Inhalt

AG Ingolstadt, Beschluss v. 10.03.2021 – 4 XIV 70/21
Titel:

Zurückschiebungshaft - Fluchtgefahr

Normenkette:
Dublin III-VO Art. 2 lit. n
Leitsatz:
Die in Art. 2 lit. n Dublin III-VO bezeichneten Kriterien sind nur als Anhaltspunkte für das Bestehen von Fluchtgefahr zu verstehen und haben lediglich Indizwirkung. Grundsätzlich bedarf es einer umfassenden Betrachtung aller Umstände des Einzelfalls. (Rn. 23 – 24) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Zurückschiebungshaft, Fluchtgefahr, Indizwirkung, umfassende Betrachtung, Umstände des Einzelfalls
Rechtsmittelinstanzen:
LG Ingolstadt, Beschluss vom 20.05.2021 – 24 T 714/21
BGH Karlsruhe, Beschluss vom 11.06.2024 – XIII ZB 36/21
Fundstelle:
BeckRS 2021, 66609

Tenor

1. Gegen d. Betroffenen wird die Verlängerung der Sicherungshaft angeordnet.
2. Die Haft endet nunmehr spätestens am 09.04.2021.
3. Die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung wird angeordnet.

Gründe

I.
1
D.Betroffene ist afghanischer Staatsangehöriger.
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D. Betroffene reiste am 11.02.2021 von Österreich kommend unerlaubt in die Bundesrepublik Deutschland ein, ohne den für die Einreise erforderlichen Pass oder Passersatz (§§ 3 I, 14 I Nr. 1 AufenthG) oder den erforderlichen Aufenthaltstitel zu besitzen (§§ 4 Abs. 1, 14 I Nr. 2 AufenthG).
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Die beteiligte Ausländerbehörde beantragte am 04.03.2021 gegen d. Betroffenen gemäß §§ 71 III Nr. 1 i.V.m. 57 II AufenthG i.V.m. Art. 28 der VO (EU) Nr. 604/2013, 420, 425 III FamFG, die Verlängerung der Zurückschiebehaft bis zur vollzogenen Zurückschiebung, längstens jedoch bis zum 09.04.2021 anzuordnen. Hinsichtlich der Haftdauer wird auf den Verlängerungsantrag verwiesen.
II.
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Im Rahmen der heutigen Vorführung wurde d. Betroffenen gemäß § 420 I 1 FamFG in der gebotenen Weise vor der Entscheidung rechtliches Gehör gewährt.
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Der Haftantrag der beteiligten Ausländerbehörde ist d. Betroffenen vor der Anhörung übersetzt und damit der gesamte Antragsinhalt bekannt gegeben worden. Ein Abdruck des Antrags ist d. Betroffenen überlassen worden. D. Betroffene war in der Lage, sich zu sämtlichen Angaben der beteiligten Behörde zu äußern. Es handelt sich vorliegend um einen überschaubaren Sachverhalt, den d. Betroffene vor der Anhörung ausreichend erfassen konnte. Zudem hatte er bereits aufgrund des Erstbeschlusses des AG Passau Kenntnis von den tatsächlichen Umständen, die die Ausländerbehörde dem Antrag zugrunde gelegt hat.
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Bei der mündlichen Anhörung am 10.03.2021 erklärte d. Betroffene,:
Ich war in Österreich, mein Asylverfahren wurde aber negativ verbeschieden und ich musste Österreich verlassen. Dass ich nach Deutschland nicht einreisen durfte, wusste ich nicht. Ich will auch nicht nach Frankreich, ich habe das nur gesagt, weil ich Angst hatte als mich die Polizei in Deutschland aufgegriffen hatte. Ich wollte eigentlich nach Schleswig-Holstein zurück.
Nach Österreich will ich nicht, weil von dort werde ich nach Afghanistan abgeschoben. Das will ich nicht.
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Im übrigen wird auf die Niederschrift vom heutigen Tag Bezug genommen.
III.
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1. Die zuständige Ausländerbehörde hat den Haftantrag zulässig und ausreichend begründet.
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Der vorliegende Haftantrag genügt den Darlegungsanforderungen der obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. BGH vom 15.09.2011, Az V ZB 123/11; vom 10.05.2012, Az V ZB 246/11). Insbesondere werden verlangt – wie hier erfolgt – Darlegungen zu der zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Zurückschiebungsvoraussetzungen, zu der Erforderlichkeit der Haft, zu der Durchführbarkeit der Zurückschiebung und zu der notwendigen Haftdauer, §§ 425 III, 417 II 2 Nr. 3-5 FamFG. Das Darlegungserfordernis soll gewährleisten, dass das Gericht die Grundlagen erkennt, auf welche Erwägungen die Behörde ihren Antrag stützt, und dass das rechtliche Gehör d. Betroff. durch die Übermittlung des Haftantrags nach § 23 II FamFG gewahrt wird, wobei die Darlegungen knapp gehalten sein dürfen, solange sie die für die richterliche Prüfung wesentlichen Punkte des Falles ansprechen (BGH FGPrax 2011, 317).
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Das Gericht erachtet diese Voraussetzungen unter Bezugnahme auf I. für erfüllt.
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Insbesondere hat die Ausländerbehörde auch schlüssig und nachvollziehbar dargelegt, warum die Verlängerung der Sicherungshaft erforderlich und unverzichtbar ist (vgl. auch BGH vom 12.09.2013, Az V ZB 171/12).
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Sie trägt hierzu plausibel vor:
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In Anwendung der Dublin III-VO soll der Betroffene nach Österreich zurückgeschoben werden.
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Die Gesamtdauer des Verfahrens beläuft sich auf 8 Wochen.
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Die bisherigen 3 Wochen Haftdauer der vorläufigen Freiheitsentziehung wurden benötigt für die Bearbeitungszeit bei der Bundespolizei und beim BAMF zwischen Aufgriff und Eingang des Wiederaufnahmegesuchs beim zuständigen Mitgliedsstaat. Sowie die zweiwöchige Antwortfrist des zuständigen Staates, hier Österreich.
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Nach Zustimmung von Österreich zur Übernahme der Person, setzt sich der jetzt beantragte Zeitansatz von weiteren 5 Wochen für die endgültige Freiheitsentziehung wie folgt zusammen:
1 Woche, da der Betroffene am 02.03.2021 einen erneuten Asylantrag beim BAMF stellte, muss der Betroffene durch das BAMF angehört werden. Die Anhörung ist für den 09.03.2021 geplant.
2 Wochen für die Bescheiderstellung und -Übersendung durch das BAMF an den Betroffenen, die Rechtsmittelfrist gem. § 34a AsylG die dem Betroffenen eingeräumt wird und die Übersendung der Überstellungsdaten durch den zuständigen Mitgliedstaat an Deutschland.
2 Wochen für die Organisation der tatsächlichen Überstellung durch die Bundespolizei.
Da Dublinabschiebungen nach Österreich nur noch über den Flughafen möglich sind, ist eine Überstellung von freien, möglichen Flugkapazitäten abhängig. Außerdem verlangt der Mitgliedstaat Österreich eine 10 Werktage Vorankündigung der Maßnahme.
2 weitere Tage falls der Flug aus Gründen scheitern sollte, die der Betroffene zu vertreten hat, muss die Person erneut vorgeführt werden.
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Es sind keine Umstände ersichtlich, die einer Durchführung der Zurückschiebung innerhalb der nächsten 3 Monate aus Gründen entgegenstehen, die der Betroffene nicht zu vertreten hat.
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Die Dauer der angeordneten Haft wird somit von der Behörde glaubhaft mit den für die Organisation und Durchführung der Zurückschiebung nach Österreich notwendigen Erfordernissen, mithin mit der voraussichtlichen Dauer des Rücknahmeverfahrens begründet. Die im Antrag angegebenen einzelnen Zeitspannen sind für die organisatorische Realisierung der Zurückschiebung einerseits erforderlich, andererseits aber auch ausreichend.
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Sollte das Rücknahmeverfahren vor Ablauf der Frist abgeschlossen sein, so ist die Behörde aufgrund des Beschleunigungsgebots gehalten, d. Betroffenen unverzüglich abzuschieben, vgl. auch § 62 I 2 AufenthG.
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Das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft liegt vor, § 72 IV AufenthG.
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2. Mit dem unter I. geschilderten Sachverhalt liegen die Voraussetzungen einer unerlaubten Einreise gemäß § 14 Abs. 1 AufenthG vor. D. Betroffene ist damit auch vollziehbar ausreisepflichtig (§ 50 Abs. 1, 58 Abs. 2 AufenthG).
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3. Aufgrund der unter Ziffer 2 festgestellten vollziehbaren Ausreisepflicht besteht der Haftgrund des § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 AufenthG.
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Es ist auch der Haftgrund der erheblichen Fluchtgefahr iSv Art. 28 II, 2 n) der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 iVm § 2 Abs. 15 S. 1 iVm § 2 Abs. 14 AufenthG gegeben.
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Fluchtgefahr idS ist das Vorliegen von Gründen im Einzelfall, die auf objektiven gesetzlich festgelegten Kriterien beruhen und zu der Annahme Anlass geben, dass sich der Betroffene dem laufenden Überstellungsverfahren möglicherweise durch Flucht entzieht. Diese Fluchtgefahr hat sich an den in §§ 2 XV 1, XIX und 2 XV 2 AufenthG etablierten Kriterien zu bemessen. Diese Kriterien sind allerdings nur als Anhaltspunkte für das Bestehen von Fluchtgefahr zu verstehen und haben lediglich Indizwirkung. Grundsätzlich bedarf es einer umfassenden Betrachtung aller Umstände des Einzelfalls.
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Hier besteht der begründete Verdacht, dass sich der Betroffene der Zurückschiebung durch Flucht oder Untertauchen entziehen will.
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Die Annahme der Entziehungsabsicht setzt konkrete Umstände, insbesondere Äußerungen oder Verhaltensweisen d. Betroffenen voraus, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit darauf hindeuten oder es nahelegen, dass d. Betroffene beabsichtigt unterzutauchen oder die Zurückschiebung in einer Weise zu behindern, die nicht durch einfachen, keine Freiheitsentziehung bildenden Zwang überwunden werden kann (BGH vom 03.05.2012, Az V ZB 244/11; Renner, Ausländerrecht, § 62 AufenthG Rz 76).
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Es besteht aus folgenden Gründen der Verdacht, dass der Betroffene das Bundesgebiet nicht freiwillig verlässt, sondern vielmehr, dass er untertaucht und sich der Zurückschiebung entziehen wird. § 62 Abs. 3a Nr. 4 AufenthG (Aufenthalt entgegen Einreise-/Aufenthaltsverbots ohne Betretenserlaubnis nach § 11 Abs. 8 AuenthG).
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Gegen den Betroffenen besteht ein Einreise-/Aufenthaltsverbot der Erstaufnahmeeinrichtung Rendsburg, befristet bis zum 19.11.2021. Die Person wurde am 19.11.2020 nach Österreich abgeschoben. Vor der Abschiebung muss die Ausländerbehörde dem Betroffenen das Einreise-/Aufenthaltsverbot eröffnet haben, daher wird die Aussage des Betroffenen, er habe nichts von dem Verbot gewusst, als Schutzbehauptung gewertet. Seine Einreise und der Aufenthalt in Deutschland trotz des bestehenden Einreise-/Aufenthaltsverbotes lassen die Annahme zu, dass der Betroffene behördlichen Anweisungen nicht Folge leistet und sich diesen widersetzt. § 62 Abs. 3b Nr. 1 AufenthG (Identitätstäuschung in einer für ein Abschiebungshindernis erheblichen Weise ohne selbstständige Berichtigung der Angabe)
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Der Betroffene wies sich bei der Kontrolle mit einer Kopie seiner ungültigen Aufenthaltsgestattung aus. Dies erweckt den Anschein, der Betroffene habe über seinen illegalen Aufenthalt bei der Kontrolle hinwegtäuschen wollen, indem er bei den kontrollierenden Beamten den Anschein erwecken wollte, eine gültige Aufenthaltsgestattung zu besitzen, die er lediglich zur Kontrolle nicht im Original mitführte. Seine Aussage, dass es sich bei der Kopie der Aufenthaltsgestattung lediglich um ein Andenken handelt, wird als Schutzbehauptung gewertet. § 2 Abs. 14 Nr. 1 AufenthG (Verlassen des Mitgliedsstaates vor Beendigung des Asylverfahrens/Zuständigkeitsbestimmung und Umstände der Feststellung deuten auf Rückkehrunwilligkeit hin)
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Es bestehen EURODAC-Treffer von Österreich. Daher besteht die Annahme der Zuständigkeit Österreichs i.S.d. DÜ III VO. Dies lässt auch die Annahme zu, dass Österreich nach wie vor für das Asylverfahren bzw. die Aufenthaltsbeendigung zuständig ist. Die getätigte Aussage, dass der Betroffene nach Frankreich reisen will, weil Österreich ihn nach Afghanistan abschieben will, deuten auf eine Rückkehrunwilligkeit hin.
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Die Würdigung der Gesamtumstände ergibt, dass damit die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Betroffene den geplanten aufenthaltsbeendenden Maßnahmen entziehen wird, sehr hoch ist.
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Somit liegt in diesem Fall die erhebliche Fluchtgefahr i. S. d. Art. 28 Abs. 2, Art. 2 Buchst. n) DÜ III VO vor.
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Über den Haftgrund nach Art. 28 Abs. 2, Art. 2 Buchst. n) DÜ III VO i.V.m. §§ 62 Abs. 3a u. 3b, 2 Abs. 14 AufenthG hinaus verfügt der Betroffene über keine familiären oder sozialen Bindungen in Deutschland, er ist hier arbeits- und wohnsitzlos.
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Die Haftvoraussetzungen gem. Art. 28 Abs. 2, Art. 2 Buchst. n) Dublin III – VO i.V.m §§ 62 Abs. 3a u. 3b, 2 Abs. 14 AufenthG sind somit erfüllt.
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Die Fluchtgefahr ist auch als erheblich zu qualifizieren.
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Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der Begriff der Erheblichkeit als Begriff des Europarechts autonom auszulegen ist (amtliche Begründung, BT-Drucksache 18/4097, S. 32). Im Rahmen der Auslegung ist der Erwägungsgrund 20 der Dublin III-VO zu berücksichtigen, wonach die Inhaftierung lediglich als letztes Mittel – weniger einschneidende Maßnahmen sind nicht wirksam anwendbar – nach durchgeführter Verhältnismäßigkeitsprüfung anzuordnen ist.
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Aufgrund der Gesamtumstände erachtet das Gericht diese Erheblichkeit für gegeben.
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Im übrigen verfügt d. Betroffene weder über einen festen Wohnsitz noch sonstige soziale Bindungen im Bundesgebiet. Er verfügt darüber hinaus nicht über ausreichende finanzielle Mittel, die es ihm ermöglichen würden, das Bundesgebiet auf legale Weise zu verlassen.
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Letztlich wird ergänzend auf die Gründe des Antrages sowie der Erstentscheidung des AG Passau vom 12.02.2021 Bezug genommen.
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4. Gründe, die ein Absehen von der Sicherungshaft gem. § 57 Abs. 1, Abs. 3, 62 Abs. 3 S. 3 AufenthG rechtfertigen können, sind nicht ersichtlich bzw. nicht glaubhaft gemacht.
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Im übrigen liegen Zurückschiebungshindernisse nicht vor. Ob die Zurückschiebung nachÖsterreich zu Recht erfolgt, ist nicht vom Haftrichter, sondern von den jeweils zuständigen Verwaltungsgerichten zu entscheiden (BGH vom 25.02.2010, Az V ZB 172/09); der Haftrichter ist letztlich nicht befugt, über das Vorliegen von Abschiebungshindernissen – mit wenigen Ausnahmen, die eine Sachverhaltsermittlung des Haftrichters erfordern (vgl. hierzu BGH aaO) – zu entscheiden.
42
Umstände, die einer Durchführung der Abschiebung innerhalb der beantragten Frist aus Gründen, die d. Betroffene nicht zu vertreten hat, entgegenstehen, sind nicht erkennbar (§ 62 Abs. 3 S. 4 AufenthG).
43
5. Ein milderes Mittel als die Inhaftierung des Betroffenen im Sinne von § 62 Abs. 1 AufenthG ist nicht ersichtlich. Insbesondere ist – angesichts der unter Ziffer 3 dargelegten Gegebenheiten – die Hinterlegung von Ausweispapieren bzw. eine Meldeauflage bzw. die Auflage, sich an einem bestimmten Ort aufzuhalten, vorliegend nicht ausreichend.
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Das Verfahren beruht auf den §§ 416, 418, 419, 420, 421, 425 III FamFG.
45
Die Anordnung der sofortigen Wirksamkeit der Entscheidung beruht auf § 422 Abs. 2 FamFG.