Inhalt

OLG Nürnberg, Zwischenurteil v. 20.10.2021 – 2 U 400/20
Titel:

Zeugnisverweigerungsrecht, Staatsanwaltschaft, Zwischenurteil, Kostenentscheidung, Zwischenverfahren, Auskunftsverweigerungsrecht, Streitwertfestsetzung, Verfolgungsgefahr, Steuerstrafrechtliches Verfahren, Steuerstrafverfahren, Verjährung, Vorläufige Vollstreckbarkeit, Aussageverweigerungsrecht, Einleitung eines Ermittlungsverfahrens, Rechtskraftwirkung, Beiakten, Hauptsacheverfahren, Ware, Wiederaufnahme, Schluss der mündlichen Verhandlung

Schlagworte:
Zeugnisverweigerungsrecht, Einstellung des Verfahrens, Zwischenurteil, Kostenentscheidung, Streitwertfestsetzung, vorläufige Vollstreckbarkeit, Stellungnahmefrist
Vorinstanz:
LG Regensburg vom -- – 83 O 1293/18
Fundstelle:
BeckRS 2021, 67297

Tenor

1. Die Aussageverweigerung der Zeugin V K wird für berechtigt erklärt.
2. Die Klägerin im Zwischenverfahren, die Fa. T, hat die Kosten des Zwischenverfahrens zu tragen.
Beschluss
Der Streitwert wird auf 10.000,00 € festgesetzt.

Tatbestand

1
Im Hauptsacheverfahren begehrt die Klägerin aus abgetretenem Recht der V GmbH die Zahlung eines Restkaufpreises von 39.815,00 € durch die Beklagte.
2
Der Zedentin war von der Zeugin K, Inhaberin der Fa. K Kindermoden, ein Posten Kinderbekleidung angeboten worden, für das nach Erklärung der Zeugin die Beklagte als Käuferin vorhanden war, an die im Wege des Streckengeschäfts unmittelbar geliefert würde; die Zeugin könne an sie nicht unmittelbar liefern, der Zedentin bleibe die Differenz der Kaufpreise als Gewinn. Gegenüber der Beklagten erklärte die Zeugin, dass die von der Zedentin gekaufte Ware im Wege des Streckengeschäfts an sie, die Zeugin, weiterverkauft werden solle, weil diese sie nicht unmittelbar erwerben könne; auch hier solle der Beklagten die Marge als Gewinn bleiben. Es kam ein Kaufvertrag zwischen der Zedentin und der Beklagten zustande. Die Prokuristin der Beklagten unterzeichnete, ohne die Waren gesehen zu haben, eine Erklärung, dass die Waren ordnungsgemäß erhalten worden seien. Nachdem die Beklagte in einem vorangegangenen Rechtsstreit bereits rechtskräftig zur Zahlung eines Teilbetrags von 6.000,00 € aus dem Kaufpreis verurteilt worden ist, begehrt die Klägerin nunmehr den Restkaufpreis. Die Beklagte wendet ein, die Ware habe überhaupt nicht existiert; die Zeugin habe diese Lieferkette − wie auch über hundert andere zuvor − eingefädelt, um vorübergehend Liquidität zu gewinnen; wegen der aufsummierten Margen der Zwischenkäufer sei sie gezwungen worden, immer neue Lieferketten zu begründen; eine Zahlung an die Beklagte sei letztlich nicht erfolgt.
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Die Staatsanwaltschaft S. hatte gegen die Zeugin wegen insgesamt 111 derartiger Lieferketten, darunter der streitgegenständlichen, wegen mehrerer Kreditbetrügereien und der mit den Kettengeschäften verbundenen Steuerstraftatbestände ermittelt. Hinsichtlich der Tatvorwürfe „in der Fallakte 3“ (die sich auf die vorliegende Lieferkette bezieht) hat sie mit Verfügung vom 05.10.2018 das Verfahren nach § 154 Abs. 1 StPO im Hinblick auf die Anklagevorwürfe eingestellt (Fallakte 3, Bd. III Blatt 183 der Beiakte NZS 141 Js 27780/17 der Staatsanwaltschaft S. ); bereits mit Verfügung vom 17.09.2018 war dies hinsichtlich weiterer Lieferketten erfolgt (Bd. 2 Bl. 122 der Beiakte). Angeklagt wurden Tatvorwürfe hinsichtlich der verbliebenen Lieferketten sowie des Kreditbetrugs in mehreren Fällen. Die Strafkammer beim Landgericht Verden hat bezüglich der Anklagevorwürfe der Anklageschrift vom 17.09.2018 (zu denen auch die verbliebenen Lieferkettenfälle gehörten, vgl. Anl. B 76) das Verfahren mit Beschluss vom 25.03.2020 gemäß § 154 Abs. 2 StPO im Hinblick auf die im Übrigen zu erwartende Strafe eingestellt und das Verfahren ansonsten gemäß § 254a Abs. 2 StPO jeweils auf den Vorwurf des Betrugs beschränkt (Bd. 5 Bl. 170 der Beiakte). Mit Urteil vom 25.03.2020 hat das Landgericht Verden die Zeugin wegen Betruges in fünf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 9 Monaten verurteilt und Werteinziehung angeordnet (vgl. Anl. B 77). Die Revision der Zeugin gegen dieses Urteil hat der Bundesgerichtshof mit Anlage K 598 – Beschluss vom 16.12.2020 als unbegründet verworfen (Bd. 5 Bl. 61 der Beiakten). Das gegen die Zeugin geführte Steuerstrafverfahren hat die Staatsanwaltschaft S. mit Verfügung vom 18.02.2021 im Hinblick auf die Verurteilung der Zeugin nach § 154 Abs. 1 StPO eingestellt.
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Der Senat hat mit Beweisbeschluss vom 31.03.2021 die Einvernahme der Zeugin zu der Behauptung der Beklagten angeordnet, die Ware habe nie existiert. Die Zeugin beruft sich auf ein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 384 Nr. 2 Alt. 2 ZPO. Es bestehe die abstrakte Gefahr, bei Beantwortung von Fragen zum Beweisthema wegen einer Straftat verfolgt zu werden. Das Landgericht Verden habe das Verfahren gegen die Zeugin wegen des Abschlusses betrügerischer Kettengeschäfte in 25 Fällen eingestellt; es sei jedoch unklar, welche Kettengeschäfte gemeint gewesen seien. Weiterhin könnte eine Aussage der Zeugin neue steuerstrafrechtliche Ermittlungen auslösen; die Staatsanwaltschaft könne das Verfahren jederzeit bis zum Eintritt der Verjährung wieder aufnehmen. Die Beklagte beantragt die Entscheidung des Gerichts über das Aussageverweigerungsrecht der Zeugin. Eine subjektive Befürchtung der Zeugin, für den Fall einer Aussage wegen einer Straftat verfolgt werden zu können, genüge nicht. Das Verfahren sei insoweit von der Strafkammer nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellt worden; die Drei-Monats-Frist nach Rechtskraft der Bezugsverurteilung sei verstrichen. Eine neuerliche Einleitung eines Ermittlungsverfahrens resultierend aus den Kettengeschäften drohe tatsächlich nicht und sei nicht zu erwarten.
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Der Senat hat mit Zustimmung der Parteien und der Zeugin beschlossen, gemäß § 128 Abs. 2 ZPO ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden, wobei als Zeitpunkt, der dem Schluss der mündlichen Verhandlung entspricht, der 10.09.2021 bestimmt wurde.

Entscheidungsgründe

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1. Über die Rechtmäßigkeit der Weigerung der Zeugin ist nach § 387 ZPO durch Zwischenurteil zu entscheiden. Gegenstand der Entscheidung sind nur die im Zwischenstreit behandelten Weigerungsgründe (Damrau/Weinland, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl., § 387 Rdnr. 11; Huber, in: Musielak/Voit, ZPO, 18. Aufl., § 387 Rdnr. 3).
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2. Sowohl das allgemein strafrechtliche als auch das steuerstrafrechtliche Verfahren gegen die Zeugin wegen des streitgegenständlichen Kettengeschäfts sind von der Staatsanwaltschaft nach § 154 Abs. 1 StPO eingestellt worden, nicht durch das Gericht nach § 154 Abs. 2 StPO. Die Einstellung durch die Strafkammer in der Hauptverhandlung konnte nur diejenigen Verfahren erfassen, die durch die Anklage zu Gericht gelangt sind und nicht bereits vor Anklageerhebung von der Staatsanwaltschaft eingestellt wurden; die Einstellung nach § 154 Abs. 2 StPO setzt eine wirksame Anklageerhebung voraus (vgl. BGH, Urteil vom 22. 8. 2001 − 5 StR 431/00, NStZ 2001, 656, beck-online). Anlage K 598 – Seite 5 von 6
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3. Die Gefahr der Verfolgung wegen einer Straftat besteht, wenn der Zeuge bei wahrheitsgemäßer Aussage bestimmte Tatsachen angeben müsste, die nach der Beurteilung durch das Gericht den Anfangsverdacht einer strafbaren Tat begründen. Es kommt nur darauf an, ob die Gefahr bzw. Möglichkeit der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens besteht. Verfolgungsgefahr besteht dann nicht, wenn der Zeuge für eine Tat nicht oder nicht mehr belangt werden könnte. Dabei muss die Strafverfolgung zweifellos ausgeschlossen sein (vgl. Bader, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, § 55 Rdnr. 4 m. w. N. für die gleichgelagerte Problematik bei § 55 StPO). Auf §§ 153 ff. StPO gestützte Einstellungen beseitigen die Verfolgungsgefahr nicht, wenn und solange die Möglichkeit besteht, dass das Verfahren wieder aufgenommen wird. Die Möglichkeit der Wiederaufnahme ist anhand der Umstände des Einzelfalls zu beurteilen, wobei zu bedenken ist, dass den Einstellungen der Staatsanwaltschaft keine oder nur eine beschränkte Rechtskraftwirkung zukommt (vgl. Maier, in: Münchener Kommentar zur StPO, 1. Aufl., § 55 Rdnr. 48). Die Staatsanwaltschaft kann das von ihr vorläufig eingestellte Verfahren jederzeit wieder aufnehmen, ohne an die Beschränkungen der Abs. 3 und 4 des § 154 StPO gebunden zu sein. Zwar wird von der herrschenden Meinung verlangt, dass die Staatsanwaltschaft zur Wiederaufnahme einen sachlich einleuchtenden Grund braucht, doch führt eine dennoch vorgenommene Wiederaufnahme nicht zwingend zur Einstellung des Verfahrens, sondern kann − unter dem Gesichtspunkt des Verstoßes gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens − ggf. auch nur zur Strafmilderung führen (vgl. Teßmer, in: Münchener Kommentar zur StPO, 1. Aufl., § 154 Rdnr. 67 f., m. w. N.). Bereits die Möglichkeit der Einleitung eines neuen Verfahrens gegen den Zeugen lässt sein Auskunftsverweigerungsrecht fortbestehen, mag die Durchführung auch zweifelhaft sein (vgl. BGH, Urteil vom 16.10.1985 − 2 StR 563/84, NStZ 1986, 181). Der Zeugin steht daher im Hinblick auf diejenigen Taten, die von der Staatsanwaltschaft bereits vor Anklageerhebung nach § 154 Abs. 1 StPO eingestellt wurden, ein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 384 Nr. 2 Alt. 2 ZPO zu.
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO. Bei der Streitwertfestsetzung hat der Senat einen Bruchteil des Wertes des Hauptsacheverfahrens angesetzt (vgl. Heinrich, in: Musielak/Voit, 18. Aufl., § 3 Rdnr. 36).
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Eine Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ist entbehrlich, weil ein Rechtsmittel gegen dieses Zwischenurteil nicht gegeben ist (BGH, Beschluss vom 31.07.2018 − X ZB 9/17).
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Die Verlängerung der Stellungnahmefrist für die Streithelfervertreter mit Verfügung vom 10.09.2021 ist für die Entscheidung nicht erheblich, da eine Stellungnahme der Streithelfer nicht eingegangen ist.