Titel:
Sittenwidrigkeit, Abschalteinrichtung, Tatbestandswirkung, Vorläufige Vollstreckbarkeit, Inverkehrbringen, Elektronischer Rechtsverkehr, Kraftfahrt-Bundesamt, Elektronisches Dokument, Rückzahlung des Kaufpreises, Annahmeverzug, Streitwert, Typgenehmigung, Gesetzesverstoß, Sittenverstoß, Feststellungsinteresse, Verwaltungsakt, Unzulässigkeit, Rückabwicklung des Kaufvertrags, Verwaltungsgerichte, Klagepartei
Schlagworte:
Zulässigkeit der Klage, Annahmeverzug, Unzulässige Abschalteinrichtung, Vorsätzliche Täuschung, Sittenwidrigkeit, Schutzgesetzcharakter, Beweiserhebung
Rechtsmittelinstanzen:
OLG Nürnberg, Hinweisbeschluss vom 10.06.2022 – 5 U 3276/21
OLG Nürnberg, Beschluss vom 19.07.2022 – 5 U 3276/21
BGH Karlsruhe, Urteil vom 04.06.2024 – VIa ZR 1160/22
Fundstelle:
BeckRS 2021, 66032
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Der Streitwert wird auf 37.989,53 € festgesetzt.
Tatbestand
1
Der Kläger macht gegen die Beklagte Rückabwicklung eines Kaufvertrags geltend.
2
Die Klagepartei kaufte das streitgegenständliche Fahrzeug Pkw Mercedes-Benz GLK250 BLUETEC 4MATIC (Fahrgestellnummer …) im Juni 2016 zu einem Kaufpreis von 43.744,24 € brutto. Bei dem Fahrzeug handelte es sich um einen Gebrauchtwagen mit einer damaligen Laufleistung von 39.100 km. Die Beklagte ist Herstellerin des Fahrzeugs. Im Fahrzeug ist ein Motor des Typs OM 651 verbaut.
3
Mit Schreiben vom 04.11.2020 forderte der Kläger die Beklagte zur Rückzahlung des Kaufpreises gegen Rückgabe und Rückübereignung des Fahrzeugs auf. Mit Schreiben vom 11.11.2020 wurde dies seitens der Beklagten abgelehnt.
4
Der Kläger macht geltend, dass der im Fahrzeug verbaute Motor vom Typ OM 651 mit mehreren illegalen Abschaltvorrichtungen ausgestaltet sei, so dass das volle Emissionskontrollsystem des Fahrzeugs ausschließlich auf dem Prüfstand funktionstüchtig sei und eine über die normale Funktionsweise des Abgasreinigungssystems hinausgehende Reinigung stattfinde. Hierdurch würden auf dem Prüfstand geringere Stickoxidwerte (NOx) erzielt und auch nur dann die nach der jeweils geltenden Abgasnorm vergebenen NOx-Grenzwerte eingehalten. Im normalen Fahrbetrieb sei die Abgasreinigung temperaturbedingt gänzlich abgeschaltet oder würde diese zumindest über ein zuträgliches Maß hinaus vermindert, wodurch die Emissionen um ein Vielfaches höher seien („Abschaltmodus“). Die gesetzlichen Abgaswerte würden hierdurch bei weitem nicht eingehalten.
5
Die Beklagte habe die Software des Motors derart modifiziert, dass nur auf dem Prüfstand Abgaswerte gemessen würden, die auch die angegebene EURO-Abgasnorm einhalte. Entsprechende Werte zur Einhaltung der Abgasnorm EURO 5 würden bei normalem Betrieb auf der Straße hingegen ausschließlich dann erreicht, wenn exakt die gleichen Bedingungen vorherrschten, die von den Durchführungsverordnungen auf dem Prüfstand gefordert würden.
6
Auf diesem Wege habe sich die Beklagte – auf der Grundlage gefälschter Abgasmessungen – auch für das streitgegenständliche Fahrzeug eine durch das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) ausgestellte EU-Typengenehmigung erschlichen, die sie ansonsten nicht erhalten hätte.
- 1.
-
Die Beklagte wird verurteilt, Zug um Zug gegen Rückgabe und Übereignung des Fahrzeuges Mercedes Benz-GLK250BLUETEC 4MATIC mit der Fahrgestellnummer … an die Klagepartei 43.744,24 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem Basiszinssatz seit 12.11.2020 abzüglich einer Nutzungsentschädigung in Höhe von 5.754,71 Euro zu zahlen.
- 2.
-
Es wird festgestellt, dass sich die Beklagte seit dem 12.11.2020 mit der Rücknahme des in Klageantrag Ziffer 1 bezeichneten Fahrzeuges im Annahmeverzug befindet.
- 3.
-
Die Beklagte wird verurteilt, die Klagepartei von den außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten ihres Rechtsanwaltes … in Höhe von 2.138,34 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit freizustellen.
9
Es lasse sich aus den vorgelegten Unterlagen bereits nicht entnehmen, dass der Kläger (noch) Eigentümer sei. Im Übrigen liege auch kein Schaden vor, weil das Fahrzeug über eine wirksame EG-Typgenehmigung mit Tatbestandswirkung verfüge und uneingeschränkt nutzbar sei. Der vorliegende Motortyp erfülle die gesetzlichen Anforderungen und sei gesetzeskonform. Vorsorglich werde die Einrede der Verjährung erhoben.
10
Im Übrigen wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen Bezug genommen. Die Parteien haben einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren zugestimmt.
Entscheidungsgründe
11
Die Klage ist zulässig, jedoch unbegründet.
12
1. Die Klage ist zulässig.
13
Das Landgericht Regensburg ist sachlich (§§ 23 Nr. 1, 71 Abs. 1 GVG) und jedenfalls nach § 32 ZPO örtlich zuständig. Im Hinblick auf die vorliegende Zug-um-Zug-Rückabwicklung des Vertragsverhältnisses ist vorliegend auch das Feststellungsinteresse zum Annahmeverzug gegeben.
14
2. Die Klage ist jedoch unbegründet.
15
Der Klagepartei steht gegen die Beklagte kein Anspruch auf Rückzahlung des Kaufpreises mit der Begründung zu, im verfahrensgegenständlichen Fahrzeug sei eine unzulässige Abschalteinrichtung verbaut.
16
a. Ein Anspruch auf Rückabwicklung des Kaufvertrags kann vorliegend weder aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB noch aus § 826 BGB hergeleitet werden, da insoweit keine vorsätzliche Täuschung bzw. ein von der Beklagten in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise vorsätzlich verursachter Schaden zum Nachteil der Klagepartei festgestellt werden können.
17
aa. Zwar kann im Inverkehrbringen eines Fahrzeugs, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehen ist, grundsätzlich eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung liegen, da dies dazu führen kann, dass der Widerruf der Typgenehmigung oder zumindest die Stilllegung des konkreten Fahrzeugs droht, sofern der Käufer nicht an der dann gegebenenfalls erforderlichen Rückrufaktion zur Beseitigung der Abschalteinrichtung teilnimmt. Mit dem Inverkehrbringen des Fahrzeugs bringt der Hersteller auch konkludent zum Ausdruck, dass das Fahrzeug entsprechend seinem objektiven Verwendungszweck im Straßenverkehr eingesetzt werden darf, d.h. über eine uneingeschränkte Betriebserlaubnis verfügt, deren Fortbestand nicht aufgrund bereits bei der Auslieferung des Fahrzeugs dem Hersteller bekannter, konstruktiver Eigenschaften gefährdet ist. Dies wiederum setzt entsprechend voraus, dass nicht nur die erforderlichen Zulassungs- und Genehmigungsverfahren formal erfolgreich durchlaufen wurden, sondern auch, dass die für den Fahrzeugtyp erforderliche EG-Typgenehmigung nicht durch eine Täuschung des zuständigen Kraftfahrt-Bundesamtes erschlichen worden ist und das Fahrzeug den für deren Erhalt und Fortbestand einzuhaltenden Vorschriften tatsächlich entspricht. Auch dies bestätigt der Hersteller mit dem Inverkehrbringen zumindest konkludent (vgl. OLG Koblenz, Urteil vom 20.04.2020 – 12 U 1570/19; OLG Karlsruhe WM 2019, 881 ff.).
18
bb. Unabhängig von der Frage, ob die Implementierung eines Thermofensters bzw. einer Kühlmittelsolltemperaturregelung schon in tatsächlicher Hinsicht objektiv mit den (unions-)rechtlichen Vorschriften nicht vereinbar ist, stellt sich das Inverkehrbringen eines solchermaßen konzipierten Fahrzeugs nach Ansicht des Gerichts jedenfalls nicht als sittenwidrige Handlung der Beklagten i.S.d. § 826 BGB dar.
19
cc. Ein Verhalten ist demnach grundsätzlich dann als sittenwidrig zu bewerten, sofern es nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflichtverletzung und einen Vermögensschaden hervorruft. Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann. Dabei kann es auf Kenntnisse, Absichten und Beweggründe des Handelnden ankommen, die die Bewertung seines Verhaltens als verwerflich rechtfertigen. Sie kann sich auch aus einer bewussten Täuschung ergeben. Bezüglich des Anstandsgefühls aller billig und gerecht Denkenden kommt es dabei wesentlich auf die berechtigten Verhaltenserwartungen im Verkehr an.
20
Ausgehend von diesem Beurteilungsmaßstab ist selbst das angenommene Verhalten der Beklagten, ein mit einem sogenannten Thermofenster bzw. geregeltem Kühlmittelthermostat ausgestattetes Fahrzeug in den Verkehr zu bringen, im vorliegenden Fall nicht als sittenwidrige Handlung einzustufen. Dabei kommt es hier schon nicht mehr darauf an, ob diese im streitgegenständlichen Fahrzeug installierten Steuerungsmechanismen eine objektiv unzulässige Abschalteinrichtung darstellen oder nicht. Denn die Verwendung einer Umschaltlogik, die – auf den Betriebszustand des Fahrzeugs abstellend – allein danach unterscheidet, ob sich dieses auf dem Prüfstand oder im normalen Fahrbetrieb befindet, ist zwar demnach eindeutig unzulässig. Bei einer anderen die Abgasreinigung (Abgasrückführung und Abgasnachbehandlung) beeinflussenden Motorsteuerungssoftware, die vom Grundsatz her im normalen Fahrbetrieb in gleicher Weise arbeitet wie auf dem Prüfstand und bei der Gesichtspunkte des Motor-, respektive des Bauteilschutzes als Rechtfertigung ernsthaft erwogen werden können, kann dagegen bei Fehlen konkreter Anhaltspunkte nicht ohne Weiteres unterstellt werden, dass die Handelnden bzw. Verantwortlichen bei der Beklagten in dem Bewusstsein agiert hätten, möglicherweise eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden. Vielmehr muss in dieser Situation, selbst wenn hinsichtlich der temperaturabhängigen Steuerung von einer objektiv unzulässigen Abschalteinrichtung auszugehen sein sollte, eine möglicherweise falsche, aber dennoch vertretbare Gesetzesauslegung und -anwendung durch die Organe der Beklagten in Betracht gezogen werden (vgl. OLG Koblenz, Urteil vom 20.04.2020 – 12 U 1570/19; OLG Stuttgart MDR 2019, 1248 f.; OLG Köln, Beschluss vom 04.07.2019 – 3 U 148/18). Eine Sittenwidrigkeit käme daher hier nur in Betracht, wenn über die bloße Kenntnis von der Verwendung einer Software mit der in Rede stehenden Funktionsweise in dem streitgegenständlichen Motor hinaus zugleich auch Anhaltspunkte dafür erkennbar wären, dass die Implementierung einer solchen Einrichtung von Seiten der Beklagten in dem Bewusstsein geschah, hiermit möglicherweise gegen die gesetzlichen Vorschriften zu verstoßen, und dieser Gesetzesverstoß billigend in Kauf genommen wurde (vgl. OLG Stuttgart u. OLG Köln a.a.O.). Solche Anhaltspunkte sind jedoch vorliegend nicht ersichtlich. Vielmehr fehlt es beim Einsatz einer temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems, welches nicht danach unterscheidet, ob sich das Fahrzeug auf dem Prüfstand oder im normalen Fahrbetrieb befindet, an einem arglistigen Vorgehen des Automobilherstellers, das die Qualifikation seines Verhaltens als objektiv sittenwidrig rechtfertigen würde (vgl. BGH, Beschluss vom 19.01.2021 – VI ZR 433/19).
21
dd. Weiter bleibt zu berücksichtigen, dass die EG-Typgenehmigung die für einen Mitgliedsstaat der Europäischen Union in Anwendung der Richtlinie 2007/46/EG, der Richtlinie 2002/24/EG sowie der Richtlinie 2003/37/EG erteilte Bestätigung ist, dass der zur Prüfung vorgestellte Typ eines Fahrzeuges, eines Systems, eines Bauteils oder einer selbständigen technischen Einheit die einschlägigen Vorschriften und technischen Anforderungen erfüllt. Mit der Erteilung der Typgenehmigung hat das Kraftfahrt-Bundesamt somit der Beklagten bestätigt, dass das streitgegenständliche Fahrzeugmodell die Anforderungen der „einschlägigen Vorschriften“ erfüllt, mithin auch die der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 hinsichtlich der Schadstoffemissionen (vgl. OLG Nürnberg, Hinweis vom 22.07.2020 – 5 U 697/20). Weiter handelt sich hierbei auch um einen bestandskräftigen Verwaltungsakt des Kraftfahrt-Bundesamtes gegenüber dem Fahrzeughersteller, dass das streitgegenständliche Fahrzeugmodell, insbesondere im Hinblick auf die Schadstoffemissionen den Anforderungen genügt, wobei die Zivilgerichte aufgrund der sogenannten Tatbestandswirkung des Verwaltungsaktes auch daran gehindert sind, in einem Rechtsstreit zwischen einem Fahrzeugkäufer und dem Hersteller etwas anderes anzunehmen (vgl. a.a.O). Diese Tatbestandswirkung gilt solange, als der Verwaltungsakt nicht durch die zuständige Behörde oder ein Verwaltungsgericht aufgehoben worden oder nichtig ist.
22
Zwar könnte sich die Beklagte auf die Tatbestandswirkung der EG-Typgenehmigung nicht berufen, wenn sie diese Genehmigung durch eine arglistige Täuschung der Genehmigungsbehörde erschlichen hätte. Eine solche Täuschung mag auch dann auf der Hand liegen, wenn der Hersteller die Motorsteuerung mit einer Einrichtung versieht, die die Prüfungssituation erkennt und infolgedessen eine besonders intensive Abgasreinigung – etwa durch eine hohe Abgasrückführungsrate – veranlasst, während im Realbetrieb die Abgasreinigung nur in verringertem Umfang arbeitet, so dass sich ein erhöhter Ausstoß an Stickoxiden einstellt. Die Einhaltung der gesetzlichen Grenzwerte für den Stickoxidausstoß würde in einem solchen Fall dann in der Tat nur vorgetäuscht. Die klägerische Annahme einer solchen Täuschung im Rahmen des vorliegenden Typgenehmigungsverfahrens könnte jedoch auch nicht alleine aus einer (möglichen) nachträglichen Feststellung des Kraftfahrt-Bundesamtes betreffend des Vorhandenseins einer unzulässigen Abschalteinrichtung schlussgefolgert werden. Denn dem Kraftfahrt-Bundesamt war jedenfalls mitgeteilt worden, dass die Abgasrückführungsrate nicht bei allen Betriebszuständen des Motors gleich bleibe, sondern von verschiedenen Parametern abhänge, u.a. der Lufttemperatur. Unter diesen Umständen kann folglich eine Täuschung der Genehmigungsbehörde nicht mehr angenommen werden (vgl. OLG Nürnberg, Hinweis vom 22.07.2020 – 5 U 697/20).
23
Weiter muss berücksichtigt werden, dass die europarechtliche Gesetzeslage an dieser Stelle nicht zweifelsfrei und nicht eindeutig ist. Dies zeigt bereits die kontrovers geführte Diskussion über Inhalt und Reichweite der Ausnahmevorschrift des Art. 5 Abs. 2 Satz 2 a) VO (EG) 2007/715. Nach Einschätzung der vom Bundesverkehrsministerium (BMVI) eingesetzten Untersuchungskommission Volkswagen liegt ein Gesetzesverstoß durch die von allen Autoherstellern eingesetzten Thermofenster jedenfalls nicht eindeutig vor. So heißt es im Bericht der Kommission zur Auslegung der Ausnahmevorschrift des Art. 5 Abs. 2 Satz 2 a) VO (EG) 715/2007 ausdrücklich (BMVI, Bericht der Untersuchungskommission Volkswagen, Stand April 2016, S. 123): „Zudem verstößt eine weite Interpretation durch die Fahrzeughersteller und die Verwendung von Abschalteinrichtungen mit der Begründung, dass eine Abschaltung erforderlich ist, um den Motor vor Beschädigung zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten, angesichts der Unschärfe der Bestimmung, die auch weite Interpretationen zulässt, möglicherweise nicht gegen die Verordnung (EG) Nr. 715/2007.
24
Konsequenz dieser Unschärfe der europäischen Regelung könnte sein, dass unter Berufung auf den Motorschutz die Verwendung von Abschalteinrichtungen letztlich stets dann gerechtfertigt werden könnte, wenn von Seiten des Fahrzeugherstellers nachvollziehbar dargestellt wird, dass ohne die Verwendung einer solchen Einrichtung dem Motor Schaden droht, sei dieser auch noch so klein.“
25
Eine Auslegung, wonach ein Thermofenster eine zulässige Abschalteinrichtung darstellt, ist daher jedenfalls nicht unvertretbar. Ein Handeln unter vertretbarer Auslegung des Gesetzes kann aber nicht als besonders verwerfliches Verhalten angesehen werden (vgl. OLG Stuttgart, a.a.O.). Auch bleibt im Falle einer nachträglichen Rückrufaktion des Kraftfahrt-Bundesamtes zusätzlich zu berücksichtigen, dass für die Prüfung, ob die von der Beklagten vorgenommene Gesetzesauslegung vertretbar ist, jeweils auf die Umstände zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Fahrzeugs abzustellen ist, und dass der Streit um die Zulässigkeit und Größe eines Thermofensters einen Expertenstreit darstellt (vgl. dazu z.B. Führ, NVwZ 2017, 265 f.), bei dem nicht nur Rechtsfragen, sondern auch technische Details eine Rolle spielen.
26
Vor diesem Hintergrund würde der Umstand, dass die im Fahrzeug der Klagepartei verbaute Temperatursteuerung möglicherweise in seiner technischen Ausgestaltung als unzulässig anzusehen sein könnte, nicht dazu führen, dass von einem Sittenverstoß auf Seiten der Beklagten auszugehen wäre (vgl. OLG Koblenz, Urteil vom 20.04.2020 – 12 U 1570/19). Sofern aus diesen Überlegungen allenfalls noch in Betracht zu ziehen ist, dass die Beklagte die Rechtslage fahrlässig verkannt hat, fehlt es dann jedenfalls in subjektiver Hinsicht an dem für die Sittenwidrigkeit erforderlichen Bewusstsein der Rechtswidrigkeit (vgl. Palandt, § 826 BGB, Rn. 8). Dass auf Seiten der Beklagten die Erkenntnis eines möglichen Gesetzesverstoßes, zumindest in Form einer billigenden Inkaufnahme desselben vorhanden war, ist aus den Gesamtumständen somit jedenfalls nicht ersichtlich.
27
ee. Vor dem Hintergrund eines fehlenden sittenwidrigen, täuschenden Verhaltens der Beklagten bleibt folglich auch kein Raum für eine deliktische Haftung aus §§ 823 Abs. 2 BGB, 263 StGB. Denn nur solange die Beklagte nachweisbar in dem Bewusstsein handelte, ein mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattetes Fahrzeug in den Verkehr zu bringen, begründete dieses eine willentliche Täuschung des Käufers über das Nichtvorhandensein einer solchen (möglicherweise unzulässigen) Einrichtung.
28
b. Der mit der Klage geltend gemachte Schadensersatzanspruch lässt sich auch nicht aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 6, 27 EG-FGV herleiten, denn mit der ganz h.M. ist bereits der Schutzgesetzcharakter der §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV bzw. von Art. 5 Abs. 2, Art. 3 Nr. 10 der VO Nr. 715/2007 zu verneinen (vgl. OLG Braunschweig, Urt. v. 19.02.2019 – 7 U 134/17; OLG München, Beschluss v. 29.08.2019 – 8 U 1449/19).
29
c. Weitergehende konkrete Anhaltspunkte für die Annahme einer unzulässigen Abschalteinrichtung werden weiter nicht dargelegt. Zwar kann die Klagepartei – wie bereits ausgeführt – im Rechtsstreit auch solche Tatsachen behaupten, über deren Vorliegen sie kein sicheres Wissen hat und ein solches auch nicht erlangen kann. Eine Partei kann gegebenenfalls dann auch berechtigt sein, eine von ihr nur vermutete Tatsache zu behaupten und unter Beweis zu stellen (vgl. BGH NJW-RR 2015, 829), was auch vorliegend angenommen werden kann, weil die Klagepartei, sofern sie nicht eine mutmaßlich aufwändige technische Untersuchung durchführen lässt, wohl kein sicheres Wissen darüber haben kann, ob die Motorsteuerung ihres Fahrzeuges so gestaltet ist, dass sie einen Prüfstandsbetrieb erkennt und dann den Verbrennungsvorgang im Motor so steuert, dass die relevanten Emissionsgrenzwerte eingehalten werden, während außerhalb des Prüfzyklus, also im gewöhnlichen Fahrbetrieb, der Verbrennungsvorgang anders gesteuert wird und es deshalb insbesondere zu höheren, nicht mehr normgerechten Stickoxid-Emissionen kommt. Jedoch wird ein solches prozessuales Vorgehen dann unzulässig, wenn eine Partei ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhaltes willkürlich Behauptungen ins Blaue hinein aufstellt. Im vorliegenden Fall fehlt es jedenfalls über die behauptete und auch unstreitige Verwendung einer temperaturabhängigen Steuerung der Abgasrückführung hinaus an weiteren hinreichenden tatsächlichen Anhaltspunkten zur Untermauerung der klägerischen Behauptung der Verwendung einer unzulässigen – insbesondere prüfstandsbezogenen – Abschalteinrichtung durch die Beklagte, so dass eine weitergehende Beweiserhebung hierzu nicht geboten erscheint und sich letztlich als reine unzulässige Ausforschung darstellen würde.
30
d. Die Klage ist daher im Ergebnis mangels Anspruchs in der Hauptsache einschließlich sämtlicher geltend gemachter Nebenforderungen vollumfänglich abzuweisen.
31
Die Kostenentscheidung ergeht gemäß § 91 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergeht gemäß § 709 Satz 1, Satz 2 ZPO.