Titel:
Algerien, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Homosexualität, Drohende Verfolgung durch Polizei, Drohungen durch nichtstaatliche Akteure, Situation von Homosexuellen in Algerien, Beachtlich wahrscheinliche Verfolgungsgefahr, Ernsthafte Gefahr für Homosexuelle, Verzicht auf Ausleben der Homosexualität nicht zumutbar, Fehlende interne Schutzmöglichkeit auf Dauer
Normenkette:
AsylG § 3
Schlagworte:
Algerien, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Homosexualität, Drohende Verfolgung durch Polizei, Drohungen durch nichtstaatliche Akteure, Situation von Homosexuellen in Algerien, Beachtlich wahrscheinliche Verfolgungsgefahr, Ernsthafte Gefahr für Homosexuelle, Verzicht auf Ausleben der Homosexualität nicht zumutbar, Fehlende interne Schutzmöglichkeit auf Dauer
Fundstelle:
BeckRS 2021, 66003
Tenor
I. Die Nummern 1 und 3 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 22. Januar 2021 werden aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Tatbestand
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Der Kläger, algerischer Staatsangehöriger, reiste nach eigenen Angaben erstmalig am 12. Oktober 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 7. Oktober 2020 einen Asylantrag.
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1. Zur Begründung seines Asylantrages gab der Kläger im Wesentlichen an: Er sei homosexuell. Sein Vater habe nach der Scheidung von seiner Mutter erneut geheiratet; mit dieser Familie habe er dann Probleme gehabt. Mit 15 oder 16 Jahren sei ihm bewusst geworden, dass er homosexuell sei. Seine Familie habe es herausgefunden, als er 18 oder 19 Jahre alt gewesen sei. Er sei dann zu einem Onkel nach Algier geflohen, der toleranter gewesen sei. Er habe viele Beziehungen mit Männern gehabt, über 10, vielleicht 12 oder 13. Dies sei immer heimlich gewesen, da es in Algerien tabu sei. Man habe sogar versucht, ihn umzubringen. Sie seien zu seiner Mutter gekommen, hätten große Messer dabei gehabt und gedroht, ihn umzubringen, wenn sie ihn fänden. Einmal sei die Polizei gekommen und einmal seien die Nachbarn dazwischen gegangen, so dass er habe fliehen können. Bei einer Rückkehr nach Algerien werde ihn seine Familie umbringen. In Algerien habe er keinen sicheren Ort zum Leben. In Algerien würden Homosexuelle von Behörden und Gesellschaft diskriminiert. Weiter erklärte der Kläger, er habe gesundheitliche Probleme. Er habe zwei Mopedunfälle gehabt. Beschwerden habe er vor allem am rechten Knie. Vor einer Operation in Frankreich sei er aufgrund persönlicher Probleme weitergereist. Er könne schlecht gehen und habe auch psychische Probleme, weil er eingeschränkt sei.
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Mit Bescheid vom 22. Januar 2021 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Nr. 1), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Nr. 2) und erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 3). Weiter stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung, im Falle der Klageerhebung innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen. Die Abschiebung nach Algerien oder in einen anderen Staat wurde angedroht (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger sei kein Flüchtling im Sinne der §§ 3 ff. AsylG. Selbst wenn man zugunsten des Klägers eine homosexuelle Orientierung annehmen sollte, liege keine Verfolgung im Sinne des § 3a AsylG i.V.m. einem Anknüpfungspunkt des § 3b AsylG vor. Eine staatliche Verfolgung aufgrund seiner Homosexualität habe der Kläger weder geltend gemacht, noch lägen Anhaltspunkte hierfür vor. Einer Verfolgungshandlung nach § 3a AsylG stehe bereits entgegen, dass staatlicher Schutz im Fall des Übergriffs auf den Kläger durch Verwandte verfügbar gewesen sei. Die Mutter habe in dieser Situation die Polizei gerufen, wodurch weiterer Schaden vom Kläger habe abgewendet werden können. Ferner setze die Gewährung von Flüchtlingsschutz voraus, dass zwischen der Verfolgung und der Flucht ein Kausalzusammenhang bestehe. Dieser sei vorliegend aufgrund des Zeitverzugs von mindestens eineinhalb Jahren offensichtlich nicht mehr gegeben. Jedenfalls stehe einer Verfolgungshandlung entgegen, dass der Kläger in den letzten eineinhalb Jahren vor seiner Ausreise bei einem in Algier lebenden Onkel habe unterkommen können, ohne dort weiteren Nachstellungen und Übergriffen ausgesetzt gewesen zu sein. Außerdem bestehe für den Kläger eine zumutbare inländische Flucht- und Aufenthaltsalternative, indem er sich in einem anderen Teil des Landes, insbesondere in einer anderen Großstadt niederlassen könne. Wirtschaftliche Aspekte und gesundheitliche Einschränkungen stünden einer möglichen Erwerbsausübung im Rahmen des vorhandenen internen Schutzes nicht entgegen. Dem Kläger stehe auch kein Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes zu, denn ihm drohe im Heimatland kein relevanter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG mit der insoweit erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor.
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2. Am 12. Februar 2021 ließ der Kläger Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid erheben und beantragen,
Unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 22.01.2021, AZ.: …, wird die Beklagte verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise subsidiären Schutz entsprechend § 4 AsylG zuzuerkennen, weiterhin hilfsweise festzustellen, dass ein nationales Abschiebungshindernis des § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 AufenthG vorliegt.
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Zur Klagebegründung ließ der Kläger ausführen: Er sei algerischer Staatsangehöriger und habe sein Heimatland vorverfolgt bzw. aus Furcht vor politische Verfolgung verlassen. Die Beklagte habe im streitgegenständlichen Bescheid ausgeführt, dem Kläger drohe bei einer eventuellen Rückkehr nach Algerien wegen seiner Homosexualität keine Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit. In Algerien könne jedoch laut Gesetz (Art. 333 und 338 des algerischen Strafgesetzbuchs) „jede Person, die sich einer homosexuellen Handlung schuldig gemacht habe“, mit einer Gefängnisstrafe von bis zu drei Jahren bestraft werden. Die vage Definition von homosexuellen Akten und Akten gegen die Natur im Gesetz erlaube gemäß LGBT-Aktivisten pauschale Beschuldigungen, welche in zahlreichen Inhaftierungen wegen gleichgeschlechtlicher Beziehungen resultierten. Menschenrechtsorganisationen hätten in der Vergangenheit immer wieder von Verfolgung oder sogar von Folter homosexueller Personen berichtet. In der algerischen Bevölkerung gebe es keinerlei Toleranz gegen LGBTI-Personen. Homosexualität gelte als ein Verbrechen, das mit den moralischen, gesellschaftlichen und religiösen Werten des algerischen Volkes unvereinbar sei. Es komme nachweislich zu Diskriminierungen und Benachteiligungen. Einer Verfolgung könne sich der Kläger auch nicht dauerhaft entziehen, da er hierfür gezwungen wäre, seine Homosexualität durch Ausleben von sexuellen Kontakten und Beziehungen zu Männern zu unterdrücken. In Algerien gebe es auch keine anerkannte NGO in diesem Kontext.
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3. Die Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 17. Februar 2021,
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Zur Begründung bezog sie sich auf die angefochtene Entscheidung.
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4. Die Kammer übertrug den Rechtsstreit mit Beschluss vom 15. Februar 2021 der Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung.
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Mit Beschluss vom 18. Mai 2021 bewilligte das Gericht dem Kläger Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte, die beigezogene Behördenakte sowie das Protokoll über die mündliche Verhandlung Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage, über die entschieden werden konnte, obwohl nicht alle Beteiligten in der mündlichen Verhandlung erschienen sind (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist zulässig und begründet.
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Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 22. Januar 2021 ist in seinen Nummern 1 und 3 bis 6 rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Aus diesem Grund war der streitgegenständliche Bescheid, wie beantragt, insoweit aufzuheben. Über die hilfsweise gestellten Anträge zum subsidiären Schutz (§ 4 AsylG) und zu den nationalen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG) war nicht zu entscheiden.
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1. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG.
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Unter Zugrundelegung des klägerischen Vorbringens sowie unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnisquellen steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass dem Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Algerien flüchtlingsrelevante Verfolgungsmaßnahmen drohen. Nach der in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Überzeugung und insbesondere aufgrund des persönlichen Eindrucks des Gerichts vom Kläger hat der Kläger sein Heimatland aus begründeter Furcht vor politischer Verfolgung verlassen. Gleichermaßen besteht für den Kläger eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr nach Algerien. Die Würdigung der Angaben des Klägers ist ureigene Aufgabe des Gerichts im Rahmen seiner Überzeugungsbildung gemäß § 108 VwGO.
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1.1. Gemäß §§ 3 ff. AsylG darf ein Ausländer in Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit oder seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Eine Bedrohung liegt dann vor, wenn anknüpfend an Verfolgungsgründe wie die sexuelle Orientierung (vgl. dazu Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 – so genannte Anerkennungsrichtlinie bzw. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG) Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 der Anerkennungsrichtlinie (§ 3a AsylG) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dabei ist es nicht zumutbar, von homosexuellen Betätigungen Abstand zu nehmen, um nicht verfolgt zu werden (EuGH, U.v. 7.11.2013 – C-199/12 bis C-201/12 – ABl. EU 2014, Nr. C 9 S. 8 – NVwZ 2014, 132; EuGH, U.v. 5.9.2012 – C-71/11 und C-99/11 – ABl. EU 2012, Nr. C 331 S. 5 – NVwZ 2012, 1612).
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Eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit (siehe zum einheitlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstab BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25/10 – BVerwGE 140, 22; U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – BVerwGE 136, 377) liegt dann vor, wenn die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist letztlich, ob es zumutbar erscheint, dass der Ausländer in sein Heimatland zurückkehrt (BVerwG, U.v. 3.11.1992 – 9 C 21/92 – BVerwGE 91, 150; U.v. 5.11.1991 – 9 C 118/90 – BVerwGE 89, 162). Über das Vorliegen einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gegebenen Gefahr politischer Verfolgung entscheidet eine wertende Gesamtbetrachtung aller möglichen verfolgungsauslösenden Gesichtspunkte, wobei in die Gesamtschau alle Verfolgungsumstände einzubeziehen sind, unabhängig davon, ob diese schon im Verfolgerstaat bestanden oder erst in Deutschland entstanden und von dem Ausländer selbst geschaffen wurden oder ob ein Kausalzusammenhang zwischen dem nach der Flucht eingetretenen Verfolgungsgrund und entsprechend den schon in dem Heimatland bestehenden Umständen gegeben ist (BVerwG, U.v. 18.2.1992 – 9 C 59/91 – Buchholz 402.25, § 7 AsylG Nr. 1).
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Aufgrund seiner prozessualen Mitwirkungspflicht hat ein Kläger (oder eine Klägerin) seine (ihre) Gründe für seine politische Verfolgung schlüssig und vollständig vorzutragen (§ 25 Abs. 1 und 2 AsylG, § 86 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz VwGO). Er muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich – als wahr unterstellt – bei verständiger Würdigung die behauptete Verfolgung ergibt. Bei den in die eigene Sphäre des Klägers fallenden Ereignissen, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen, muss er eine Schilderung abgeben, die geeignet ist, den Abschiebungsschutz lückenlos zu tragen. Unauflösbare Widersprüche und erhebliche Steigerungen des Vorbringens sind hiermit nicht vereinbar und können dazu führen, dass dem Vortrag im Ganzen nicht geglaubt werden kann. Bleibt ein Kläger hinsichtlich seiner eigenen Erlebnisse konkrete Angaben schuldig, so ist das Gericht nicht verpflichtet, insofern eigene Nachforschungen durch weitere Fragen anzustellen. Das Gericht hat sich für seine Entscheidung die volle Überzeugung von der Wahrheit, nicht bloß von der Wahrscheinlichkeit zu verschaffen (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109.84 – BVerwGE 71, 180).
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1.2. Dem Kläger ist es gelungen, die für seine Ansprüche relevanten Gründe in der dargelegten Art und Weise geltend zu machen. Unter Zugrundelegung der Angaben des Klägers ist eine begründete Gefahr politischer Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen. Gerade durch die persönlichen glaubhaften Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung über sein Schicksal im Zusammenhang mit seiner Homosexualität hat das Gericht keine Zweifel, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in ihr Heimatland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung droht.
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Der Kläger hat im Gerichtsverfahren, insbesondere im Rahmen der informatorischen Anhörung in der mündlichen Verhandlung, sein Schicksal als Homosexueller glaubhaft geschildert. Dazu ist zu anzumerken, dass im Lichte der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, U.v. 2.12.2014 – C-148/13 bis 150/13 – ABl. EU 2015, Nr. C 46 S. 4 – NVwZ 2015, 132) zum einen darauf zu achten war, zu zudringliche, diskriminierende und menschenunwürdige Fragen gerade zum Intimbereich und zu Einzelheiten der sexuellen Erlebnisse zu vermeiden. Zum anderen ist bei der Würdigung der Aussagen des Klägers zu bedenken, dass angesichts des sensiblen Charakters der Informationen, die die persönliche Intimsphäre einer Person, insbesondere ihre Sexualität, betreffen, allein daraus, dass diese Person, weil sie zögert, intime Aspekte ihres Lebens zu offenbaren und gewisse Sachverhalte gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nicht so deutlich bzw. anders angegeben hat, nicht geschlossen werden kann, dass sie deshalb unglaubwürdig ist (vgl. EuGH, U.v. 2.12.2014 – C-148/13 bis 150/13 – ABl. EU 2015, Nr. C 46 S. 4 – NVwZ 2015, 132; siehe auch Gärlich, Anmerkung, DVBl. 2015, 165, 167 ff.). Weiter ist zu bedenken, dass die homosexuelle Entwicklung des Einzelnen und das Offenbaren sowie das Ausleben der Homosexualität individuell sehr unterschiedlich verlaufen und nicht zuletzt von der Persönlichkeitsstruktur des Betroffenen, seiner kulturellen, gesellschaftlichen und auch religiösen Prägung sowie seiner intellektuellen Disposition abhängen (vgl. Berlit, jurisPR-BVerwG 22/2015, Anm. 6).
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Das Gericht hat bei der gebotenen richterlichen Beweiswürdigung aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens die Überzeugung gewonnen, dass der Kläger tatsächlich homosexuell veranlagt ist und diese homosexuelle Veranlagung schon in der Vergangenheit ausgelebt hat als auch hier in der Bundesrepublik Deutschland auslebt bzw. ausleben will. Er hat gleichgeschlechtliche Beziehungen zu anderen Männern unterhalten. Das Gericht hat nicht den Eindruck, dass der Kläger die Homosexualität nur aus asyltaktischen Gründen vorgibt. Vielmehr sprechen seine Schilderungen von einem wirklich erlebten Schicksal und Werdegang als Homosexueller.
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Der Kläger hat bei seinem Vorbringen in der mündlichen Verhandlung nicht bloß abstrakt von einem ausgedachten, flüchtlingsrelevanten Sachverhalt berichtet, sondern in umfangreichen Ausführungen sein Schicksal als Homosexueller geschildert. Hinzu kommen die dabei gebrauchte Wortwahl sowie die gezeigte Mimik und Gestik, auch verbunden mit einem Einblick in seine Gefühlslage und Gedankenwelt. Gerade die nicht verbalen Elemente bei der Aussage (Körpersprache, Gestik, Mimik usw.) sprechen gewichtig für die Ehrlichkeit des Klägers und für den wahren Inhalt seiner Angaben. Dabei kommt das Auftreten des Klägers in der mündlichen Verhandlung und die Art und Weise seiner Aussage im Protokoll über die mündliche Verhandlung nur ansatzweise zum Ausdruck.
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Der Kläger schilderte glaubhaft, dass er schon mit 13 oder 14 Jahren festgestellt habe, dass er homosexuell sei. Er führte aus, dass es sein Nachbar gewesen sei, mit dem er eine erste Beziehung geführt habe und mit dem er auch sexuelle Kontakte unterhalten habe. Als er 16 oder 17 Jahre alt gewesen sei, sei dies öffentlich geworden. Die Leute hätten darüber geredet. Daraufhin habe er Probleme mit der Familie seines Vaters bekommen. Der Kläger hat darüber hinaus – nach einem konkreten Erlebnis gefragt – berichtet, dass er zum Beispiel einmal von zwei Männern mitgenommen und vergewaltigt worden sei, als er mit Freunden zusammengesessen sei. Das sei in Algerien gegenüber Homosexuellen nichts Ungewöhnliches.
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Der Kläger gab weiter, ohne aufzubauschen, an, dass er auch in Deutschland homosexuelle Kontakte habe. Zwar habe er aktuell zwar keinen Freund, treffe aber andere Männer auf einer Internetplattform, so auch am Tag seiner mündlichen Verhandlung bei Gericht.
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Er habe Algerien verlassen, weil er homosexuell sei, weil er in Algerien bedroht worden sei und weil er hier sexuelle Kontakte haben möchte. Außerdem könne man als Homosexueller in Algerien staatlicherseits belangt werden und ins Gefängnis kommen.
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Nach dem Gesamteindruck bestehen für das Gericht keine Zweifel an der Richtigkeit der Angaben des Klägers in den Kernaussagen zur eigenen Homosexualität. Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Kläger betreffend seine Homosexualität die Wahrheit gesagt hat. Das Gericht ist weiter davon überzeugt, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Algerien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit Repressionen von Vertretern des Staates bzw. von Privatpersonen zu rechnen hätte, sofern er seine Homosexualität und deren Ausleben nicht aus Angst vor Verfolgung unterdrücken und verheimlichen würde. Vor diesem Hintergrund ist es dem Kläger angesichts der in Algerien herrschenden Verhältnisse nicht zuzumuten, in sein Heimatland zurückzukehren.
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Der Kläger hat seine sexuelle Identität als Homosexueller schlüssig und im Kern widerspruchsfrei dargetan. Er hat schlüssig dargestellt, wann er seine eigene Homosexualität wahrgenommen hat, welche Erfahrungen er aufgrund dieser Homosexualität in Algerien gemacht hat, wie er bis zur Ausreise in Algerien gelebt hat und was zur Ausreise geführt hat. Der Kläger hat weiter glaubhaft dargelegt, dass er seine sexuellen Neigungen in homosexuellen Beziehungen ausgelebt hat und weiterhin ausleben möchte. Er vermittelte dabei den Eindruck, seine sexuelle Neigung als normal zu betrachten.
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1.3. Homosexuellen droht in Algerien nach den vorliegenden Informationen aus den Erkenntnisquellen flüchtlingsrelevante Verfolgung. Gleichgeschlechtliche Beziehungen und homosexuelle Handlungen sind nach Art. 333 und 338 des algerischen Strafgesetzbuches strafbar und können mit Haftstrafen bis zu drei Jahren und Geldstrafen geahndet werden. Die vage Definition von homosexuellen Akten und Akten gegen die Natur im Gesetz erlaubt gemäß LGBT-Aktivisten pauschale Beschuldigungen, welche in zahlreichen Inhaftierungen wegen gleichgeschlechtlicher Beziehungen resultieren, allerdings in keinen Verurteilungen. Daneben sieht Art. 333 eine qualifizierte Strafbarkeit für Erregung öffentlichen Ärgernisses mit Bezügen zur Homosexualität vor. In der Rechtpraxis finden beide Vorschriften regelmäßig Anwendung, insbesondere werden die Vorschriften von den Polizei- und Strafverfolgungsbehörden zur Verhinderung der Gründung von Schutzorganisationen homosexueller Personen herangezogen. Da homosexuelle Handlungen vom Koran verboten, gesetzlich unter Strafe und von der Gesellschaft stigmatisiert werden, gibt es in Algerien keine einzige offiziell anerkannte NGO in diesen Kontext. LGBT-Organisationen sind politisch marginalisiert. Ihre Registrierung wird eingeschränkt. Eine systematische Verfolgung homosexueller Personen (verdeckte Ermittlungen etc.) findet nach vorliegenden Erkenntnissen nicht statt. Homosexualität wird für die Behörden dann strafrechtlich relevant, wenn sie offen ausgelebt wird. Homosexualität ist ein Tabu-Thema. Es kann weiter nicht ausgeschlossen werden, dass Homosexuelle aufgrund ihrer als unislamisch empfundenen Lebensweise durch islamistische Gruppierungen gefährdet sind. In arabischen Zeitungen erscheinen vereinzelt Hassartikel. Die Polizei duldet Diskriminierung oder gewalttätige Übergriffe auf Homosexuelle. Übergriffe kommen regelmäßig vor, und Betroffene verzichten aus Angst vor Offenlegung ihrer sexuellen Orientierung häufig auf eine Anzeige. Aus Angst, selbst verhaftet zu werden, vermeiden Homosexuelle, Übergriffe bei der Polizei zu melden. Aktivisten berichten vielmehr in der Vergangenheit von willkürlichen Verhaftungen, physischer und sexualisierter Gewalt durch Polizeibeamte. Viele LGBT-Personen lebten ihre Sexualität nicht offen aus, um Diskriminierung, familiäre und soziale Ausgrenzung oder Belästigung zu vermeiden. Im Februar des Jahres 2019 wurde ein junger Mann in seinem Zimmer in einem Studentenwohnheim in Algier dort aufgefunden. Auf den Wänden stand geschrieben „He is gay“ – Er ist schwul – (BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Algerien vom 19.3.2021, S. 23 f.; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der demokratischen Volksrepublik Algerien, Stand: Juni 2020, vom 11.7.2020, S. 15 und 17; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport 11, Algerien, Marokko, Tunesien, Stand: 6/2019, S. 3 f.; Deutsche Welle, Sichere Herkunftsstaaten? Homosexuelle in Maghreb vom 15. Februar 2019 (https://www.dw.com/de/sichere-herkunftsstaaten-homosexuelle-im-maghreb/a-47502207; Wikipedia, LGBT-Rechte in Algerien https://en.wikipedia.org/wiki/LGBT_rights_in_Algeria; Queer, Algerien: Student aus Homo-Hass getötet, vom 11. Februar 2019 https://www.queer.de/detail.php?article_id=32957 sowie LSVD, Lesben- und Schwulenverband in Deutschland, https://www.lsvd.de/de/recht/rechtsprechung/asylrecht/herkunftslaender).
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Auch wenn nach diesen Erkenntnissen nur wenige Fälle der Verurteilung wegen Homosexualität offiziell dokumentiert sind, ist festzuhalten, dass nach den vorstehenden Ausführungen die Dunkelziffer deutlich höher ist. Zudem kommt es darüber hinaus regelmäßig zu Diskriminierungen und tätlichen Übergriffen (vgl. Schriftsatz der Prozessbevollmächtigten vom 25.5.2021, Anlage: Human Rights Watch vom 15.10.2020, „Algeria: Mass Convictions for Homosexuality“). Auch der Umstand, dass im Privaten gelebte Homosexualität in der Regel nur auf Anzeige von Familien und Nachbarn oder sonstigen Privatpersonen verfolgt wird, führt nicht zu einer anderen Beurteilung. Denn zum einen ist Homosexuellen nicht zuzumuten, ihre sexuelle Orientierung nur im Verborgenen zu leben und damit nicht an die Öffentlichkeit zu gehen. Zum anderen droht Homosexuellen aufgrund des gesellschaftlichen Klimas jederzeit die Anzeige aus ihrem privaten Umfeld heraus. Anzeigen erfolgen nicht allein aus dem Kreis der Familie, sondern aus Teilen der Öffentlichkeit. Somit besteht auch kein interner Schutz in anderen Landesteilen. Maßgeblich ist, dass in der Praxis Freiheitsstrafen wegen homosexueller Handlungen verhängt werden und damit die konkrete Gefahr einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung besteht. Diskriminierungen und Bedrohung von privater Seite sind zudem flüchtlingsrelevant, weil Homosexuelle, denen Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure droht, nach der Auskunftslage keinen Schutz vom algerischen Staat erwarten können. Der Kläger, der glaubhaft dargelegt hat, seine homosexuelle Identität auch ausleben zu wollen, muss damit rechnen, dass seine Homosexualität öffentlich bemerkt wird und nicht ohne Folgen bleibt (im Ergebnis ebenso VG Karlsruhe, U.v. 14.8.2018 – A 1 K 6549/16 – asyl.net: M27794 – https://www.asyl.net/rsdb/m27794/; andere Ansicht noch VG Frankfurt, U.v. 5.3.2020 – 3 K 2341/19.F.A – juris; VG Cottbus, U.v. 4.10.2017 – 5 K 1908/16.A – juris; SaarlOVG, B.v. 4.2.2016 – 2 A 48/15 – juris; VG Hamburg, U.v. 17.2.2011 – 4 A 265/10 – juris; VG Trier, U.v. 29.10.2010 – 1 K 907/10.TR – juris; VG Regensburg, U.v. 15.9.2008 – RN 8 K 08.30020 – juris).
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Die vorstehend zusammenfassend skizzierte Auskunftslage belegt, dass offen gelebte Homosexualität in Algerien ein erhebliches Gefährdungspotenzial für – vornehmlich auch, aber nicht nur – staatliche Verfolgung in sich birgt und sich dieses Potenzial im Einzelfall zu einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit asyl- bzw. flüchtlingsrelevanter Bedrohung verdichten kann.
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Sofern andere Verwaltungsgerichte (vgl. die vorstehenden Verweise zur gegenteiligen Ansicht) eine flüchtlingsrelevante Verfolgung verneint haben, weil sie dem Betreffenden ansinnen, – wie wohl auch schon in der Vergangenheit – in der Öffentlichkeit von sexuellen Handlungen abzusehen bzw. jedenfalls in Algerien eine Partnerschaft mit einer Frau zu führen, um eine homosexuelle Veranlagung nicht nach außen bekannt werden zu lassen, ist dies nach der neuen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und auch des Bundesverfassungsgerichts rechtlich nicht hinnehmbar.
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2. Nach dieser Erkenntnislage droht dem Kläger bei einer Rückkehr flüchtlingsrelevante Verfolgung.
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Der Kläger hat glaubhaft gemacht, dass er sexuelle Handlungen vorgenommen hat, die die skizzierten Straftatbestände des algerischen Strafrechts erfüllen. Der Kläger hat überzeugend dargelegt, dass er schon seit seiner Schulzeit ab ca. 13 Jahren homosexuell geprägt ist. Vor diesem Hintergrund kann es ihm nicht verwehrt werden, seine Homosexualität auszuleben, wie er dies auch schon in der Vergangenheit praktiziert hat. Dem Kläger kann nicht zugemutet werden, bei einer Rückkehr seine sexuelle Identität zu verheimlichen oder Zurückhaltung zu üben. Der Kläger droht bei einer Rückkehr vielmehr verfolgt zu werden, wenn er sich seiner Sexualität entsprechend verhalten würde. Eine bisher fehlende staatliche Verfolgung der Homosexualität in Algerien ist unschädlich. Vielmehr sind in der Person des Klägers gleichwohl die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gegeben.
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Denn die dem Kläger bei einer Rückkehr drohende Verfolgung hat die Qualität einer relevanten Verfolgung i.S. von §§ 3 ff. AsylG. Die drohenden Verfolgungshandlungen knüpfen an Verfolgungsgründe nach § 3b AsylG an, konkret an § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Homosexuelle bilden aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und ihrer deutlichen abgegrenzten sexuellen Identität eine bestimmte soziale Gruppe (vgl. EuGH, U.v. 7.11.2013 – C-199/12 bis C-201/12 – ABl. EU 2014, Nr. C 9 S. 8 – NVwZ 2014, 132). Die homosexuelle Ausrichtung des Klägers ist nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung so bedeutsam und prägend für seine Identität, dass er nicht gezwungen werden kann, darauf zu verzichten. Die befürchteten Verfolgungsmaßnahmen knüpfen an seine geschlechtliche Identität unmittelbar an (vgl. auch Marx, AsylG, 10. Aufl. 2019, § 3b Rn. 22 f.).
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Der Europäische Gerichtshof hat ausdrücklich ausgeführt, dass von einem Asylbewerber nicht erwartet werden kann, dass er seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übt, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden. Infolgedessen kann einem Betroffenen auch von deutschen Behörden und Gerichten ein derartiges Verhalten zur Vermeidung von staatlichen Repressionen nicht zugemutet werden (EuGH, U.v. 7.11.2013 – C-199/12 bis C-201/12 – ABl. EU 2014, Nr. C 9 S. 8 – NVwZ 2014, 132; EuGH, U.v. 5.9.2012 – C-71/11 und C-99/11 – ABl. EU 2012, Nr. C 331 S. 5 – NVwZ 2012, 1612; vgl. auch Markard, EuGH zur sexuellen Orientierung als Fluchtgrund, Asylmagazin 12/2013, 402; Titze, Sexuelle Orientierung und die Zumutung der Diskretion, ZAR 2012, 93). Umgekehrt kann einem Homosexuellen nicht als nachteilig entgegengehalten werden, wenn er aus Furcht vor Verfolgung auf eine homosexuelle Betätigung verzichtet, sofern die verfolgungsrelevante homosexuelle Betätigung wie hier die sexuelle Identität des Schutzsuchenden kennzeichnet. Ein so unter dem Druck der Verfolgungsgefahr erzwungener Verzicht auf die betreffende Betätigung kann die Qualität einer Verfolgung erreichen und hindert nicht die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (vgl. so zur religiösen Betätigung BVerwG, B.v. 25.8.2015 – 1 B 40/15 – Buchholz 402.25 § 3 AsylVfG Nr. 19; U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – BVerwGE 146, 67; Berlit, jurisPR-BVerwG 22/2015, Anm. 6 und 11/2013, Anm. 1; Marx, Anmerkung, InfAuslR 2013, 308). Aus den gleichen Erwägungen hindert die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht, dass der Kläger neben der Angst vor Verfolgung durch staatliche Behörden auch schon aus Angst vor seiner Familie bzw. Umfeld und der drohenden repressiven Folgen in Algerien von einem Ausleben der Homosexualität ganz absieht bzw. dies tunlichst verheimlicht (Titze, Sexuelle Orientierung und die Zumutung der Diskretion, ZAR 2012, 93).
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Ergänzend wird noch angemerkt, dass dem Kläger nicht entgegengehalten werden kann, die (bisherige) von ihm angegebene bzw. befürchtete Verfolgung beschränke sich primär auf nichtstaatliche Akteure. Denn zum einen droht Homosexuellen in Algerien – wie bereits ausgeführt und auch vom Kläger vorgebracht – konkret eine staatliche Strafverfolgung. Abgesehen davon kann zum anderen nach § 3c Nr. 3 AsylG eine Verfolgung auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der algerische Staat – wie hier – nicht in der Lage und nicht willens ist, hinreichend Schutz vor Verfolgung zu bieten. Homosexuelle haben in Algerien keinen Anspruch auf staatliche Schutzgewährung. Im Gegenteil, der algerische Staat würde den Kläger bei einem Bekanntwerden vielmehr selbst als Homosexuellen verfolgen.
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Gesamtbetrachtet wäre der Kläger bei einer Rückkehr nach Algerien aufgrund seiner Homosexualität der ständigen Gefahr einer staatlichen Verfolgung, konkret Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a AsylG, ausgesetzt, die wiederum an einen Verfolgungsgrund des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG anknüpfen. Dem Kläger kann weiter nicht zugemutet werden, auf das Ausleben seiner Homosexualität zu verzichten. Ein Schutz durch den algerischen Staat ist nicht gegeben. Dies gilt landesweit, so dass es auch keine interne Schutzmöglichkeit gibt. Eine Rückkehr nach Algerien ist dem Kläger unter diesem Vorzeichen nicht zumutbar.
37
Insbesondere kann der Kläger – entgegen der Ansicht des Bundesamts – nicht auf eine inländische Aufenthaltsalternative in einer anderen algerischen Großstadt verwiesen werden. Auch dort wäre der Kläger gezwungen, das Wissen über seine Homosexualität geheim zu halten. Die vom Bundesamt aufgezeigte Möglichkeit, bei Wahrung absoluter Diskretion in einer Großstadt ein gefahrloses Leben führen zu können, genügt im Hinblick auf die Ausführungen zur Erkenntnislage betreffend Homosexualität in Algerien nicht für die Annahme einer zumutbaren, internen Schutzmöglichkeit nach § 3e Abs. 1 AsylG (vgl. VG Freiburg, U.v. 8.10.2020 – 4 K 945/18 – juris Rn. 64).
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3. Nach alledem war dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen und der angefochtene Bundesamtsbescheid insoweit in seinen Nummern 1 und 3 bis 6 aufzuheben.
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Über die hilfsweise gestellten Anträge zum subsidiären Schutz (§ 4 AsylG) sowie zur nationalen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG) war nicht zu entscheiden (§ 31 Abs. 3 Satz 2 AsylG).
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Neben der Aufhebung der entsprechenden Antragsablehnung im Bundesamtsbescheid sind auch die verfügte Abschiebungsandrohung und Ausreisefristbestimmung rechtswidrig und daher aufzuheben. Denn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erlässt nach § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 und § 60 Abs. 10 AufenthG die Abschiebungsandrohung nur, wenn der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt und ihm die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt wird. Umgekehrt darf im Fall der Flüchtlingszuerkennung eine Abschiebungsandrohung nicht ergehen. Letzteres ist im gerichtlichen Verfahren – wenn auch noch nicht rechtskräftig – festgestellt.
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Schließlich war auch die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 bis 3 AufenthG (Nr. 6 des Bundesamtsbescheides) aufzuheben, weil mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung auch die Voraussetzungen für diese Entscheidungen entfallen (vgl. § 75 Nr. 12 AufenthG).
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4. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.