Inhalt

OLG München, Hinweisbeschluss v. 10.06.2021 – 25 U 1653/21
Titel:

Nachprüfungsverfahren, Verhalten des Versicherungsnehmers, Nachprüfungsentscheidung, Nichtzulassungsbeschwerde, Versicherer, Berufsunfähigkeitsversicherung, Anerkenntnis, Ärztliches Gutachten, Überzeugungsbildung, Begründungserfordernis, Medizinisches Gutachten, OLG Saarbrücken, Vergleichsbetrachtung, Berufungsrücknahme, Gesundheitszustand, Versicherungsbedingungen, Leistungspflichtiger, Sachverständige, Rücknahme der Berufung, Aggravation

Schlagworte:
Nachprüfungsentscheidung, Leistungspflicht, Gesundheitsbesserung, Nachvollziehbare Begründung, Ärztliche Gutachten, Aggravation
Vorinstanz:
LG München I, Urteil vom 26.02.2021 – 25 O 6800/20
Fundstelle:
BeckRS 2021, 66855

Tenor

1. Der Senat beabsichtigt, die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 26.02.2021, Az. 25 O 6800/20, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen.
2. Hierzu besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen zwei Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses.

Entscheidungsgründe

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Zutreffend stellt das Landgericht fest, dass die Nachprüfungsentscheidung formal nicht ausreichend ist.
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1. Die Nachprüfung ist geregelt in § 33 der vorliegend vereinbarten Allgemeinen Bedingungen für die Berufsunfähigkeitsversicherung (EBO 205), vorgelegt als Anlage K 2 und in § 174 VVG.
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Stellt der Versicherer fest, dass die Voraussetzungen der Leistungspflicht entfallen sind, wird er nach § 174 Abs. 1 VVG nur leistungsfrei, wenn er dem Versicherungsnehmer diese Veränderung in Textform dargelegt hat.
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Vorliegend stützt die Beklagte ihre Einstellungsmitteilung auf eine gesundheitliche Besserung.
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Erforderlich ist eine für den Versicherungsnehmer nachvollziehbare Begründung, um die Leistungspflicht entfallen zu lassen. Denn nur dann ist sie geeignet, den ihr zugedachten Zweck zu erfüllen: dem Versicherungsnehmer die für die Einschätzung seines Prozessrisikos erforderlichen Informationen geben. Geht es um eine Gesundheitsbesserung, muss eine nachvollziehbare Begründung den Gesundheitszustand, den der Versicherer seinem Anerkenntnis zugrunde gelegt hat, mit dem Gesundheitszustand zu einem späteren Zeitpunkt vergleichen und die aus dem Vergleich abgeleiteten Folgerungen aufzeigen; somit sind auch die berufsbezogenen Schlussfolgerungen vergleichend darzulegen. Ist in einem ärztlichen Gutachten, aus dem der Versicherer seine Leistungsfreiheit herleiten will, nur zu dem gegenwärtigen Gesundheitszustand des Versicherten Stellung genommen, so ist die Mitteilung nur dann hinreichend nachvollziehbar, wenn der Versicherer darlegt, dass die Gegenüberstellung der Ergebnisse des Gutachtens mit den Feststellungen und Bewertungen, die er seinem Anerkenntnis zugrunde gelegt hat, eine nach den Versicherungsbedingungen erhebliche Besserung ergeben hat. Es ist deshalb auch zu begründen, dass gerade der verbesserte Gesundheitszustand die Berufsunfähigkeit ganz oder teilweise entfallen lässt. Ärztliche Gutachten, auf die der Versicherer sich stützt, muss er dem Versicherungsnehmer unverkürzt zugänglich machen, soweit dieser sie nicht schon besitzt (vgl. Neuhaus, Berufsunfähigkeitsversicherung, 3. Auflage 2014, M 69 ff; BGH, Urteil vom 28.4.1999 – Az. IV ZR 123/98: „Es läßt zwar erkennen, daß die Beklagte ihre Leistungseinstellung mit einer Besserung der Gesundheit des Klägers rechtfertigen wollte. Jedoch fehlt eine Vergleichsbetrachtung, weil aus dem Schreiben nicht hervorgeht, was sich tatsächlich am Gesundheitszustand des Klägers geändert haben soll. Denn weder in der Anderungsmitteilung selber noch in den darin erwähnten Unterlagen, nämlich den Anerkenntnisschreiben von 1987 und den beiden ärztlichen Nachuntersuchungsgutachten, werden die Gesundheitsverhältnisse des Klägers im Zeitpunkt des Anerkenntnisses dargestellt.“; BGH, Urteil vom 15.10.1997 – Az. IV ZR 216/96: „Es bleibt in dem Schreiben unerörtert, wie der Zustand der Wirbelsäule nach der Operation und bei Abgabe des Leistungsanerkenntnisses beschaffen war und welche Auswirkungen ihr Zustand auf die berufliche Betätigung des Klägers hatte. Schon deshalb bleibt unklar, worin die geltend gemachte Besserung bestehen soll. Der bloße Hinweis auf eine nunmehr befriedigende Beweglichkeit der Wirbelsäule kann die notwendige Vergleichsbetrachtung nicht ersetzen. Er ist mangels näherer Angaben zur gebesserten Beweglichkeit inhaltslos.“; BGH, Urteil vom 17.2.1993 – Az. IV ZR 162/91; BGH, Urteil vom 17.02.1993 – Az. IV ZR 264/91, NJW-RR 1993, 721: Dem Begründungserfordernis ist nicht genügt, wenn der Versicherer unter bloßem Hinweis auf das mitübersandte – oder sich bereits in den Händen des Versicherten befindende- medizinische Gutachten die nicht näher erläuterte Ansicht vertritt, er sei nicht länger leistungspflichtig. Er muss dem Versicherten vielmehr aufzeigen, wie er – gegebenenfalls unter Heranziehung des von ihm eingeholten Gutachtens – zu seiner getroffenen Entscheidung gelangt ist. Da im Nachprüfungsverfahren der Vergleich des Gesundheitszustandes, wie ihn der Versicherer seinem Anerkenntnis zugrunde gelegt hat, mit dem Gesundheitszustand des Versicherten zu einem späteren Zeitpunkt maßgebend ist, lässt sich die Begründung der Nachprüfungsmitteilung im Regelfall nur in der Weise geben, dass der Versicherer seine Vergleichsbetrachtung und die aus ihr gezogenen Folgerungen aufzeigt. Erst so wird seine Entscheidung für andere nachvollziehbar. Nur anhand einer nachvollziehbaren Entscheidung kann der Versicherte erkennen und beurteilen, ob der Versicherer in Beachtung seiner mit § 7 BB-BUZ eingegangenen Selbstbindung vorgegangen ist oder nicht; nur so kann der Versicherte seine Prozesschancen abschätzen, und eben dies muss ihm der Versicherer im Nachprüfungsverfahren ermöglichen; OLG Saarbrücken, Urteil vom 25.02.2015 – Az. 5 U 31/14, VersR 2016, 1297, 1299 auch zur Vorlage ärztlicher Gutachten – Der BGH hat die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers durch Beschluss vom 20.4.2016 – Az. IV ZR 179/15 zurückgewiesen; OLG Saarbrücken, Urteil vom 20.05.2020 – Az. 5 U 30/19: die Einstellungsmitteilung ist unwirksam, wenn sie bei der Vergleichsbetrachtung nicht auf die in gesunden Tagen ausgeübte Tätigkeit abstellt; OLG Saarbrücken, Urteil vom 07.04.2017 – Az. 5 U 32/14; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 18.12.2015 – Az. 9 U 104/14).
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2. Diesen Maßstäben genügt die Nachprüfungsentscheidung der Beklagten (Anlage K 11 in Verbindung mit dem – teilweise übersandten – Gutachten, Anlage K 10) nicht.
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2.1. Die Beklagte hat es zu Unrecht unterlassen, dem Kläger die testpsychologische Begutachtung, die einen wesentlichen Teil des Gutachtens, auf das sie ihre Nachprüfungsentscheidung stützt, darstellt, zu überlassen. Zutreffend ist die Auffassung des Landgerichts, dass schon dieser Umstand dazu führt, dass die Begründung für die Leistungseinstellung nicht ausreichend ist.
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Das Gutachten des Sachverständigen Dr. von W1. (Anlage K 10) enthält 2 wesentliche Feststellungen. Zum einen äußert der Sachverständige sich zum (Nicht-)Vorliegen einer mittelschweren oder schweren Depression. Zum anderen stellt der Gutachter fest, dass der Kläger aggravieren würde.
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2.1.1. Zu den Feststellungen Dr. von W2. zum Vorliegen einer mittelschweren oder schweren Depression:
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Der Gutachter legt die Rechtsprechung zu Leistungsanträgen dar, nach der Aggravationstendenzen dazu führen können, dass ggfs. eine hinreichend sichere Überzeugungsbildung nicht möglich ist. Auf dieser Basis geht er davon aus, dass wahrscheinlich eine leichte depressive Symptomatik vorläge, also keine Berufsunfähigkeit von mindestens 50 % (GA. S. 64).
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Ausgehend hiervon und davon, dass wegen der Aggravation die vom Kläger geltend gemachten Einschränkungen nicht sicher beurteilbar seien, legt er dar, dass er eine mittelschwere oder gar schwere depressive Symptomatik dem Befund nicht entnehmen bzw. eine solche nicht bestätigen könne (GA S. 55, 62, Anlage K 10), was folgerichtig erscheint, allerdings für den vorliegenden Fall nicht relevant ist, da bei der Nachprüfungsentscheidung der Versicherer die Beweislast trägt. Ausdrücklich bezeichnet er im Gutachten auf S. 64 die Einschränkungen bei den einzelnen beruflichen Tätigkeiten als „nicht beurteilbar“.
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An anderer Stelle schließt der Gutachter eine mittelschwere oder gar schwere depressive Symptomatik aus (GA S. 65). Er betont dort nochmals, dass eine sichere Beurteilung nicht möglich sei und verweist darauf, dass bei einer allenfalls leichten depressiven Symptomatik eine maximale Einschränkung von 30 % vorläge und verweist zur Begründung auf den psychologischen Untersuchungsbefund S. 32 seines Gutachtens und die psychologische Auswertung und Diskussion S. 50 seines Gutachtens und die 2. Diagnose S. 54 seines Gutachtens (GA S. 65). Damit kommt es entscheidend auch auf die psychologische Testung (GA. S. 50) an, insbesondere ob dieser entnommen werden kann, dass beim Kläger eine mittelschwere oder gar schwere depressive Symptomatik sicher ausgeschlossen werden kann. Ohne diese Testung ist die Einschätzung des Prozessrisikos nicht realistisch vorzunehmen.
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2.1.2. Zur von Dr. von W1. festgestellten Aggravation:
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Es kann dahinstehen, ob die Beklagte ihre Einstellungsmitteilung dadurch auch auf Aggravation gestützt hat, dass sie auf das Gutachten Bezug genommen hat; selbst wenn davon auszugehen wäre, wäre die Nachprüfungsentscheidung durch Überlassung von Teilen des Gutachtens ohne die psychologische Testung nicht ausreichend:
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2.1.2.1. Stehen bewusstseinsnahe und damit willensgesteuerte Aggravationen im Nachprüfungsverfahren fest und ergeben sich aufgrund des Verhaltens des Versicherungsnehmers in der Untersuchungssituation Verzerrungen, die keine Feststellungen dahin erlauben, dass er sich vor Zeiten einmal in einer schlechteren gesundheitlichen Lage befunden hat, darf er sich nach Treu und Glauben – beweisrechtlich – nicht darauf berufen, die Voraussetzungen der Leistungspflicht des Versicherers seien nicht weggefallen, weil sie nie bestanden hätten (Oberlandesgericht Saarbrücken, Urteil vom 08.02.2017 – Az. 5 U 24/13).
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2.1.2.2. Der Sachverständige hat auf die testdiagnostische Beschwerdevalidierung (S. 37/50) Bezug genommen und diese als höchst auffällig bezeichnet (GA S. 57) und auf Basis dieser psychologischen Testung und seiner psychologischen Untersuchung Aggravation angenommen (i.E. GA S. 58/60); es erscheint fraglich, ob alleine die aus der Untersuchung gewonnenen Erkenntnisse zur sicheren Überzeugungsbildung ausreichen, insbesondere, wenn man bedenkt, dass willensgesteuerte Aggravationen feststehen müssen. Damit kommt es entscheidend auch auf die psychologische Testung an. Ohne diese ist die Einschätzung des Prozessrisikos nicht realistisch vorzunehmen.
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Die allgemein bestehende Gefahr von Manipulationen bei Kenntnis der Testverfahren rechtfertigt es nicht, die Testergebnisse nicht vorzulegen.
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2.2. Des weiteren hat das Landgericht zutreffend festgestellt, dass es an einer ausreichenden Vergleichsbetrachtung des Gesundheitszustandes fehlt und dass keine konkreten Tatsachen, aus denen sich eine Besserung ergeben haben soll, mitgeteilt wurden; wie dargestellt hat der Bundesgerichtshof im oben zitierten Fall auch einen bloßen Hinweis auf eine bei der Nachprüfungsuntersuchung festgestellte befriedigende Beweglichkeit der Wirbelsäule nicht genügen lassen. Die Beklagte vergleicht nur die Ergebnisse der Bewertungen, nicht aber berufsbezogen die tatsächlichen Beeinträchtigungen.
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In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass das Nachprüfungsverfahren keine Korrektur einer ursprünglichen Fehleinschätzung ermöglicht, so dass Umstände, die zu einer Besserung geführt haben, konkret mitzuteilen sind. Wie dargestellt muss es dem Versicherungsnehmer möglich sein, die Prozesschancen einschätzen zu können.
20
Da die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat, legt der Senat aus Kostengründen die Rücknahme der Berufung nahe. Im Falle der Berufungsrücknahme ermäßigen sich vorliegend die Gerichtsgebühren von 4,0 auf 2,0 Gebühren (vgl. Nr. 1222 des Kostenverzeichnisses zum GKG).