Titel:
Ärztlicher Sachverständiger, Sachverständigengutachten, Weiterer Sachverständiger, Informatorische Anhörung, Aufklärungsgespräch, Arzthaftpflichtrecht, Grober Behandlungsfehler, Behandlungsalternative, Beweisbeschlüsse, ärztliche Aufklärungspflicht, Schmerzensgeldansprüche, Ärztliche Behandlungsfehler, Rechtshängigkeit, Gutachten, Elektronischer Rechtsverkehr, Sitzungsprotokoll, Elektronisches Dokument, Gesetzlicher Vertreter, Behandlungsmethode, Vorläufige Vollstreckbarkeit gegen Sicherheitsleistung
Schlagworte:
ärztlicher Behandlungsfehler, Schadensersatzansprüche, ärztliche Aufklärungspflicht, wirksame Einwilligung, Schmerzensgeldanspruch, Dokumentationsdefizite, handwerklicher Fehler
Rechtsmittelinstanzen:
OLG München, Beschluss vom 18.03.2022 – 24 U 6398/21
BGH Karlsruhe, Urteil vom 30.07.2024 – VI ZR 115/22
Fundstelle:
BeckRS 2021, 66810
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages.
4. Der Streitwert wird auf 144.030,00 € festgesetzt.
Tatbestand
1
Die Klägerin macht Ansprüche wegen angeblicher Behandlungsfehler im Rahmen eines ärztlichen Behandlungsvertrages geltend.
2
Am 20.06.2012 stürzte die zum damaligen Zeitpunkt achtjährige Klägerin auf dem Schulhof. Sie wurde am selben Tag gemeinsam mit ihrer Mutter, der alleinigen gesetzlichen Vertreterin, in dem von der Beklagten betriebenen Klinikum vorstellig. Dort wurde eine bildtechnische Untersuchung durchgeführt und anschließend die Diagnose einer distalen Unterarmfraktur rechts mit dorsaler Abkippung gestellt. Noch am selben Tag wurde eine Notoperation durchgeführt, in deren Verlauf ein die Wachstumsfuge kreuzender sog. Kirschner-Draht zur Fixierung und Stabilisierung eingebracht wurde. Insoweit wird auf die Anlagen K3a bis K3c Bezug genommen. Die Klägerin wurde am 21.06.2012 entlassen. Am 03.08.2012 wurde der sog. Kirschner-Draht wieder entfernt. Insoweit wird auf die Anlage K3d Bezug genommen.
3
Die Parteien streiten u. a. über die medizinische Indikation des Eingriffs, die Frage der vollständigen ärztlichen Aufklärung und etwaige durch den Eingriff hervorgerufene gesundheitliche Beeinträchtigungen der Klägerin im Bereich des rechten Handgelenks.
4
Mit Bescheid des Versorgungsamtes A.vom 20.06.2016 wurde aufgrund einer Gebrauchsbeeinträchtigung des Unterarms rechts nach mehrfach operierter Unterarmfraktur ein Einzelgrad der Behinderung i. S. v. § 2 SGB IX in Höhe von 20% festgestellt. Insoweit wird auf die Anlage K20 Bezug genommen.
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Aufgrund einer entsprechenden Aufforderung der Klägervertreterin vom 13.12.2016 erklärte die Beklagte mit Schreiben vom 23.12.2016 einen Verjährungsverzicht bis zum 31.12.2017. Insoweit wird auf die Anlagen K1a und K1b Bezug genommen. Die Klägervertreterin forderte die Beklagte mit Schreiben vom 14.02.2017 letztmalig unter Fristsetzung zur Unterbreitung eines Vergleichsangebots auf. Insoweit wird auf die Anlage K2c Bezug genommen. Die entsprechende Frist lief erfolglos ab.
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Die Klägerin behauptet, dass es bei ihrer Behandlung zu mehreren ärztlichen Behandlungsfehlern gekommen sei, die die Beklagte sich zurechnen lassen müsse.
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Die Klägerin wirft der Beklagten die folgenden Pflichtverletzungen vor, die u. a. ihre Gesundheit beeinträchtigt hätten:
- Der tatsächlich stattgefundene Eingriff sei nicht medizinisch indiziert gewesen. Die gewählte Behandlungsmethode hätte aufgrund des Alters der Klägerin nicht angewandt werden dürfen. Im vorliegenden Fall wäre eine konservative Behandlung durch Einsatz von Schienen und Gips angezeigt gewesen. Diese Vorgehensweise sei bereits seit Längerem Standard. Für die Durchführung einer Notoperation habe keine Veranlassung bestanden. Die Klägerin verweist auf die Anlagen K22, K30, K31, K32, K33, K37, K40., K47, K48 und K49.
- Es sei keine ordnungsgemäße Aufklärung unter Darlegung von (konservativen) Behandlungsalternativen und Darstellung der jeweiligen Chancen und Risiken erfolgt. Insbesondere sei nicht auf mögliche durch den Eingriff hervorgerufene Gesundheitsbeeinträchtigungen und Spätfolgen in Gestalt von Wachstumsstörungen, des Verschlusses der Wachstumsfuge, dauerhaften Schmerzen und Funktionsbeeinträchtigungen hingewiesen worden. Auch der Hinweis darauf, dass der Bruch im Zuge des Eingriffs zunächst gegengebrochen werden müsse, sei nicht erfolgt. Im Falle einer ordnungsgemäßen Aufklärung hätte die unter Entscheidungsdruck stehende Mutter der Klägerin die Einwilligung für den operativen Eingriff nicht erteilt.
- Während des Eingriffs sei die Wachstumsfuge an der Einstichstelle des sog. KirschnerDrahtes verödet bzw. zerstört worden. Ursächlich sei ein zu schnelles Eindrehen des Drahtes gewesen, der sich hierbei erhitzt habe. Es habe sich infolgedessen eine Verknöcherung der Verwachsungsstelle sowie Fehlstellung des Knochens entwickelt. Wenn überhaupt, so hätte eine Fixierung des Drahtes parallel zur Wachstumsfuge erfolgen dürfen. Die Klägerin verweist u. a. auf die Anlagen K30, K31, K32, K33, K35 und K36.
- Im Übrigen sei während des Eingriffs kein medizinisch gebotener Befund erhoben worden. Es liege ein Dokumentationsdefizit vor.
- Schließlich sei im Zuge der Nachuntersuchung der operationsbedingte Knorpelschaden im rechten Handgelenk übersehen worden.
8
Die Klägerin habe nach dem Eingriff zunächst keine Komplikationen gespürt. Ab dem Jahr 2014 sei es jedoch zunehmend zu starken Schmerzen und Beschwerden im Bereich des rechten Handgelenks bzw. rechten Unterarms gekommen, die trotz zahlreicher physiotherapeutischer, ärztlicher und medikamentöser Behandlungen bis zuletzt angehalten hätten. Es hätten sich erhebliche Defizite im Bereich der Beweglichkeit, Kraft und Feinmotorik eingestellt. Die Klägerin sei bei sportlichen Betätigungen und Freizeitaktivitäten stark eingeschränkt. Es sei zu einer Schiefstellung der rechten Hand gekommen, die die Teilnahme an schulischen Prüfungen erheblich erschwere. Die Klägerin verweist in diesem Zusammenhang u. a. auf die Anlagen K4, K5, K6, K7, K8, K9, K10, K11, K12, K13, K14, K15, K16, K17, K18, K19, K23 und K35.
9
Am 04.03.2016 sei in der BGU-Klinik M. eine Korrekturoperation erfolgt, in deren Verlauf festgestellt worden sei, dass die Anbringung eines Außen-Fixateurs nicht möglich sei. Daher habe stattdessen der Knochen durchsägt und ein Teil desselben nach vorne geschoben werden müssen. Es sei eine sog. VariAx-Platte eingesetzt worden, um das Nachwachsen des Knochens und den Ausgleich der Knochenlänge zu fördern. Trotz dieser Bemühungen könne eine vollständige Ausheilung jedoch nicht erzielt werden. Ggf. müsse zu einem späteren Zeitpunkt ein künstliches Gelenk eingesetzt werden. Die Klägerin verweist insoweit auf die Anlagen K21 und K22.
10
Die Klägerin leide bis zum heutigen Tag unter dauerhaften Schmerzen. Es bestehe der Verdacht auf ein chronisches Schmerzsyndrom. Die Klägerin verweist in diesem Zusammenhang u. a. auf die Anlagen K23, K25, K26, K27, K28 und K34. Aus diesem Grund sei auch vom 21.09.2016 bis 12.10.2016 eine stationäre Behandlung in der Kinderklinik ... erfolgt. Die Klägerin verweist insoweit auf die Anlage K29.
11
Es bestehe aufgrund der Gesamtumstände ein Schmerzensgeldanspruch in Höhe von mindestens 80.000,00 €. Ferner könne eine Auslagenpauschale in Höhe von 30,00 € gefordert werden.
12
Es sei erwiesen, dass die Klägerin operationsbedingt einen Dauerschaden erlitten habe. Die Klägerin verweist auf die Anlagen K21, K22.
13
Die Klage wurde am 20.04.2017 zugestellt.
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Die Klägerin beantragt,
- 1.
-
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein angemessenes Schmerzensgeld zu bezahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, jedoch bei Säumnis der Beklagten mindestens 80.000,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit Rechtshängigkeit betragen soll.
- 2.
-
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 30,00 EUR nebst 5% Zinsen über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.
- 3.
-
Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtlichen materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen, den diese anlässlich der Operation vom 20.06.2012 in Klinikum ,... K., erlitten hat, soweit dieser nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen ist.
- 4.
-
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 3.161,83 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.
15
Die Beklagte beantragt
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Die Beklagte rügt die Zulässigkeit des Feststellungsantrags. Es sei angesichts der verstrichenen Zeit zumutbar, im Wege der vorrangigen Leistungsklage vorzugehen.
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Im Übrigen weist die Beklagte die klägerischen Forderungen bereits dem Grunde nach zurück.
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Von (groben) Behandlungsfehlern könne weder im Einzelnen noch in der Gesamtschau die Rede sein:
- Aufgrund der Instabilität der Fraktur nach Reposition seit die Verwendung des die Wachstumsfuge kreuzenden sog. Kirschner-Drahtes indiziert gewesen. Die Beklagte verweist auf die Anlagen B3 und B4.
- Das Aufklärungsgespräch sei ordnungsgemäß und vollständig erfolgt. Dies betreffe insbesondere etwaige Risiken und den Vorgang des Gegenbrechens. In diesem Zusammenhang sei auch auf konservative Behandlungsmethoden eingegangen worden, wobei jedoch auf das im konkreten Fall bestehende Risiko einer weiteren Operation aufgrund einer etwaigen Refraktur hingewiesen worden sei. Die Empfehlung sei daher zugunsten des tatsächlich durchgeführten Eingriffs ausgesprochen worden. Die Beklagte verweist insoweit auf die Anlagen B1 und B8.
- Der Eingriff selbst sei lege artis erfolgt. Durch den Operateur sei ein hierfür geeigneter spezieller Bohrer verwendet worden. Der Zugang sei durch einmaliges Bohren hergestellt worden. Ein zu schnelles Eindrehen habe nicht stattgefunden. Die Fuge sei nicht zerbohrt worden.
- Die Dokumentation des Eingriffs sei ordnungsgemäß erfolgt.
- Das Gelenk sei durch den Operateur nicht tangiert worden, daher könne kein Knorpelschaden eingetreten sein.
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Etwaige nicht bei der Beklagten durchgeführte Nachuntersuchungen und Nachbehandlungen würden mit Nichtwissen bestritten.
20
Etwaige Beschwerden seien auf die durch den Sturz erlittene Art der Verletzung (sog. Crushverletzung), nicht jedoch durch die bei der Beklagten durchgeführte Operation bedingt.
21
Das durch die Klägerin geltend gemachte Schmerzensgeld sei deutlich übersetzt.
22
Das Gericht hat am 07.12.2017 mündlich zur Sache verhandelt. Die gesetzliche Vertreterin der Klägerin wurde informatorisch angehört. Ferner wurde Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen Dr. ... und Dr. ... . Wegen des Inhalts der informatorischen Anhörung wie auch der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll vom 07.12.2017 (Bl. 76/83) verwiesen.
23
Gemäß Beweisbeschluss vom 21.12.2018 (Bl. 86/87) i. V. m. Beschluss vom 23.03.2018 (Bl. 98/99) hat der Sachverständige Dr. ... am 20.05.2018 ein kinderorthopädisches Sachverständigengutachten erstattet. Wegen der schriftlichen Ausführungen des Sachverständigen wird auf das Gutachten vom 20.05.2018 (Bl. 108/117) verwiesen.
24
Der Sachverständige Dr. ... ... hat das Gutachten vom 20.05.2018 in der Sitzung vom 07.03.2019 mündlich erläutert. Bereits im Vorfeld hatte der Sachverständige am 29.10.2018 eine schriftliche Stellungnahme angefertigt. Insoweit wird auf Bl. 156/162 Bezug genommen. Ferner wurde abermals der Zeuge Dr. ... vernommen. Wegen der mündlichen Ausführungen des Sachverständigen sowie des Zeugen wird auf das Sitzungsprotokoll vom 07.03.2019 (Bl. 231/242) verwiesen.
25
Gemäß Beweisbeschluss vom 12.04.2019 (Bl. 248/252) hat der Sachverständige Dr. ... am 18.08.2019 ein weiteres schriftliches Sachverständigengutachten erstattet. Wegen der schriftlichen Ausführungen des Sachverständigen wird auf das Gutachten vom 18.08.2019 (Bl. 267/270) verwiesen.
26
Der Sachverständige hat das Gutachten vom 18.08.2019 in der Sitzung vom 27.01.2020 mündlich erläutert. Im Zuge dieses Termins hat der Sachverständige eine schriftliche Stellungnahme ergänzend zu Protokoll gereicht. Wegen der mündlichen Ausführungen des Sachverständigen sowie des Inhalts der schriftlichen Stellungnahme wird auf das Sitzungsprotokoll vom 27.01.2020 (Bl. 290/296) Bezug genommen.
27
Gemäß Beweisbeschluss vom 07.12.2020 (Bl. 339/340) i .V. m. Beschluss vom 20.01.2021 (Bl. 349/350) hat die Sachverständige Dr. ... am 10.04.2021 ein radiologisches Sachverstänigengutachten erstattet. Wegen der schriftlichen Ausführungen der Sachverständigen wird auf das Gutachten vom 10.04.2021 (Bl. 355/366) verwiesen.
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Das Gericht hat mit Beschluss vom 30.06.2021 (Bl. 382/383) angeordnet, dass mit Zustimmung der Parteien ohne mündliche Verhandlung entschieden wird und als Zeitpunkt, der dem Schluss der mündlichen Verhandlung entspricht und bis zu dem Schriftsätze eingereicht werden können, den 27.07.2021 bestimmt.
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Wegen des weiteren Parteivortrags wird auf sämtliche gewechselten Schriftsätze, Anlagen und Sitzungsprotokolle Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist insgesamt unbegründet.
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Es bestehen keine gegen die Beklagte gerichteten Schadensersatzansprüche der Klägerin.
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Die insoweit darlegungs- und beweisbelastete Klagepartei hat nicht zur Überzeugung der Kammer den vollen Beweis i. S. v. § 286 Abs. 1 ZPO für einen der Beklagten zurechenbaren ärztlichen Behandlungsfehler geführt, der vertragliche oder deliktische Schadensersatzansprüche begründen würde. Demzufolge kommt eine Verurteilung der Beklagten zur Zahlung eines angemessenen Schmerzensgelds, Erstattung sonstiger kausaler Vermögensschäden und die durch die Klägerin begehrte Feststellung nicht in Betracht.
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Die Kammer war sich im Rahmen der Entscheidungsfindung bewusst, dass die nach § 286 ZPO erforderliche Überzeugung des Richters von der Wahrheit keine absolute oder unumstößliche Gewissheit und auch keine „an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“, sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit voraussetzt, der Zweifeln Schweigen gebietet, ohne diese völlig auszuschließen.
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Die Kammer stützt sich bei ihrer Entscheidung maßgeblich auf die nachvollziehbaren und überzeugenden Feststellungen und Ausführungen der Sachverständigen Dr. ... und Dr. ... , an deren fachlicher Kompetenz keine Zweifel bestehen. Darüber hinaus war das Ergebnis der informatorischen Anhörung der gesetzlichen Vertreterin der Klägerin sowie der Zeugenvernehmungen für die Entscheidung maßgeblich.
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I. Unabhängig von der Frage, ob Schadensersatzansprüche auf vertraglicher oder deliktischer Grundlage geltend gemacht werden, hat im Streitfall grundsätzlich der Patient darzulegen und zu beweisen, dass es zu einem ärztlichen Behandlungsfehler gekommen ist, ein Kausalzusammenhang zwischen diesem nachgewiesenen Fehler und dem geltend gemachten Gesundheitsschaden besteht und der ärztliche Behandler den Fehler auch verschuldet hat. Die Regelung des § 280 Abs. 1 S. 2 BGB hat im Arzthaftungsrecht keine nennenswerte Bedeutung, da mit dem Behandlungsfehler als solchem regelmäßig auch das Vertretenmüssen feststeht (Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 7. Aufl. 2014, Rn. 213; Katzenmeier in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, 8. Aufl. 2021, Kapitel XI, Rn. 137ff.; Wagner in: MünchKommBGB, 8. Aufl. 2020, § 630h BGB, Rn. 8f.).
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Das Vorliegen eines objektiven Behandlungsfehlers ist zu bejahen, wenn eine Abweichung der ärztlichen Behandlung von medizinischen Standards vorliegt, wobei sowohl für positives Tun als auch pflichtwidriges Unterlassen das Beweismaß des § 286 Abs. 1 S. 1 ZPO zur Anwendung kommt (Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 7. Aufl. 2014, Rn. 200). Handelt es sich um Maßnahmen, die für den ärztlichen Behandler voll beherrschbar waren, kommt dem Patienten bei Verwirklichung des allgemeinen Behandlungsrisikos die Beweiserleichterung des § 630h Abs. 1 BGB in Gestalt einer tatsächlichen Vermutung i. S. v. § 292 ZPO zugute. Auch für die haftungsbegründende Kausalität zwischen Behandlungsfehler und dem ersten körperlichen oder gesundheitlichen Primärschaden gilt das Beweismaß des § 286 Abs. 1 S. 1 ZPO (Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 7. Aufl. 2014, B.III.3.a, S. 189; Wagner in: MünchKomm-BGB, 8. Aufl. 2020, § 630h BGB, Rn. 7).
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Allerdings wird die Ursächlichkeit eines groben Behandlungsfehlers im Falle seiner entsprechenden generellen Eignung für einen bestimmten Primärschaden gemäß § 630h Abs. 5 S. 1 BGB vermutet. Von einem groben Behandlungsfehler ist auszugehen, wenn der Arzt eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstößt und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf. Bei der Einstufung eines ärztlichen Fehlverhaltens als grob handelt es sich um eine juristische Wertung, die dem Tatrichter und nicht dem Sachverständigen obliegt. Dabei muss diese wertende Entscheidung des Tatrichters jedoch in vollem Umfang durch die vom ärztlichen Sachverständigen mitgeteilten Fakten getragen werden und sich auf die medizinische Bewertung des Behandlungsgeschehens durch den Sachverständigen stützen können (BGH, Urteil v. 26.06.2018 – VI ZR 285/17, NJW 2018, 3382 (3384)). Das Gewicht der subjektiven Vorwerfbarkeit ist insoweit irrelevant, da es bei § 630h Abs. 5 S. 1 BGB allein um eine beweisrechtliche Regelung geht, die an objektive Umstände anknüpft (Wagner in: MünchKomm-BGB, 8. Aufl. 2020, § 630h BGB, Rn. 93).
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II. Für die Einhaltung der ärztlichen Aufklärungspflicht und eine wirksame Einwilligung der Klägerin in den operativen Eingriff ist die Beklagte darlegungs- und beweisbelastet, § 630h Abs. 2 BGB. Der BGH führt in seinem Urteil v. 28.01.2014 – VI ZR 143/13, NJW 2014, 1527f. hierzu Folgendes aus:
„An den dem Arzt obliegenden Beweis dürfen allerdings keine unbilligen und übertriebenen Anforderungen gestellt werden. Danach hat der Tatrichter die besondere Situation, in der sich der Arzt während der Behandlung des Patienten befindet, ebenso zu berücksichtigen wie die Gefahr, die sich aus dem Missbrauch seiner Beweislast durch den Patienten zu haftungsrechtlichen Zwecken ergeben kann. Ist einiger Beweis für ein gewissenhaftes Aufklärungsgespräch erbracht, sollte dem Arzt im Zweifel geglaubt werden, dass die Aufklärung auch im Einzelfall in der gebotenen Weise geschehen ist; dies auch mit Rücksicht darauf, dass aus vielerlei verständlichen Gründen Patienten sich im Nachhinein an den genauen Inhalt solcher Gespräche, die für sie etwa vor allem von therapeutischer Bedeutung waren, nicht mehr erinnern (Anm.: Hervorhebung durch die Kammer). In jedem Fall bedarf es einer verständnisvollen und sorgfältigen Abwägung der tatsächlichen Umstände, für die der Tatrichter einen erheblichen Freiraum hat. Schriftliche Aufzeichnungen im Krankenblatt über die Durchführung des Aufklärungsgesprächs und seinen wesentlichen Inhalt sind nützlich und dringend zu empfehlen. Ihr Fehlen darf aber nicht dazu führen, dass der Arzt regelmäßig beweisfällig für die behauptete Aufklärung bleibt. Allein entscheidend ist das vertrauensvolle Gespräch zwischen Arzt und Patient. Deshalb muss auch der Arzt, der keine Formulare benutzt und für den konkreten Einzelfall keine Zeugen zur Verfügung hat, eine faire und reale Chance haben, den ihm obliegenden Beweis für die Durchführung und den Inhalt des Aufklärungsgesprächs zu führen.
Nach diesen Grundsätzen ist dem Arzt der Nachweis der Aufklärung nicht verwehrt, wenn er sie nicht dokumentiert hat. Auch wenn man in der stationären Behandlung eine Dokumentation der Tatsache eines Aufklärungsgesprächs und des wesentlichen Inhalts erwarten kann, darf an das Fehlen einer Dokumentation keine allzu weitgehende Beweisskepsis geknüpft werden. Aus medizinischer Sicht ist – anders als bei Behandlungsmaßnahmen – eine Dokumentation der Aufklärung regelmäßig nicht erforderlich. Ebenso wie dem Arzt der Nachweis der Aufklärung nicht verwehrt ist, wenn er sie überhaupt nicht dokumentiert hat, muss es ihm möglich sein, über den schriftlich dokumentierten Text hinausgehende Inhalte seines Aufklärungsgesprächs nachzuweisen. Dies gilt sowohl für den Fall, dass das sich realisierende Risiko in dem vom Patienten unterschriebenen Aufklärungsformular nicht erwähnt ist, als auch für den Fall, dass darüber hinaus durch handschriftliche Zusatzeinträge ein weitergehender Gesprächsinhalt dokumentiert ist.
Für den Nachweis einer ordnungsgemäßen Aufklärung ist nicht unbedingt erforderlich, dass sich der Arzt an das konkrete Aufklärungsgespräch (Ort, Umstände, genauer Inhalt) erinnert. Angesichts der Vielzahl von Informations- und Aufklärungsgesprächen, die Ärzte täglich führen, kann dies nicht erwartet werden. Da an den vom Arzt zu führenden Nachweis der ordnungsgemäßen Aufklärung keine unbilligen oder übertriebenen Anforderungen zu stellen sind, darf das Gericht seine Überzeugungsbildung gem. § 286 ZPO auf die Angaben des Arztes über eine erfolgte Risikoaufklärung stützen, wenn seine Darstellung in sich schlüssig und „einiger“ Beweis für ein Aufklärungsgespräch erbracht ist. Dies gilt auch dann, wenn der Arzt erklärt, ihm sei das strittige Aufklärungsgespräch nicht im Gedächtnis geblieben (Anm.: Hervorhebung durch die Kammer). Einen wesentlichen Anhaltspunkt für die Tatsache, dass ein Aufklärungsgespräch stattgefunden hat, gibt dabei das von dem Arzt und dem Patienten unterzeichnete Formular, mit dem der Patient sein Einverständnis zu dem ärztlichen Eingriff gegeben hat.
Dieses Formular ist – sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht – zugleich ein Indiz für den Inhalt des Aufklärungsgesprächs.“
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III. Aus der bloßen Verletzung der ärztlichen Aufklärungspflicht i. S. v. § 630e BGB, die eine unwirksame Einwilligung des Patienten und die Rechtswidrigkeit der durchgeführten Heilbehandlung zur Folge hat, kann grundsätzlich kein Schmerzensgeldanspruch abgeleitet werden. Denn in einem solchen Fall steht allein die Verletzung des Persönlichkeitsrechts des Patienten im Vordergrund. Etwas anderes gilt nur dann, wenn die ohne wirksame Einwilligung erfolgte Heilbehandlung einen Gesundheitsschaden des Patienten zur Folge hatte (Greiner in: Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 7. Aufl. 2014, Kapitel C, Rn. 150 mwN; Pardey in. Geigel, Haftpflichtprozess, 28. Aufl. 2020, Kapitel 6, Rn. 86; Wever in: Gesamtes Medizinrecht, 3. Aufl. 2018, § 630e BGB, Rn. 62).
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IV. Die Kammer ist davon überzeugt, dass die Beklagte den ihr gem. § 630h Abs. 2 BGB obliegenden Beweis einer wirksamen Einwilligung nach § 630d BGB sowie einer ordnungsgemäßen Aufklärung nach § 630e BGB geführt hat, § 286 Abs. 1 S. 1 ZPO.
41
Es bleibt bei der in den Gründen des Beweisbeschlusses vom 12.04.2019 getroffenen vorläufigen Einschätzung (Bl. 249/251), dass eine ordnungsgemäße Risikoaufklärung stattgefunden hat. Weiterhin wird an den in dem dortigen Hinweis dargelegten Maßstäben zur Aufklärungspflicht hinsichtlich etwaiger Behandlungsalternativen festgehalten.
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Allerdings ist nach zwischenzeitlich weiter durchgeführter Beweisaufnahme sowie weiterer sachverständigen Ausführungen und nochmaliger Würdigung der getroffenen Feststellungen davon auszugehen, dass keine realistische risikoärmere Behandlungsalternative bei gleicher Erfolgsaussicht zur Verfügung stand. Während der Sachverständige Dr. ... zunächst ausgeführt hatte, dass eine konservative Behandlung eine rein kosmetische Fehlstellung ohne funktionelle Einschränkung nach sich gezogen hätte, erfolgte im Termin vom 27.01.2020 eine Korrektur der Beurteilung dahingehend, dass mit einer derartigen Fehlstellung zwangsläufig gewisse Einschränkungen der Bewegungsmöglichkeit einhergegangen wären (S. 4 der Stellungnahme vom 26.01.2020). Dies betreffe insbesondere die Handgelenksbewegung nach unten und die Umwendbewegung. Eine solche Fehlentwicklung hätte bei entsprechendem subjektiven Belastungsempfinden einen operativen Eingriff nach sich gezogen (S. 6 des Protokolls, Bl. 295). Der Sachverständige Dr. ... kommt daher zu dem Schluss, dass eine konservative Behandlung im konkreten Fall keine echte Behandlungsalternative dargestellt hätte (S. 7 des Protokolls vom 27.01.2020, Bl. 296 sowie S. 4 der Stellungnahme vom 26.01.2020). Demzufolge musste seitens der behandelnden Ärzte auch keine ausführliche Aufklärung hinsichtlich einer etwaigen konservativen Behandlungsmethode erfolgen, deren Unterlassen vorliegend als Pflichtverletzung gewertet werden könnte.
43
Der Sachverständige Dr. ... hält es aus fachlicher Sicht auch nicht für erforderlich, die im Rahmen der Operation anstehenden einzelnen Handgriffe (u. a. die Reposition und das sog. Gegenbrechen) vorab darzulegen, da dies die laienhaften Vorstellungen und Kenntnisse der Patienten bei Weitem übersteige und im Übrigen je nach konkretem Operationsbefund individuell entschieden werden müsse (S. 3 der Stellungnahme vom 26.01.2020). Dementsprechend reduziert sich die konkret vom ärztlichen Behandler zu erfüllende Aufklärungslast weiter.
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Im Übrigen steht aufgrund der informatorischen Anhörung der Mutter der Klägerin sowie der Vernehmung der Zeugen Dr. ... und Dr. ... fest, dass hinsichtlich der erörterungsbedürftigen Punkte eine ausreichende Information erfolgt ist.
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Zwar ist zuzugeben, dass sowohl der Zeuge Dr. ... (S. 4 des Protokolls v. 07.12.2017, Bl. 78) als auch der Zeuge Dr. ... (S. 8 des Protokolls vom 07.12.2017, Bl. 82) ohne Weiteres einräumten, sich an das konkrete Aufklärungsgespräch mit der Mutter der Klägerin nicht mehr zu erinnern. Dies steht nach den unter A.II aufgezeigten Grundsätzen der höchstricherlichen Rechtsprechung der erfolgreichen Beweisführung jedoch nicht kategorisch entgegen.
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Aus der vorliegenden Anlage B8 geht hervor, dass ein Aufklärungsgespräch stattgefunden hat. Die Mutter der Klägerin gab auch an, dass es sich bei der Unterschrift unter dem Abschnitt „Einwilligung“ um ihre Handschrift handle. Ferner weist die Anlage B8 die Unterschrift des Zeugen Dr. ... auf. Die Rubrik „Einwilligung“ weist u. a. folgenden Inhalt auf:
„Über die geplante Operation sowie evtl. erforderliche Erweiterungen des Eingriffs hat mich/uns die Ärztin/der Arzt in einem Aufklärungsgespräch ausführlich informiert. Dabei konnte(n) ich/wir alle mir/uns wichtig erscheinenden Fragen über Art und Bedeutung des Eingriffes, über spezielle Risiken und mögliche Komplikationen sowie über Neben- und Folgemaßnahmen und ihre Risiken stellen.
Ich/Wir habe(n) keine weiteren Fragen, fühle(n) mich/uns ausreichend informiert und willige(n) hiermit nach angemessener Bedenkzeit in die geplante Operation ein. Mit unvorhersehbaren Erweiterungen des Eingriffes bin ich/sind wir ebenfalls einverstanden. Mein/Unser Einverständnis bezieht sich auch auf eine ggf. erforderliche Bluttransfusion.“
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Hinsichtlich des Beweiswertes der als echte Privaturkunde i. S. v. § 416 ZPO zu behandelnden Anlage B8 ist zu beachten, dass zwar keine gesetzliche Beweisregel hinsichtlich der inhaltlichen (materiellen) Richtigkeit besteht. Soweit die inhaltliche Richtigkeit der beurkundeten Erklärungen in Rede steht, entscheidet der Tatrichter frei über das Ergebnis der Beweisaufnahme, die Auslegung i. S. d. §§ 133, 157 BGB sowie die rechtliche Subsumtion (Huber in: Musielak/Voit, 17. Aufl. 2020, § 415 ZPO, Rn. 3). Allerdings ist auch zu berücksichtigen, dass ein Erfahrungssatz bzw. eine tatsächliche Vermutung dahingehend existiert, wonach eine Privaturkunde grundsätzlich den endgültigen, wohlüberlegten Willen dokumentiert und somit vollständig und richtig ist (Huber in: Musielak/Voit, 18. Aufl. 2021, § 416 ZPO, Rn. 4; Reichold in: Thomas/Putzo, 42. Aufl. 2021, § 416 ZPO, Rn. 3).
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Die Mutter der Klägerin bestätigte im Rahmen ihrer informatorischen Anhörung, dass der sog. Kirschner-Draht Erwähnung fand und zumindest allgemein über Risiken wie z. B. Metallentfernungen und Blutungen gesprochen worden sei (S. 3 des Protokolls vom 07.12.2017, Bl. 77). Diese Schlagworte finden sich auch in Gestalt von handschriftlichen Zusätzen auf der Anlage B8 wieder. Demgegenüber sei nicht über einen die Wachstumsfuge kreuzenden Verlauf des sog. Kirschner-Drahtes sowie das Gegenbrechen geredet worden (S. 2 des Protokolls vom 07.12.2017, Bl. 76). Auch die mit dem Einbringen des Drahtes in Verbindung stehenden Risiken seien nicht thematisiert worden (S. 3 des Protokolls vom 07.12.2017, Bl. 77). Diese Angabe steht im Widerspruch zur eigenen handschriftlichen Bestätigung des Inhalts der Anlage B8, in der unter der Rubrik „Ist mit Komplikationen zu rechnen?“ u. a. auf „Verletzung (…) der Wachstumszonen des Knochens“ sowie „vorzeitigem Wachstumsstillstand“, „Fehlstellungen durch asymmetrisches Wachstum“ sowie „kosmetischer Entstellung“ hingewiesen wurde.
49
Der Zeuge Dr. ... hat ausgeführt, dass er bei entsprechenden Verletzungsbildern stets auf dieselbe Art und Weise belehrt habe. In diesem Zusammenhang werde auf die Reposition und eine im Einzelfall erforderliche Stabilisierung mittels eines sog. Kirschner-Drahtes eingegangen. Ferner werde der Begriff der sog. Grünholzfraktur erläutert (S. 8 des Protokolls vom 07.12.2017, Bl. 82). Das Gegenbrechen sei nicht erwähnt worden (S. 9 des Protokolls vom 07.12.2017, Bl. 83). Der Zeuge Dr. ... identifizierte auf der Anlage B8 die eigene Handschrift und gab an, dass er üblicherweise auf die empfehlenwerteste Behandlungsweise eingehe. Nicht indizierte Methoden blieben unerwähnt. Demgegenüber würden etwaige Verfahrenswechsel während der laufenden Operation zum Gesprächsgegenstand gemacht (S. 4 des Protokolls vom 07.12.2017, Bl. 78). Anschließend demonstrierte der Zeuge anhand der Anlage B8 den Ablauf eines typischen Aufklärungsgesprächs. In diesem Zusammenhang führte der Zeuge aus, dass ein etwaiger Wachstumsstillstand stets angesprochen werde, da dies aus seiner Sicht ein wichtiger Gesichtspunkt sei. Auch der Begriff der Grünholzfraktur und das sog. Gegenbrechen werde erläutert. Er sei bei Kindern darauf „gedrillt“, sein besonderes Augenmerk auf diesen Aspekt zu legen (S. 5 des Protokolls vom 07.12.2017, Bl. 79). Mit hoher Wahrscheinlichkeit sei auch der die Wachstumsfuge kreuzende Verlauf des Drahtes besprochen worden, da es sich hierbei um den abteilungsinternen Standard gehandelt habe. Dasselbe gelte für etwaige spätere Fehlstellungen des Handgelenks (S. 7 des Protokolls vom 07.12.2017, Bl. 81).
50
Das Gericht hat keinen Anlass daran zu zweifeln, dass dies auch im vorliegenden Fall geschehen ist. Es entspricht der allgemeinen Lebenserfahrung und auch der Zweckmäßigkeit, dass sich jemand, der eine Vielzahl anderer Personen über eine bestimmte Angelegenheit zu informieren hat, eine umfassende Standarderklärung zurechtlegt und diese bei Bedarf gewissermaßen auswendig wiedergeben kann (so beispielsweise auch ein Richter, der Zeugen vor ihrer Aussage zu belehren hat). Der damit beabsichtigte Ökonomisierungs- und Absicherungseffekt wäre zunichte gemacht, wenn man ohne triftigen Grund von der eigenen Standarderklärung abweichen würde. Dass ein solcher Grund im vorliegenden Fall vorgelegen haben könnte, lässt sich auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen nicht bejahen.
51
Ferner hat der Sachverständige Dr. ... dargelegt, dass eine dringliche Notsituation vorgelegen habe. Das Einräumen weiterer Bedenkzeit hätte aus seiner Sicht zu einer unnötigen zusätzlichen psychischen Belastung des kindlichen Patienten geführt (S. 11 des Protokolls vom 07.03.2019, Bl. 239). Diese auch durch den Zeugen Dr. ... (S. 4 des Protokolls vom 07.03.2019, Bl. 232) geteilte Einschätzung ist nach Auffassung der Kammer realistisch und lebensnah. Angesichts der Art der vorliegenden Verletzung und der mit dieser einhergehenden Schmerzen war unter dem Gesichtspunkt des Patientenschutzes eine zügige Entscheidungsfindung geboten.
52
Im Ergebnis ist damit von einer wirksam erteilten Einwilligung in den operativen Eingriff auszugehen. Selbst wenn man den Standpunkt vertreten sollte, dass die ärztliche Aufklärung vorliegend nicht in der gebotenen Tiefe und Ausführlichkeit erfolgt sein sollte, könnte hierauf allein aus den unter A.III dargelegten Rechtsgründen kein Schmerzensgeldanspruch der Klägerin gestützt werden.
53
Aus den folgenden Ausführungen ergibt sich, dass die Klägerin nicht den Nachweis geführt hat, die Heilbehandlung in Gestalt des operativen Eingriffs habe einen kausalen Gesundheitsschaden hervorgerufen.
54
V. Die klägerische Behauptung, dass die gewählte Behandlungsmethode aufgrund des Alters der Patientin medizinisch nicht indiziert gewesen sei und eine erfolgversprechende konservative Behandlungsmethode zur Verfügung gestanden hätte, ist nicht erwiesen, § 286 Abs. 1 S. 1 ZPO.
55
Insoweit kann zunächst auf die bereits unter A.IV teilweise erfolgen Ausführungen Bezug genommen werden. Im Übrigen sind die folgenden Überlegungen entscheidungserheblich:
56
Der Sachverständige Dr. ... hat in seinem Gutachten vom 20.05.2018 auf S. 5 (Bl. 112) ausgeführt, dass trotz einer unzureichenden intraoperativen Befundung von einer Indikation der Fixation mittels eines sog. Kirschner-Drahtes auszugehen ist. Es handle sich um eine Behandlungsmethode, die in der medizinischen Fachliteratur ebenfalls empfohlen werde (S. 8 des Gutachtens, Bl. 115). Ob und inwieweit die Voraussetzungen für den Einsatz des Drahtes gegeben seien, könne erst intraoperativ beurteilt werden (S. 8 der Stellungnahme vom 29.10.2018, Bl. 162).
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Seiner Meinung nach wäre es zwar möglich gewesen, den Draht abseits der Wachstumsfuge durchzuführen (S. 6 des Gutachtens, Bl. 113). Dies hat der Sachverständige am 07.03.2019 im Termin nochmals bestätigt (S. 9 des Protokolls, Bl. 237). Der hier gewählte Weg sei jedoch nur mit einem geringfügig erhöhten Risiko verbunden (S. 7 des Gutachtens, Bl. 114) und habe dem Facharztstandard entsprochen (S. 11 des Protokolls vom 07.03.2019, Bl. 239). Die durchgeführte Behandlung sei angesichts der deutlichen Abknickung von knapp 30 Grad keinesfalls fehlerhaft gewesen (S. 5f. des Gutachtens, Bl. 114). Hierbei handele es sich um die lehrbuchmäßige Standard-Vorgehensweise (S. 9 des Protokolls vom 07.03.2019, Bl. 237 wie auch S. 2 der Stellungnahme vom 26.01.2020). Eine Reposition sei bei einem derartigen Verletzungsbild unumgänglich. Andere Behandlungsmethoden mit Draht ohne gleichzeitige Durchkreuzung der Wachstumsfuge seien aufwendiger und schwieriger durchzuführen. Insoweit könnten sich u. a. Probleme im Bereich der Rotationsstabilität ergeben. Es sei zwar theoretisch denkbar, die Verletzung konservativ zu behandeln und eine eventuelle Spontankorrektur mit dem Wachstum abzuwarten. Zu berücksichtigen sind hier aber die bereits im Zusammenhang mit der Frage der ordnungsgemäßen Aufklärung thematisierten Negativ-Folgen der äußerlich sichtbaren Fehlstellung in Verbindung mit einer funktionellen Beschränkung (s. o.).
58
In der konkreten Situation eines kindlichen Patienten, der unter starken Schmerzen gelitten habe, sei die Verwendung des sog. Kirschner-Drahtes aufgrund der raschen Konsolidierung der Fraktur bei einer instabilen oder zurückfedernden Reposition das Mittel der Wahl. Bei weiterem Zuwarten drohe ggf. ein offener revidierender Eingriff, bei dem ein Meißel eingesetzt werden müsste. Im Übrigen hätte sich die Sachlage aus medizinischer Sicht am nächsten Tag identisch dargestellt, sodass auch das zeitliche Moment keine Änderung der Sachlage mit sich gebracht hätte (S. 10 des Protokolls vom 07.03.2019, Bl. 238).
59
Im Termin am 27.01.2020 erläuterte der Sachverständige Dr. ... außerdem, dass die vorliegende Abknickung nach dem medizinischen einschlägigen Standardwerk eine Kirschnerdrahtfixierung erfordere, da andernfalls ein hohes Risiko einer erneuten Knochenverschiebung bestehe (S. 4 des Protokolls, Bl. 293).
60
Angesichts dieser Erläuterungen kann von einer fehlerhaften Wahl der Behandlungsmethode keine Rede sein.
61
VI. Die im vorliegenden Fall zu bejahenden Dokumentationsdefizite wirken nicht haftungsbegründend, da aufgrund der Feststellungen der Sachverständigen die Vermutung des § 630h Abs. 3 BGB widerlegt ist.
62
Der Sachverständige Dr. ... bestätigt zwar in seinem Gutachten vom 20.05.2018 an verschiedenen Stellen wie auch in seiner Stellungnahme vom 29.10.2018 (S. 2, Bl. 156), dass während der Operation keine Dokumentation in dem Maße stattgefunden habe, wie man es sich aus ärztlicher Sicht wünschen würde. Dies betreffe insbesondere die Stellung und Beweglichkeit des Handgelenks bzw. Unterarms, die Durchführung einer Messung nach der sog. Neutral-NullMethode, die Art und Weise des Repositionsmanövers (Längszug, Gegenhalt, Umbiegungsmanöver mit Gegenhalt, Repositionsgefühl bzw. -geräusch, Anzahl der Versuche), die Stärke des verwendeten Drahtes etc.). Dennoch merkt der Sachverständige in seiner Stellungnahme vom 29.10.2018 auch für einen medizinischen Laien nachvollziehbar und plausibel an, dass diese Dokumentationsmängel nicht kausal für die Schädigung der Wachstumsfuge gewesen sein können (dort S. 4, Bl. 158).
63
VII. Die klägerische Behauptung, dass dem Behandler während des operativen Eingriffs ein handwerklicher Fehler unterlaufen sei, der eine Beschädigung, Verödung bzw. Verknöcherung sowie eine Fehlstellung zur Folge gehabt hätte, ist nicht erwiesen, § 286 Abs. 1 S. 1 ZPO.
64
Der Sachverständige Dr. ... kommt in seinem Gutachten vom 20.05.2018 auf S. 5 (Bl. 112) zunächst zu dem Ergebnis, dass es sich bei der Brückenbildung in der stärker wachsenden Speichenfuge des Handgelenks um eine schicksalhafte Folge handle, die keinesfalls einer sachgerechten Spickung des sog. Kirschner-Drahtes zugeschrieben werden könne. Es kämen mehrere mögliche Schadensursachen in Betracht. Von dem Draht selbst könne keine jedenfalls derartige Hitzewirkung ausgehen, dass dies die klägerseits behaupteten Auswirkungen nach sich ziehe.
65
Die Art der Fraktur verdeutliche, dass der Unfall potentiell eine ausreichende Wucht aufgewiesen habe, um die Wachstumsfuge nachhaltig zu schädigen. Eine tatsächlich erfolgte Kompression der Wachstumsfuge aufgrund des Sturzes könne auf präoperativen Röntgenbildern allerdings nicht identifiziert werden (S. 13 des Protokolls vom 07.03.2019, Bl. 241 sowie S. 3 des Protokolls vom 27.01.2020, Bl. 292). Insoweit habe die tatsächlich durchgeführte Röntgenaufnahme in 2 Ebenen dem Facharztstandard entsprochen (S. 4 des Protokolls vom 27.01.2020, Bl. 293).
66
Mehrfache Bohrungen durch die Wachstumsfuge scheiden auf Grundlage der getroffenen Feststellungen als Ursache der klägerischen Beschwerden von vornherein aus. Der Sachverständige Dr. ... stellt in seinem Gutachten vom 18.08.2019 auf S. 13 (Bl. 268) fest, dass Zeichen einer mehrfachen Bohrung auf den ihm vorliegenden Röntgenaufnahmen nicht erkennbar seien. Dies wurde durch den Sachverständigen im Termin am 27.01.2020 nochmals wiederholt (S. 3 des Protokolls, Bl. 292). Aus dem ergänzend eingeholten radiologischen Gutachten der Sachverständigen Dr. ... vom 10.04.2021 (dort S. 6 und 11, Bl. 360, 365) ergibt sich ebenfalls, dass tatsächlich nur ein einziger Bohrkanal für den hier verwendeten Draht gesetzt wurde. Zuletzt hat der Zeuge Dr. ... am 07.03.2019 ausgeführt, dass seiner Erinnerung nach nur einmal gebohrt worden sei. Im Falle mehrfacher Bohrung wäre dies im Operationsbericht erwähnt worden (S. 5f. des Protokolls, Bl. 233f.).
67
In der Stellungnahme des Sachverständigen Dr. ... vom 29.10.2018 wurde außerdem nachvollziehbar erläutert, dass ein möglicherweise tatsächlich stattgefundenes Gegenbrechen nicht zu den geltend gemachten Beschwerden führen konnte, da dieses fernab der Wachstumsfolge durchgeführt werde (dort S. 5, Bl. 159). Vor diesem Hintergrund ist es letztlich nicht entscheidungserheblich, dass die Sachverständige Dr. ... in ihrem schriftlichen radiologischen Sachverständigengutachten vom 10.04.2021 (dort S. 2, Bl. 356) wie auch der Zeuge Dr. ... im Rahmen seiner zweiten Vernehmung (S. 4 des Protokolls vom 07.03.2019, Bl. 232) ein sog. Gegenbrechen eindeutig bejaht hat, obwohl der Sachverständige Dr. ... im Rahmen seiner Vernehmung vom 07.03.2019 (Protokoll S. 9, Bl. 237) sowie in seinem Gutachten vom 18.08.2019 (dort S. 13f., Bl. 268f.) gewisse Zweifel geäußert hatte.
68
Die ursprünglich im Gutachten vom 20.05.2018 auf S. 7 (Bl. 114) geäußerte Vermutung, dass die vermeintlich lange Operationsdauer von 1,5 Stunden auf mögliche wiederholte kraftvolle Repositionsmanöver hindeute, stellt eine Hypothese dar, für die es keine greifbaren Anhaltspunkte gibt. Der Sachverständige Dr. ... hat sich im Nachgang in der Stellungnahme vom 29.10.2018 dahingehend korrigiert, dass der Eingriff lediglich eine Zeitspanne von 25 Minuten in Anspruch genommen habe (dort S. 3, Bl. 157), sodass der entsprechenden Annahme die Grundlage entzogen ist.
69
In seiner Stellungnahme vom 29.10.2018 führte der Sachverständige Dr. ... weiter aus, dass eine einmalige Überkreuzung der Wachstumsfuge mit dem sog. Kirschner-Draht als Ursache der Schädigung wenig wahrscheinlich sei. Eine operationsbedingte Brückenbildung könne nicht zweifelsfrei bejaht werden. Denkbar seien auch andere Ursachen und/oder eine additive Wirkung verschiedener Mechanismen (S. 2 der Stellungnahme, Bl. 156 sowie S. 3 der Stellungnahme vom 26.01.2020).
70
Im Kern hält der Sachverständige den operativen Eingriff (trotz unterschiedlicher beschreibender Begrifflichkeiten) zwar für eine unter mehreren theoretisch möglichen Ursachen (S. 4 der Stellungnahme vom 29.10.2018, Bl. 158), kann diese jedoch nicht aufgrund konkreter Anhaltspunkte verifizieren. Im Übrigen konnte der Sachverständige keine belastbare Aussage dahingehend treffen, welcher Vorgang aus medizinischer Sicht mit welchem Grad an Sicherheit am ehesten als kausaler Schadensmechnismus angenommen werden muss. Auch die Fachliteratur könne im Hinblick auf die Verantwortlichkeit bestimmter Faktoren auf eine negative Entwicklung der Wachstumsfuge keine befriedigenden Antworten geben. Hierzu würden unterschiedliche Ansichten geäußert. Das Schrifttum neige allerdings dazu, einen Wachstumsstop aufgrund eines eingebohrten Drahtes als seltenes Ereignis einzustufen (S. 6f. der Stellungnahme, Bl. 160f.). Vollständige Klarheit könne insoweit nur die Durchführung einer Überblicksstudie ergeben (S. 12 des Protokolls vom 07.03.2019, Bl. 240). Ob und inwieweit eine konservative Behandlung ebenfalls eine Schiefstellung zur Folge gehabt hätte, lasse sich nicht valide beurteilen (S. 11 des Protokolls vom 07.03.2019, Bl. 240).
71
Bei dem chronifizierten Schmerzsyndrom handle es sich nicht um eine unmittelbare Folge der Wachstumsstörung, sondern eine mittelbare Folgewirkung der zwischenzeitlich erfolgten Korrekturoperation. Diese erschwere ohnehin eine verlässliche aktuelle Bewertung des rechten Handgelenks (S. 8f. des Gutachtens, Bl. 115f.). In der Stellungnahme vom 29.10.2018 wird diese Einschätzung nochmals bekräftigt (dort S. 4, Bl. 158).
72
VIII. Auch die Behauptung, dass im Zuge der Nachuntersuchung ein operationsbedingter Knorpelschaden im rechten Handgelenk übersehen worden sei, konnte nicht verifiziert werden, § 286 Abs. 1 S. 1 ZPO.
73
Insoweit fehlt es schon aufgrund der unter A.VII erfolgten Ausführungen am Nachweis, dass es überhaupt aufgrund des ärztlichen Eingriffs zu einem Knorpelschaden gekommen ist. Im Übrigen hat die Klägerin bis zuletzt schon gar nicht substantiiert vorgetragen, wann und bei welcher Nachuntersuchung die entsprechende Unterlassung begangen worden sein soll.
74
Die Nebenforderungen teilen das Schicksal der Hauptforderung.
75
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO.
76
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 709 S. 1 und S. 2 ZPO.