Inhalt

VG München, Gerichtsbescheid v. 08.02.2021 – M 10 K 18.3469
Titel:

keine Rechtsgrundlage für Festlegung des Grundstücksabflussbeiwerts in kommunaler Beitrags- und Gebührensatzung zur Entwässerungssatzung

Normenketten:
BGS/EWS § 9 S. 2, § 11 Abs. 1 S. 3
BayKAG Art. 10 Nr. 1, Art. 13 Abs. 1
Leitsatz:
Entscheidet sich ein Einrichtungsträger für eine Abrechnung mittels sog. Gebietsabflussbeiwerten, muss für die Betroffenen ausweislich des Satzungstextes klar erkennbar sein, in welche Stufe ein konkretes Grundstück einzugruppieren ist; die Umschreibung der jeweiligen Grundstücke einer Stufe – z.B. „normal“, „hoch („verdichtet“)“, „sehr hoch („stark verdichtet“)“ - erscheint nicht hinreichend bestimmt. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Grundstücksabflussbeiwert, Fehlende Rechtsgrundlage, Heranziehung zu Niederschlagswassergebühren, kommunale Beitrags- und Gebührensatzung zur Entwässerungssatzung (BGS/EWS), Rechtsgrundlage
Fundstelle:
BeckRS 2021, 6789

Tenor

I.    Der Bescheid der Beklagten vom 10. April 2018 in Gestalt des Abhilfebescheids vom 17. Mai 2018 wird aufgehoben. 
II.    Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. 
III.    Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand

1
Die Klägerin wendet sich gegen die Heranziehung zu Niederschlagswassergebühren auf Grundlage eines festgesetzten Grundstücksabflussbeiwerts.
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Die Klägerin ist Eigentümerin eines Grundstücks im Gebiet der Beklagten.
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Die Beklagte betreibt auf Grundlage ihrer Satzung für die öffentliche Entwässerungseinrichtung der Stadt … vom 23. November 2017 (Entwässerungssatzung - EWS) eine Entwässerungsanlage als öffentliche Einrichtung.
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Aufgrund ihrer Beitrags- und Gebührensatzung zur Entwässerungssatzung vom 23. November 2017 (BGS/EWS) erhebt die Beklagte Beiträge und Gebühren. Nach § 9 Satz 2 BGS/EWS werden für die Benutzung der Entwässerungseinrichtung hinsichtlich der Niederschlagswasserbeseitigung Niederschlagswassergebühren erhoben. Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 BGS/EWS ist für den Anteil des jeweiligen Grundstücks an der Niederschlagswasserableitung in die Entwässerungseinrichtung die reduzierte Grundstücksfläche maßgeblich. Diese ergibt sich, wenn die Grundstücksfläche mit dem für das Grundstück geltenden mittleren Grundstücksabflussbeiwert multipliziert wird, § 11 Abs. 1 Satz 2 BGS/EWS. Der mittlere Grundstücksabflussbeiwert stellt den durchschnittlich vorhandenen Anteil der bebauten und befestigten Fläche an der Gesamtgrundstücksfläche einer Stufe dar, § 11 Abs. 1 Satz 3 BGS/EWS. In einer Tabelle in § 11 Abs. 2 BGS/EWS werden die Grundstücke abhängig von der Charakteristik der Bebauung und Befestigung des Grundstücks in Stufen von 0 bis 6 eingeordnet und ihnen damit ein mittlerer Grundstücksabflussbeiwert zwischen 0,14 und 0,95 bzw. eine Einzelveranlagung zugeteilt. So werden beispielsweise Grundstücke mit der Bezeichnung „normal“ in Stufe 3 mit einem mittleren Grundstücksabflussbeiwert von 0,38 eingeteilt, Grundstücke mit der Bezeichnung „hoch („verdichtet“)“ in Stufe 4 mit einem mittleren Grundstücksabflussbeiwert von 0,55 und Grundstücke mit der Bezeichnung „sehr hoch („stark verdichtet“)“ in Stufe 5 mit einem mittleren Grundstücksabflussbeiwert von 0,77. Nach § 11 Abs. 5 Satz 1 BGS/EWS ist der Antrag eines Gebührenschuldners, die Gebühren nach der tatsächlich zutreffenden Stufe bzw. nach der tatsächlich bebauten und befestigten Fläche zu berechnen, bis zum Ablauf der Rechtsbehelfsfrist für den Gebührenbescheid zu stellen.
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Mit Bescheid vom 10. April 2018 setzte die Beklagte für das klägerische Grundstück einen Grundstücksabflussbeiwert von 0,38 fest. Unter „Erläuterung“ führte die Beklagte dabei aus, dass der Grundstücksabflussbeiwert den durchschnittlich vorhandenen Anteil der bebauten und befestigten Fläche auf dem klägerischen Grundstück abbilde, von dem Niederschlagswasser in die Entwässerungseinrichtung der Beklagten abgeleitet werde. Der festgesetzte Grundstücksabflussbeiwert bilde die Grundlage für die spätere Berechnung der Niederschlagswassergebühr mittels eigenen Bescheids.
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Mit Schreiben vom 7. Mai 2018 legte die Klägerin gegen diesen Bescheid Widerspruch ein.
7
Mit Bescheid vom 17. Mai 2018 half die Beklagte dem Widerspruch teilweise ab und reduzierte den Grundstücksabflussbeiwert auf 0,24.
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Mit Schreiben vom 13. Juli 2018 erhob die Klägerin Klage zum Verwaltungsgericht München und beantragt,
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den Widerspruchsbescheid vom 17. Mai 2018 aufzuheben und den Grundstücksabflussbeiwert mit 0, hilfsweise unter 0,14 festzulegen.
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Zur Begründung führte sie zusammengefasst aus, dass sie kein Niederschlagswasser in die Entwässerungseinrichtung einleite. Im Übrigen wird auf die Begründung Bezug genommen.
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Mit Schriftsatz vom 22. August 2018 beantragt die Beklagte,
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die Klage abzuweisen.
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In der Begründung wurde unter anderem dazu Stellung genommen, wieso die Klägerin zur Niederschlagswassergebühr heranzuziehen sei. Im Übrigen wird auf die Begründung Bezug genommen.
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Die Beteiligten wurden mit Schreiben vom 18. März 2020 zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört.
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Hinsichtlich des übrigen Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtssowie die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.
16
Über die Klage konnte nach vorheriger Anhörung der Beteiligten durch Gerichtsbescheid entschieden werden, da sie keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist (§ 84 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
II.
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Der Klageantrag ist nach § 88 VwGO als Anfechtungsklage gegen den Bescheid der Beklagten vom 10. April 2018 in Gestalt des Abhilfebescheids vom 17. Mai 2018 auszulegen. Gegenstand der Anfechtungsklage ist grundsätzlich der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat, § 79 VwGO. Ein Widerspruchsbescheid vom 17. Mai 2018 existiert jedoch nicht. Vielmehr handelt es sich bei dem Bescheid der Beklagten vom 17. Mai 2018 um einen (Teil-)Abhilfebescheid nach § 72 VwGO, der den Ausgangsbescheid abändert. Die Klage richtet sich nun erkennbar gegen den Verwaltungsakt mit seinem aktuellen Inhalt. Als Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO ist der formulierte Antrag nicht zu verstehen. Soweit die Klägerin wörtlich die Festsetzung des Grundstücksabflussbeiwerts auf Null beantragt, zeigt sich darin ihre Ansicht, dass von ihrem Grundstück keine Niederschlagswassereinleitung stattfinde und daher keine Erhebung von Niederschlagswassergebühren erfolgen dürfe. Dieser Ansicht entspricht bereits die Aufhebung des Feststellungsbescheids. Eine weitergehende Verpflichtung der Beklagten ist nicht angezeigt.
III.
18
Der so verstandene Antrag ist zulässig und hat in der Sache Erfolg.
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Der Feststellungsbescheid der Beklagten vom 10. April 2018 in Gestalt des Abhilfebescheids vom 17. Mai 2018 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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Für eine Festsetzung des Grundstücksabflussbeiwerts durch einen eigenständigen Feststellungsbescheid fehlt es an einer Rechtsgrundlage.
21
1. Eine solche ergibt sich nicht aus der Beitrags- und Gebührensatzung zur Entwässerungssatzung der Beklagten.
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In § 9 Satz 2 BGS/EWS liegt lediglich eine Rechtsgrundlage für die Erhebung einer Niederschlagswassergebühr. Hinsichtlich des Grundstücksabflussbeiwerts enthält § 9 Satz 2 BGS/EWS keine Regelung.
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In § 11 BGS/EWS wurde festgelegt, auf welche Weise die Niederschlagswassergebühr und insbesondere der Grundstücksabflussbeiwert zu berechnen sind. Eine Regelung, wonach der Grundstücksabflussbeiwert mittels eigenständigem Feststellungsbescheid festzulegen sei, findet sich nicht. Stattdessen legt § 11 Abs. 5 BGS/EWS fest, dass ein Antrag auf Heranziehung des tatsächlichen Abflussbeiwerts anstatt des mittleren Abflussbeiwerts innerhalb der Rechtsbehelfsfrist des Gebührenbescheids zu stellen ist. Den Fall einer vorhergehenden Festlegung des Abflussbeiwerts durch einen eigenständigen Bescheid sieht diese Regelung gerade nicht vor. Sonstige Regelungen der Beitrags- und Gebührensatzung, auf die sich ein Feststellungsbescheid stützen ließe, sind nicht ersichtlich.
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2. Auch die Vorschriften der Abgabenordnung enthalten keine Rechtsgrundlage für den streitgegenständlichen Bescheid.
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Zwar ist es nach der Abgabenordnung grundsätzlich möglich, Besteuerungsgrundlagen mittels Grundlagenbescheid nach §§ 179 Abs. 1, 180 Abgabenordnung (AO) gesondert festzustellen. Diese Vorschriften der Abgabenordnung finden im konkreten Fall aber keine Anwendung, da Art. 13 Abs. 1, Art. 10 Nr. 1 KAG nicht hierauf verweisen. Eine gesonderte Feststellung der Abgabenerhebungsgrundlagen, zu denen nach der vorliegenden Ausgestaltung der Gebührenberechnung auch der Grundstücksabflussbeiwert zählt, ist demnach gerade nicht möglich (vgl. hierzu insbesondere VG München, U. v. 25.7.2019 - M 10 K 18.2151 - juris Rn. 39).
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Es bleibt damit beim Grundsatz des - nach Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b) Doppelbuchst. aa), Art. 10 Nr. 1 KAG anwendbaren - § 157 Abs. 2 AO, wonach die Feststellung von Besteuerungs- bzw. Abgabenerhebungsgrundlagen einen mit einem Rechtsbehelf nicht selbständig anfechtbaren Teil des Steuer- bzw. Abgabenbescheids bildet.
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3. Auf die Frage, ob der von der Beklagten als Rechtsgrundlage herangezogene Gebührenteil der Beitrags- und Gebührensatzung wirksam ist, kommt es damit nicht entscheidungserheblich an. So bestehen seitens der erkennenden Kammer derzeit Zweifel daran, ob die getroffenen Regelungen hinsichtlich des Grundstücksabflussbeiwerts dem Bestimmtheitsgebot entsprechen, da eine verbindliche Festlegung des Grundstücksabflussbeiwerts für die einzelnen Grundstücke des Entsorgungsgebiets fehlt. Für die Betroffenen ist ausweislich des Satzungstextes wohl nicht klar erkennbar, in welche Stufe ein konkretes Grundstück einzugruppieren ist, da die Umschreibung der jeweiligen Grundstücke einer Stufe - beispielsweise „normal“, „hoch („verdichtet“)“, „sehr hoch („stark verdichtet“)“ - vage erscheint. Vergleichbaren Satzungen anderer Einrichtungsträger, die sich für eine Abrechnung mittels sog. Gebietsabflussbeiwerten entschieden haben, wurden als Anlage sog. Abflussbeiwertkarten beigefügt und zum Bestandteil der Satzung erklärt, die für die einzelnen Grundstücke bzw. bestimmte Gebiete vergleichbarer Bebauung durch graphische Darstellung bestimmte Abflussbeiwerte festlegen (vgl. hierzu etwa BayVerfGH, Entscheidung vom 29.11.1976 - Vf. 46-VII-71 - juris Rn. 56; VG Würzburg, U.v. 28.11.2018 - W 2 K 17.1451 - juris; VG Bayreuth, U.v. 5.2.2014 - B 4 K 12.756 - juris; VG Augsburg, U.v. 8.10.2001 - Au 5 K 98.1253 - juris). Eine solche Anlage ist in der Beitrags- und Gebührensatzung der Beklagten nicht genannt. Ob die Beitrags- und Gebührensatzung dennoch als bestimmt genug zu werten ist, kann vorliegend dahinstehen und bleibt einem Verfahren gegen einen Niederschlagswassergebührenbescheid der Beklagten vorbehalten.
IV.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.