beklagte auf die Leistungserbringung gem. § 35 a SGB VIII.
59
Die Beklagte war für den Hilfefall der sachlich und örtlich zuständige Träger der (erbrachten) Leistungen der öffentlichen Jugendhilfe. Die sachliche Zuständigkeit der kreisfreien Stadt … als örtlicher Träger der Jugendhilfe gemäß § 69 SGB VIII i.V.m. Art. 15 AGSG ergibt sich aus § 85 Abs. 1 und Abs. 2 SGB VIII. Die örtliche Zuständigkeit der Beklagten folgt aus § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII, da beide Eltern in der Stadt … wohnten.
60
F. war gemäß § 35a Abs. 1 i.V.m. § 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII Jugendlicher und damit möglicher Anspruchsberechtigter.
61
Die Unterbringung des Hilfeempfängers F. in der Einrichtung „…“ war (auch) aufgrund einer vorliegenden seelischen Behinderung erforderlich.
62
Die seelische Gesundheit des Hilfeempfängers F. wich im streitgegenständlichen Zeitraum vom lebensalterstypischen Zustand mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate ab (§ 35a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII). Angesichts der unterschiedlichen Entwicklungsgeschwindigkeit und -dynamik bei jungen Menschen kann es jedoch schwierig sein, insoweit zu einer klaren Diagnose zu gelangen, was der alterstypische Zustand ist. Im Interesse des betroffenen jungen Menschen – und um einer Stigmatisierung vorzubeugen – muss als Maßstab für die Abweichung die gesamte Bandbreite der alterstypischen seelischen Gesundheit dienen. Eine Abweichung i.S.d. § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII ist aber jedenfalls dann anzunehmen, wenn eine psychische oder Verhaltensstörung vorliegt (Jan Kepert/Andreas Dexheimer, LPK-SGB VIII/, 7. Aufl. 2018, § 35a Rn. 11-13).
63
Beim Hilfeempfänger F. wurden von einer Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie mit ärztlichem Bericht vom 1.7.2016 solche Verhaltensauffälligkeiten nach im fünften Kapitel der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD 10) enthaltenen Formen von psychischen und Verhaltensstörungen beschrieben (vgl. www.dimdi.de/de/klassi/diagnosen/icd10/), nämlich Anpassungsstörung F 43.2, Enuresis diurna F 98.8 und Enkopresis F 98.1. festgestellt (§ 35a Abs. 1a Nr. 1 SGB VIII).
64
In weiteren fachärztlichen Stellungnahmen vom 2.5.2016, 3.6.2016 und 17.6.2016 des Diabetologen Herrn D. wurde zudem festgestellt, dass für den Hilfeempfänger eine psychische Stabilisierung zum Erlernen eines verantwortungsvollen Umgangs mit seiner chronischen Diabeteserkrankung notwendig sei und es daher erforderlich sei, ihn in das Internat für an Diabetes erkrankte Kinder einzuweisen, um die Gefahr einer ständigen Stoffwechselentgleisung und die möglicherweise absichtliche Herbeiführung von lebensbedrohlichen Situationen zu vermeiden.
65
Aus dem gesamten zeitlichen Verlauf ergibt sich auch, dass die vorliegenden, von der Kammer auch nicht angezweifelten, Abweichungen von der alterstypischen seelischen Gesundheit bei F. mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate bestanden.
66
Durch diese seelischen Beeinträchtigungen war nach § 35a Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII die Teilhabe von F. am Leben in der Gesellschaft in sozialer und insbesondere auch schulischer Hinsicht beeinträchtigt. F. hatte im Laufe seines Schullebens viele Fehltage und musste zwei Klassenstufen wiederholen. Auch hat er sich nach den oben genannten Berichten und Stellungnahmen sozial isoliert; die bei ihm im Alter von ca. 13 Jahren nach ärztlichem Bericht festgestellten Störungen wie Enuresis und Enkopresis sind nicht alterstypisch. Die meisten Kinder werden zwischen zweieinhalb und dreieinhalb Jahren „sauber“.
67
Die vorliegenden Beeinträchtigungen der seelischen Gesundheit von F. waren für seine Unterbringung in der Jugendeinrichtung jedenfalls mitursächlich.
68
Dass der Hilfeempfänger gemäß § 35a Abs. 1 SGB VIII seelisch behindert war, ist zwischen den Beteiligten zudem völlig unstreitig, was sich insbesondere auch aus den Schriftsätzen des Klägers vom 27.7.2016 und 12.7.2018 ergibt.
69
2.4.2 Der Hilfeempfänger hat als wesentlich körperlich Behinderter gleichzeitig einen Anspruch auf Erbringung von Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i.V.m. §§ 54 f. SGB XII a.F. gegenüber dem Kläger als zuständigem Rehabilitationsträger. Dieser Hilfebedarf war neben dem auch bestehenden Hilfebedarf nach § 35a SGB VIII durch kongruente Maßnahmen, die Unterbringung in der Einrichtung für diabeteskranke Kinder, zu decken.
70
F. ist als wesentlich körperlich behindert zu qualifizieren.
71
Nach § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII a.F. erhalten Personen, die durch eine Behinderung i.S.v. § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX in der bis 31.12.2017 gültigen Fassung vom 19.6.2001 (a.F.) wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalls, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann.
72
Nach § 2 Abs. 1 SGB IX a.F. sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Der Anspruch besteht dann auf die in § 54 SGB XII a.F. in Verbindung mit den dort in Bezug genommenen Vorschriften des SGB IX beschriebenen Leistungen.
73
Der Personenkreis der behinderten Menschen wird in §§ 1 – 3 Eingliederungshilfeverordnung (EinglHV), die zum 1.1.2020 zwar außer Kraft getreten ist, für den streitgegenständlichen Zeitraum jedoch galt, konkretisiert. Bei dem Hilfeempfänger F. lag eine körperlich wesentliche Behinderung nach § 1 Nr. 3 EinglHV in der vom 1.1.2005 bis 31.12.2019 gültigen Fassung (a.F.) vor.
74
Nach Ziffer 5.1.3 der Orientierungshilfe der BAGüS zum Behindertenbegriff im SGB IX und XII vom 24.11.2009 (BAGüS) gehören zu den nach § 1 EinglHV wesentlich behinderten Personen Menschen, deren körperliches Leistungsvermögen infolge Erkrankung, Schädigung oder Fehlfunktion eines inneren Organs oder der Haut in erheblichem Umfang eingeschränkt ist, u.a. durch schwer einstellbaren Diabetes Mellitus (ICD-10, E 10-14). Die o.g. Orientierungshilfe legt den in § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII a.F. i.V.m. § 1 EinglHV enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriff der wesentlichen Behinderung aus. Sie ist als norminterpretierende Verwaltungsvorschrift zu qualifizieren, die näher ausführt, was schon im Gesetz geregelt ist. Für die Behördenmitarbeiter soll sie eine einheitliche Basis für fachlich fundierte Entscheidungen sein, in dem darin u.a. der Personenkreis der Leistungsberechtigten möglichst präzise beschrieben wird. Die Gerichte sind an die Vorgaben der Verwaltung grundsätzlich jedoch nicht gebunden. Sie müssen ihren Entscheidungen vielmehr eine eigenständige Auslegung der Gesetze zu Grunde legen. Das folgt unmittelbar aus dem rechtsstaatlichen Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes. Auch eine ständige Verwaltungspraxis kann das Gesetz nicht modifizieren.
75
Unter Berücksichtigung der in der Orientierungshilfe enthaltenen Zuordnung zum anspruchsberechtigten Personenkreis und der im konkreten Einzelfall bestehenden Situation war nach Auffassung der Kammer bei F. ein in erheblichem Umfang eingeschränktes körperliches Leistungsvermögen festzustellen, das diesen wesentlich in seiner Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, einschränkte.
76
Aus sehr vielen Berichten der Rehabilitationsträger, der Ärzte sowie der Einrichtung, in der er untergebracht war, ergibt sich, dass der Hilfebedürftige häufig müde, lethargisch und antriebslos war, was zu den erheblichen Fehlzeiten in der Schule und mehrfachem Wiederholen einer Jahrgangsstufe sicher beigetragen hat. Darin zeigen sich typische Symptome der DiabetesMellitus-Typ-1-Erkrankung. Viele Betroffene der Erkrankung leiden unter Gewichtsverlust, Müdigkeit, Konzentrationsschwäche und Antriebsschwäche. Darüber hinaus können Schwindelgefühle und Übelkeit auftreten (vgl. www.netdoktor.de/krankheiten/diabetes-mellitus/#diabetes-symptome-und-folgen, abgerufen am 19.3.2021).
77
Der Diabetes Mellitus Typ 1 des Hilfeempfängers war zudem schwer einstellbar, was das Gericht den vorliegenden medizinischen und sonstigen fachlichen Berichten entnimmt. Insbesondere ergibt sich nach den fachärztlichen Berichten vom 2.5.2016, 3.6.2016 und 17.6.2016, dass beim Hilfebedürftigen trotz regelmäßiger Betreuung und stationärer Behandlung keine zufriedenstellende Einstellung seiner Erkrankung erzielt werden konnte. Um diabetesbedingte Folgeschäden zu vermeiden, war eine Aufnahme im Internat für an Diabetes erkrankte Kinder und Jugendliche notwendig. Der Hilfebedürftige konnte ausweislich der vorliegenden Behördenakten in seiner Familie bei seinem Diabetesmanagement nicht ausreichend unterstützt werden und geriet ohne psychische Stabilisierung und einen kontrollierten Umgang mit der Erkrankung in lebensbedrohliche Situationen. Dem Bericht des sozialpädagogisch-medizinischen Dienstes (SMD) des Klägers vom 7.7.2016 ist zu entnehmen, dass die Gefahr von ständigen Stoffwechselentgleisungen, auch wegen absichtlicher Herbeiführung von lebensbedrohlichen Situationen, bestand. Auf Grund der bereits vorliegenden Folgen der Erkrankung wurde die Aufnahme in das Internat befürwortet. Am deutlichsten wird in dem Attest vom 17.6.2016 an der Aussage „F. … ist nicht einstellbar, da er seine chronische Erkrankung ausnutzt, um auf sich aufmerksam zu machen und vor allem der Schule fernzubleiben“, dass der Diabetes Mellitus schwer bzw. nach dem Attest gar nicht einstellbar ist und zwar auch wegen der bei F. zweifellos vorliegenden seelischen Behinderung. Intensive Gespräche führten nach den Aussagen des Arztes zu keiner Verbesserung des Verhaltens. Die Erkrankung und die seelische Behinderung bedingt und verstärkt sich letztlich wechselseitig.
78
Entgegen der Auffassung des Klägers kann keineswegs davon ausgegangen werden, dass die Erkrankung beim Hilfeempfänger „beherrschbar“ gewesen ist. Auch in dem speziell auf diabeteskranke Kinder und Jugendliche ausgerichteten Internat gelang es nicht, den HBA1C- (Blutzucker)-Wert des Klägers in einen gut eingestellten Bereich zu führen. Es gelang den Blutzuckerwert nur unter Aufsicht und Kontrolle auf einen Wert von 7,4% zu senken, was gerade noch dem Normbereich entspricht, der ab 7,5% nach unten beginnt. Aus den Unterlagen ist zu entnehmen, dass es dem Hilfeempfänger nicht einmal in der Einrichtung unter Betreuung und Kontrolle dauerhaft gelang, seine Erkrankung zu akzeptieren und ein konsequentes Diabetesmanagement einzuhalten. Außerhalb der Strukturen, wenn er z.B. zu Besuch bei seiner Mutter war, gelang ihm das noch weniger. Die Ablehnung des Diabetes und die damit verbundene Unterlassung lebensnotwendiger Maßnahmen stellt für den Hilfebedürftigen bis über den streitgegenständlichen Zeitraum hinaus ein hohes gesundheitliches Risiko dar (vgl. Bericht der Einrichtung vom 24.10.2017).
79
Auch der Auffassung des Klägers im Schriftsatz vom 22.11.2018, F. sei erst ab Februar 2017 in eine eingliederungshilferelevante (nach SGB XII) intensivpädagogische Stabilisierungsgruppe gewechselt, so dass er von der Konzeption der Einrichtung her schon keine Leistung in der Zuständigkeit des Klägers erhalten habe, kann nicht gefolgt werden, da die Einrichtung in ihrem Bericht vom 22.11.2016 den Verbleib von F. in der Aufnahmegruppe mit fehlenden Plätzen in den anderen Gruppen erklärte. Eine Zuordnung von F. zur Gruppe der nur seelisch behinderten Jugendlichen ist seinem etwas längeren Verbleib in der Aufnahmegruppe nach der Leistungsbeschreibung der Einrichtung nicht zu entnehmen, da in der Aufnahmegruppe u.a. eine intensive Phase der Diagnostik stattfand, um den weiteren Betreuungsverlauf des Hilfeempfängers festlegen zu können.
80
Wegen der schweren Diabetes-Mellitus-Typ-1-Erkrankung mit chronisch unzureichender Stoffwechseleinstellung im Zusammenhang mit schlechter Patientenmitarbeit war folglich eine wesentliche körperliche Behinderung des Hilfeempfängers F. gegeben. Diese ist mindestens (mit-)ursächlich für den Hilfebedarf von F. gewesen, der durch dessen Unterbringung in der Jugendeinrichtung „…“ in der Zeit vom 4.8.2016 bis zum 31.7.2017 erfüllt wurde (vgl. OVG SL, U.v. 27.8.2009 – 3 A 352/08 – juris).
81
Diese Sichtweise wird auch dadurch unterstützt, dass die Jugendhilfeeinrichtung, in der der Hilfeempfänger untergebracht war, gerade auf die Prävention und Überwindung von durch die chronische Krankheit Diabetes Mellitus mit bedingter Benachteiligung an der altersgerechten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und von Beeinträchtigungen in der gesamten persönlichen Entwicklung der Hilfeempfänger ausgerichtet war.
82
Aus alledem wird deutlich, dass gerade die „Mehrfachbehinderung“ des Hilfeempfängers in seelischer und körperlicher Hinsicht im relevanten Zeitraum eine stationäre (geschlossene) Unterbringung des Hilfeempfängers erforderte, wobei die körperliche Komponente eine potenziell permanente Gefährdung von Leib und Leben bedingte und die seelischen Beeinträchtigungen des Hilfeempfängers offensichtlich noch verstärkte.
83
Ohne die Erkrankung ist es nicht ersichtlich, dass es der Unterbringung von F. in der betreffenden Jugendhilfeeinrichtung bedurft hätte. Dies lässt sich insbesondere auch bei Betrachtung der Einstufung der Behinderungen von F. erkennen. Bei dem Hilfebedürftigen liegt die Schwerbehinderteneigenschaft vor, ein Grad der Behinderung (GDB) 50 für seine Diabeteserkrankung sowie ein GDB 10 für psychovegetative Störungen. Prägend für die Schwerbehinderteneigenschaft von F. ist somit klar seine schwere körperliche Beeinträchtigung auf Grund seiner Diabetes-Erkrankung.
84
Der Hilfebedürftige ist folglich wesentlich in seiner Teilhabe an der Gesellschaft eingeschränkt. Eine angemessene Ausbildung und Schulbildung sowie Teilnahme am sozialen Leben war ohne konsequentes Diabetesmanagement bei der bei ihm vorliegenden Erkrankung nicht möglich.
85
Bei den erbrachten Leistungen ging es gerade darum, dem Hilfebedürftigen beizubringen, mit seiner körperlichen Behinderung umzugehen, was auch Ziel der Eingliederungshilfe ist.
86
Es bestand gemäß § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB IX a.F. auch Aussicht auf Aufgabenerfüllung, da nach den Unterlagen beim Hilfebedürftigen ein positives Bemühen erkennbar war (vgl. u.a. Stellungnahme der Einrichtung vom 22.11.2016).
87
Danach lag im maßgeblichen Zeitraum ein Hilfebedarf auch nach § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII a.F. vor.
88
Dieser Bedarf des Hilfeempfängers war – im Vergleich mit dem (auch) bestehenden Hilfebedarf nach § 35a SGB VIII – durch kongruente Maßnahmen (stationäre Unterbringung) zu decken. Da beide Ansprüche auf gleichartige bzw. sich überschneidende Leistungen gerichtet waren, greift die Vor- und Nachrangregel des § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII ein. Diese begründet die vorrangige Zuständigkeit des Klägers als Träger der Sozialhilfe.
89
Maßgeblich für die Anwendung der Vor- und Nachrangregelung des § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII ist unter Anwendung dieser Maßstäbe, dass die Unterbringung des Hilfeempfängers in einer stationären Einrichtung im fraglichen Zeitraum konkret jedenfalls auch aufgrund seiner Diabetes-Erkrankung erforderlich war. Denn damit lag, was die Art der Hilfeleistung in Form einer stationären Unterbringung anbelangt, ein auf eine gleichartige Leistung gerichteter Bedarf vor, wie er sich (auch) aufgrund der seelischen Behinderung des Hilfeempfängers (einschließlich erzieherischer Defizite) ergab.
90
Eine Anspruchskonkurrenz zwischen Leistungen der Jugendhilfe nach § 35a SGB VIII und den Leistungen der Sozialhilfe (Eingliederungshilfe) nach § 53 SGB XII liegt vor.
91
Im Fall einer Mehrfachbehinderung kommt es bei der Bestimmung der sachlichen Zuständigkeit anhand der Vorrang-Nachrang-Regelung des § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII auf den Schwerpunkt der Behinderung nicht an (vgl. BVerwG U.v. 23.9.1999 – 5 C 26798; vgl. OVG SL, B.v. 27.8.2009 – 3 A 352/08 – beide juris).
92
Folglich greift § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII. Damit hat der Kläger keinen Erstattungsanspruch gegen die Beklagte.
93
Die Klage ist nach alledem abzuweisen.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 188 Satz 2 Halbs. 2 VwGO nicht gerichtskostenfrei.
95
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 708 ZPO; § 711 ZPO ist nicht entsprechend anzuwenden.