Titel:
Wirtschaftliche Betrachtungsweise bei der Anrechnung der Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr
Normenketten:
ZPO § 104 Abs. 3 S. 1, § 567 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, § 569
VV RVG Teil 3 Vorb. 3 Abs. 4
RVG aF § 15a Abs. 2, Fall 1
BGB § 249
Leitsätze:
1. Die Geschäftsgebühr wird auf die Verfahrensgebühr angerechnet, wenn die vorgerichtliche anwaltliche Tätigkeit und die anschließende Klage aufgrund einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise denselben Gegenstand betreffen; dies ist der Fall, wenn der vom Rechtsanwalt angemahnte Zahlungsbetrag anschließend eingeklagt wird (BGH BeckRS 2012, 9857). (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
2. Werden mehrere Geschäftsgebühren im Wege objektiver Klagehäufung in einem gerichtlichen Verfahren verfolgt, sodass die Verfahrensgebühr nur einmal anfällt, sind alle entstandenen Geschäftsgebühren in der tatsächlichen Höhe anteilig auf die Verfahrensgebühr anzurechnen (BGH BeckRS 2017, 104642). (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Geschäftsgebühr, Verfahrensgebühr, Anrechnung, wirtschaftliche Identität, Schadensersatz, Verkehrsunfälle, Rechtsverfolgungskosten, Klagehäufung
Vorinstanz:
LG Coburg, Kostenfestsetzungsbeschluss vom 04.03.2021 – 22 O 69/20
Rechtsmittelinstanz:
BGH Karlsruhe, Beschluss vom 24.10.2023 – VI ZB 39/21
Fundstelle:
BeckRS 2021, 64270
Tenor
1. Auf die sofortige Beschwerde der Beklagten wird der Beschluss des Landgerichts Coburg vom 04.03.2021 abgeändert:
Die von der Beklagten an die Klägerin zu erstattenden Kosten werden auf 1.277,40 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz gem. § 247 BGB seit dem 03.02.2021 festgesetzt.
Der weitergehende Antrag der Klägerin auf Kostenfestsetzung wird zurückgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
3. Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
4. Der Wert des Beschwerdeverfahrens wird auf 725,40 € festgesetzt.
Gründe
1
Die klagende Rechtsanwaltskanzlei ist von einer Leasinggesellschaft (im Folgenden: Zedentin) außergerichtlich mit der Geltendmachung von (materiellen) Schadensersatzansprüchen aus 22 Verkehrsunfällen gegen die Beklagte beauftragt worden, bei denen Fahrzeuge der Zedentin beschädigt worden waren. Die vollumfängliche Haftung der Beklagten war unstreitig. Auf die außergerichtlichen Schreiben der Klägerin, mit denen die materiellen Unfallschäden sowie die außergerichtlich angefallenen Rechtsanwaltskosten (1,3 – Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV RVG nebst Kostenpauschale) gefordert wurden, zahlte die Beklagte jeweils nur die materiellen Schäden, nicht aber die außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten. Die Ansprüche auf Erstattung dieser Kosten in Höhe von insgesamt 9.175,35 € (vgl. Aufstellung auf S. 3 f. der Klageschrift, Bl. 3 f. d. A.) trat die Zedentin an die Klägerin ab, die sie mit der Klage im vorliegenden Rechtsstreit gegen die Beklagte eingeklagt hat.
2
Im Laufe des Rechtsstreits hat die Beklagte die außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten an die Klägerin bezahlt. Die Parteien haben daraufhin den Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt. Mit Beschluss vom 26.01.2021 hat das Landgericht die Kosten des Rechtsstreits der Beklagten auferlegt.
3
Die Klägerin hat mit Schriftsatz vom 03.02.2021, berichtigt mit Schriftsatz vom 12.02.2021, beantragt, gegen die Beklagte Anwaltskosten in Höhe von 1.687,80 € (netto) sowie Übernachtungskosten in Höhe von 70,40 € (netto) festzusetzen, insbesondere auch eine 1,3 – Verfahrensgebühr nach Nr. 3100 VV RVG in Höhe von 725,40 € (netto).
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Die Beklagte ist der Ansicht, dass nach § 15a Abs. 2, Fall 1 RVG (a. F.) sämtliche von ihr gezahlten 22 Geschäftsgebühren jeweils zur Hälfte auf die beanspruchte Verfahrensgebühr anzurechnen seien, was diese vorliegend vollständig aufzehre.
5
Mit Beschluss vom 04.03.2021 hat die Rechtspflegerin des Landgerichts die von der Beklagten an die Klägerin zu zahlenden Kosten – unter Einbeziehung der Gerichtskosten – auf 2.002,80 € festgesetzt. Sie hat insbesondere auch die beantragte Verfahrensgebühr in voller Höhe festgesetzt. Zur Begründung hat sie ausgeführt, dass eine Anrechnung der Geschäftsgebühren auf die Verfahrensgebühr nicht in Betracht komme, weil die mit der Klage geforderten Geschäftsgebühren nicht wegen desselben Gegenstands entstanden seien wie die Verfahrensgebühr des vorliegenden Verfahrens. Wegen der Einzelheiten wird auf den Beschluss (Bl. 193 ff. d. A.) verwiesen.
6
Gegen den ihren Prozessbevollmächtigten am 05.03.2021 zugestellten Beschluss hat die Beklagte am 08.03.2021 sofortige Beschwerde eingelegt. Zur Begründung macht sie geltend, dass die mit der Klage geforderten Geschäftsgebühren und die Verfahrensgebühr aus demselben Gegenstand, nämlich der Regulierung der 22 Verkehrsunfälle, angefallen seien. Die Tatsache, dass die Beklagte außergerichtlich die Hauptforderungen vollumfänglich beglichen habe, so dass Gegenstand der Klage nur die – damit zur Hauptforderung gewordenen – Nebenforderungen seien, ändere daran nichts. Wegen der Einzelheiten wird auf die Beschwerdeschrift (Bl. 198 ff. d. A.) Bezug genommen.
7
Die Klägerin ist der Auffassung, dass die Geschäftsgebühren nicht auf die Verfahrensgebühr anzurechnen seien und kein Fall des § 15a Abs. 2 RVG a. F. vorliege. Es wird verwiesen auf die Beschwerdeerwiderung (Bl. 202 f. d. A.) sowie die weiteren Schriftsätze der Parteien.
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Die nach § 104 Abs. 3 Satz 1, § 567 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, § 569 ZPO zulässige sofortige Beschwerde der Beklagten hat in der Sache Erfolg.
9
Die Geschäftsgebühren sind gemäß Teil 3 Vorb. 3 Abs. 4 VV RVG auf die Verfahrensgebühr anzurechnen. Die Beklagte kann sich nach § 15a Abs. 2, Fall 1 RVG a. F. auf die Anrechnung berufen. Die Anrechnung führt vorliegend dazu, dass die Verfahrensgebühr gänzlich entfällt.
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1. Nach Auffassung des Senats findet eine Anrechnung statt, weil die mit der Klage geforderten 22 Geschäftsgebühren wegen desselben Gegenstands im Sinne von Teil 3 Vorb. 3 Abs. 4 VV RVG entstanden sind wie die Verfahrensgebühr.
11
a) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kommt es für die Anrechnung nach Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG nicht darauf an, ob die Geschäfts- und die Verfahrensgebühr dieselbe Angelegenheit oder unterschiedliche kostenrechtliche Angelegenheiten betreffen; entscheidend ist allein, dass wegen desselben Gegenstands bereits eine Geschäftsgebühr entstanden ist. Was Gegenstand der anwaltlichen Tätigkeit in diesem Sinn ist, wird durch das Recht oder Rechtsverhältnis bestimmt, auf das sich die Tätigkeit des Rechtsanwalts im Rahmen des ihm erteilten Auftrags bezieht. Dabei ist bei der Bestimmung des Gegenstandes keine formale, sondern eine wertende Betrachtungsweise angezeigt und auf die wirtschaftliche Identität abzustellen. Die Frage, ob eine vorgerichtliche anwaltliche Tätigkeit und die anschließende Klage in diesem Sinne denselben Gegenstand gemäß Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG betreffen, ist daher anhand einer wirtschaftlichen Betrachtung zu entscheiden. Der hierfür zu fordernde sachliche Zusammenhang ist problemlos gegeben, wenn der vom Rechtsanwalt angemahnte Zahlungsbetrag anschließend eingeklagt wird. Die Anrechnungsnorm (Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG) findet nämlich ihren Grund in dem geringeren Einarbeitungs- und Vorbereitungsaufwand, den ein bereits vorgerichtlich mit der Angelegenheit befasster Rechtsanwalt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 20.12.2011 – XI ZB 17/11, juris Rn. 9; Beschluss vom 17.04.2012 – XI ZB 23/11, juris Rn. 8 jeweils m. w. N.).
12
b) Unter Anwendung dieses Maßstabs ist vorliegend nach einer wirtschaftlichen Betrachtung davon auszugehen, dass die mit der Klage geforderten Geschäftsgebühren und die Verfahrensgebühr wegen desselben Gegenstands entstanden sind.
13
Gegenstand der außergerichtlichen Tätigkeit der Klägerin war die Regulierung von sämtlichen materiellen Schadensersatzansprüchen der Zedentin aus den 22 Verkehrsunfällen gegen die hinter den Schadensverursachern als Haftpflichtversicherung stehende Beklagte. Zu diesen Ansprüchen gehören nach § 249 BGB auch die Kosten der Rechtsverfolgung. Eben diese Kosten – und damit ein Teil des Schadens aus den Verkehrsunfällen – sind mit der anschließenden Klage gegen die Beklagte eingeklagt worden. Die von der Klägerin entfaltete außergerichtliche Tätigkeit betraf daher hinsichtlich der Kosten der Rechtsverfolgung diesselben rechtlichen und tatsächlichen Punkte wie die spätere gerichtliche Geltendmachung. Daran ändert die Tatsache, dass die Beklagte außergerichtlich die weiteren Schadenspositionen beglichen hat und deshalb nur noch die Kosten der Rechtsverfolgung eingeklagt worden sind, nichts.
14
Die von der Rechtspflegerin des Landgerichts unter Bezugnahme auf das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 15.02.2007 (2 S 87/06, juris Rn. 31) und die Beschlüsse des Amtsgerichts Rosenheim vom 03.02.2020 (15 C 859/19, juris Rn. 5) und des Amtsgerichts Berlin-Mitte vom 05.08.2015 (20 C 3137/14, juris Rn. 1) vertretene Gegenauffassung, die den Gegenstand ausschließlich formal nach dem (geänderten) Streitwert bestimmt, überzeugt den Senat nicht, weil sie der gebotenen wirtschaftlichen Betrachtung und dem Sinn und Zweck der Anrechnungsvorschrift, dass ein bereits vorgerichtlich mit der Angelegenheit befasster Rechtsanwalt einen geringeren Einarbeitungs- und Vorbereitungsaufwand hat, nicht gerecht wird.
15
Auch die Tatsache der Zession der Ansprüche an die Klägerin ändert nichts an der wirtschaftlichen Identität der Ansprüche (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 20.12.2011 aaO, juris Rn. 10; Beschluss vom 17.04.2012 aaO, juris Rn. 9).
16
2. Die Beklagte kann sich nach § 15a Abs. 2, Fall 1 RVG a. F. auch auf die Anrechnung berufen. Voraussetzung dafür ist, dass die Erfüllung unstreitig oder ohne weiteres feststellbar ist (BGH, Beschluss vom 07.12.2010 – VI ZB 45/10, juris Rn. 9).
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Vorliegend ist beides der Fall. Denn die Beklagte hat die mit der Klage geforderten Geschäftsgebühren unstreitig im Laufe des Rechtsstreits bezahlt, weshalb die Klägerin diesen auch (mit Zustimmung der Beklagten) für erledigt erklärt hat.
18
3. Werden mehrere Geschäftsgebühren im Wege objektiver Klagehäufung in einem gerichtlichen Verfahren verfolgt, so dass die Verfahrensgebühr nur einmal anfällt, sind alle entstandenen Geschäftsgebühren in der tatsächlichen Höhe anteilig auf die Verfahrensgebühr anzurechnen (BGH, Beschluss vom 28.02.2017 – I ZB 55/16, juris Rn. 10 ff.). Dies hat vorliegend zur Folge, dass die Verfahrensgebühr ganz entfällt, so dass sie nicht festzusetzen war.
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Der Ausspruch über die Kosten folgt aus § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
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Die Rechtsbeschwerde ist wegen Grundsatzbedeutung zuzulassen. Die Frage, ob eine Anrechnung der Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr auch dann stattfindet, wenn im Rahmen der Regulierung von Verkehrsunfällen außergerichtlich die Hauptforderung vollumfänglich beglichen und mit der anschließenden Klage nur noch die vorgerichtlich entstandenen Rechtsanwaltskosten (als Hauptforderung) geltend gemacht werden, stellt sich in einer Vielzahl von Fällen. Es existieren insoweit – wie ausgeführt worden ist – unterschiedliche Meinungen, die auch in der Literatur ihren Niederschlag gefunden haben (vgl. Schneider/Wolf, Anwaltkommentar RVG, 7. Aufl., VV Vorb. 3 Rn. 230).