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OLG München, Hinweisbeschluss v. 15.09.2021 – 24 U 2051/21
Titel:

Haftung, Schaden, Streitwert, Zeitpunkt, Gewerbebetrieb, Schutzgesetz, Form, Stromversorgung, Personalkosten, Betriebskosten, Anerkennung, Ersatzanspruch, sonstiges, Beklagte, juristische Person, Kosten des Rechtsstreits, Kosten des Berufungsverfahrens

Schlagworte:
Haftung, Schaden, Streitwert, Zeitpunkt, Gewerbebetrieb, Schutzgesetz, Form, Stromversorgung, Personalkosten, Betriebskosten, Anerkennung, Ersatzanspruch, sonstiges, Beklagte, juristische Person, Kosten des Rechtsstreits, Kosten des Berufungsverfahrens
Rechtsmittelinstanz:
OLG München, Endurteil vom 18.11.2021 – 24 U 2051/21
Fundstelle:
BeckRS 2021, 63435

Tenor

I. Der Senat legt seine vorläufige Einschätzung der Sach- und Rechtslage wie folgt dar:

Entscheidungsgründe

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1. Was den Schaden dem Grunde nach betrifft, vermag der Senat den Ausführungen in der Berufungsbegründung nicht beizutreten.
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a) Was das „Ob“ einer Schadensersatzpflicht des Beklagten aus § 823 Abs. 1 Alternative 5 i. V. m. § 249 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 BGB angeht, beruht die Argumentation des Beklagten auf zwei Grundlagen: Zum einen liefere das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 04.02.1964 (VI ZR 25/63 ‒ juris; auch veröffentlicht in BGHZ 41, 123-128) in Anbetracht geänderter Umstände für die Beurteilung des hiesigen Falles keine geeigneten Maßstäbe mehr (s. dazu Doppelbuchst. aa); zum anderen sei das landgerichtliche Urteil auch bei Anwendung der im Urteil des Bundesgerichtshofs aufgestellten Maßstäbe zum Nachteil des Beklagten unrichtig (s. dazu Doppelbuchst. bb).
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aa) Für seine Auffassung, die im Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1964 aufgestellten Maßstäbe hätten heute keine Gültigkeit mehr, führt der Beklagte zwei Argumente ins Feld.
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(1) Der Beklagte macht geltend, die Bedingungen der Stromversorgung hätten sich seit 1964 erheblich geändert. So sei die Versorgung mit elektrischem Strom keine staatliche Aufgabe mehr, und zwischen die Netze BW GmbH (deren Strommast beschädigt wurde) und die Klägerin (deren Eigentum beschädigt wurde) trete im Rahmen der Stromversorgung die EnBW E. B.-W. AG, die infolge der Beschädigung von der Netze BW GmbH nicht mehr mit Strom beliefert wurde, so dass sie ihrerseits die Klägerin nicht mehr beliefern konnte.
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Diese Umstände begründen aus Sicht des Senats jedoch keinen entscheidungserheblichen Unterschied zur vom Bundesgerichtshof vorgefundenen Situation. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs stellt nicht einmal darauf ab, dass es sich bei der Stromversorgung im zu beurteilenden Zeitpunkt um eine staatliche Aufgabe gehandelt hat. Dieser Aspekt spielt in der Leitentscheidung des Bundesgerichtshofs überhaupt keine Rolle. Auch ist es sowohl aus Sicht des Schädigers als auch aus Sicht des Geschädigten zufällig und unerheblich, ob der primär geschädigte Betreiber des Stromkabels dem sekundär geschädigten Stromabnehmer unmittelbar zur Stromversorgung verpflichtet ist, oder ob aufgrund der vorhandenen rechtlichen Strukturen eine weitere juristische Person dazwischentritt. Die Interessenlage von Schädiger und (sekundär) Geschädigtem wird davon nicht betroffen.
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(2) Weiter scheint die Berufungsbegründung (vgl. Seiten 7 bis 9, Bl. 218/220 d. A.) geltend zu machen, die spätere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs lasse erkennen, dass dieser an der Leitentscheidung aus dem Jahr 1964 nicht mehr festhalte.
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Dies ist den angeführten Rechtsprechungsnachweisen jedoch nicht zu entnehmen. Soweit die genannten Entscheidungen es ablehnen, die Haftung auf reine Vermögensschäden zu erstrecken (durch Bejahung eines Eingriffs in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb als sonstiges Recht im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB oder durch Einordnung einer durch die Leitungsbeschädigung verletzten öffentlichrechtlichen Norm als Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB), stimmen sie mit der Entscheidung aus dem Jahr 1964 offenkundig überein. Diese bestätigt gerade ein früheres Urteil des Bundesgerichtshofs vom 09.12.1958 (VI ZR 199/57 ‒ juris; auch veröffentlicht in BGHZ 29, 65-75), in dem für den Fall der Beschädigung eines Stromkabels ein Ersatzanspruch für reine Vermögensschäden verneint worden ist (vgl. BGH vom 04.02.1964 ‒ VI ZR 25/63 ‒ juris Rn. 11). Hiervon abgegrenzt hat der Bundesgerichtshof aber die auch hier gegebene Fallkonstellation, dass dem Stromendkunden nicht nur ein reiner Vermögensschaden (etwa in Form eines zeitweisen Betriebsausfalls) entstanden ist, sondern (auch) ein Schaden an seinem Sacheigentum im Sinne des § 823 Abs. 1 Alternative 5 BGB.
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Zutreffend ist lediglich, dass der Bundesgerichtshof im Rahmen seines vom Beklagten angeführten Urteils vom 08.06.1975 (VI ZR 50/75 ‒ juris Rn. 23) auch an der dargelegten Unterscheidung geübte Kritik referiert, sie allerdings letztlich mit dem Hinweis verteidigt, sie beruhe „auf einer verbindlichen allgemeinen Entscheidung des geltenden Deliktsrechts“.
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In diesem Sinne wird die Leitentscheidung des Bundesgerichtshofs vom 04.02.1964 hinsichtlich der rechtlich relevanten Unterscheidung zwischen (zu ersetzendem) Eigentumsschaden und (nicht zu ersetzendem)
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Vermögensschaden im Rahmen von „Stromkabelfällen“ auch in der aktuellen Kommentarliteratur noch als maßgeblich angesehen (vgl. Wagner in Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2020, § 823 Rn. 272; Greger in Greger/Zwickel, Haftung des Straßenverkehrs, 6. Aufl. 2021, § 21 Rn. 21.7).
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Vor diesem Hintergrund sieht der Senat für den Fall des Erlasses eines Urteils auch keinen Anlass, die Revision zuzulassen.
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bb) Soweit der Beklagte geltend macht, es bestehe ein relevanter tatsächlicher Unterschied zwischen diesem und dem vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall darin, dass dort eine enge räumliche Nähe zwischen dem Ort der Beschädigung der Stromversorgung und dem Ort, an dem der sekundäre Eigentumsschaden eingetreten ist, bestand, während diese Distanz vorliegend 5,9 km betragen habe, folgt der Senat dem ebenfalls nicht. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs lässt an keiner Stelle erkennen, dass sie auf der genannten räumlichen Nähe beruhe; dieser Aspekt wird vom Bundesgerichtshof nicht angeführt, obwohl auch im Zeitpunkt seiner Entscheidung klar war, dass die Beschädigung einer stromführenden Leitung auch zu Sachschäden bei weiter entfernt vom Schädigungsort liegenden Stromabnehmern führen kann und somit eine Hervorhebung der im dort entschiedenen Fall gegebenen Nähe auf der Hand gelegen hätte, wenn der Bundesgerichtshof eine solche Beschränkung hätte vornehmen wollen.
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b) Auch eine quotale Kürzung der Schadensersatzpflicht dem Grunde nach unter dem Aspekt des Mitverschuldens (§ 254 Abs. 1 BGB) wegen Nichtvorhaltens eines Notstromaggregats hat das Landgericht zu Recht abgelehnt.
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Der Bundesgerichtshof hat sich auch mit dieser Frage in seiner Leitentscheidung aus dem Jahr 1964 befasst und ausgeführt (juris Rn. 16):
„Keinesfalls war der Kläger gehalten, diese Anschaffung zur Entlastung Dritter zu machen, die möglicherweise störend in die Stromversorgung eingreifen könnten.“
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Dies gilt auch hier. Nach den bindenden (§ 314 Satz 1 ZPO) und vom Beklagten auch nicht beanstandeten Feststellungen im unstreitigen Tatbestand des angegriffenen Urteils hätte ein Notstromaggregat Anschaffungskosten von 1,3 bis 1,4 Mio. € und jährliche Betriebskosten von etwa 400.000 € verursacht. Es kann der Klägerin nicht angesonnen werden, diese Beträge aufzuwenden, um einen Schaden wie den eingetretenen zu vermeiden, der zum einen sehr selten und zum anderen in der Höhe eher überschaubar ist.
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2. Für zutreffend erachtet der Senat hingegen die Kritik in der Berufungsbegründung zur Höhe des zugesprochenen Schadens. Das Landgericht hat die vom Bundesgerichtshof vorgegebene Unterscheidung zwischen nicht zu ersetzenden reinen Vermögensschäden einerseits und zu ersetzenden Eigentumsschäden andererseits nicht konsequent durchgehalten, indem es insbesondere auch Personalkosten für erstattungsfähig gehalten hat, die für Mitarbeiter angefallen sind, die aufgrund des Stromausfalls Tätigkeiten wahrgenommen haben, die sie zu diesem Zeitpunkt sonst nicht durchgeführt hätten (vgl. Seite 2 des Beweisbeschlusses vom 28.05.2020, Bl. 63 d. A.). Nach der vom Bundesgerichtshof vorgenommenen Unterscheidung sind jedoch neben dem Substanzschaden am Eigentum nur solche Positionen zu ersetzen, die gerade aus diesem erwachsen und nicht angefallen wären, wenn es nicht zur Beschädigung des Sacheigentums gekommen wäre. Erstattungsfähig wären danach etwa Kosten für externe Reinigungskräfte, die eigens mit der Entsorgung der verdorbenen Produkte (= Sacheigentum) beauftragt worden wären. Wird diese Entsorgung hingegen durch eigene Kräfte der Klägerin ausgeführt, entsteht insoweit kein erstattungsfähiger (Folge-)Schaden, weil das Arbeitsentgelt für diese Kräfte auch ohne die Beschädigung des Sacheigentums zu bezahlen gewesen wäre.
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Bezüglich keiner der in der Berufungsbegründung (Seiten 11 f., Bl. 222 f. d. A.) angeführten Positionen

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Maschinenraum: Personalkosten zur Störungsbeseitigung (vgl. Seite 14 des Gutachtens, Bl. 100 d. A.)

125,93 €

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Käserei: Variable Fertigungskosten (vgl. Seite 14 des Gutachtens, Bl. 100 d. A.)

154,58 €

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Käserei: Personalkosten zur Störungsbeseitigung (vgl. Seite 14 des Gutachtens, Bl. 100 d. A.)

755,57 €

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Quarkerei: Variable Fertigungskosten (vgl. Seite 15 des Gutachtens, Bl. 101 d. A.)

76,28 €

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Quarkerei: Personalkosten zur Störungsbeseitigung (vgl. Seite 15 des Gutachtens, Bl. 101 d. A.)

503,71 €

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Butterei: Personalkosten zur Störungsbeseitigung (vgl. Seite 15 des Gutachtens, Bl. 101 d. A.)

377,78 €

- Externe Kosten (vgl. Seite 16 des Gutachtens, Bl. 102.356,50 € d. A.)
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Summe 2.350,35 € ist ersichtlich, dass sie ohne die Beschädigung der Sachsubstanz des Eigentums (im Gegensatz zu: ohne Betriebsunterbrechung und Ausfall der Maschinen ohne deren Substanzbeeinträchtigung) nicht angefallen wären, so dass sie nach der vom Bundesgerichtshof aufgestellten Unterscheidung nicht erstattungsfähig sind.
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3. Bei einer Entscheidung entsprechend der obigen Ausführungen obsiegte die Klägerin in Höhe von (12.741,81 € – 2.350,35 € =) 10.391,46 €, was gemessen am Streitwert der ersten Instanz (17.687,26 €) einer Quote von 59% und gemessen am Streitwert des Berufungsverfahrens (12.741,81 €) einer Quote von 82% entspricht.
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4. Bei einem Anspruch in Höhe von 10.391,46 € ergeben sich mangels Gebührensprungs vorgerichtliche Rechtsanwaltsgebühren wie vom Landgericht zugesprochen in Höhe von (1,3 x 604,00 € + 20,00 € =) 805,20 €.
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II. Vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen schlägt der Senat den Parteien den Abschluss des folgenden Vergleichs vor:
1. Der Beklagte zahlt ohne Anerkennung einer Rechtspflicht an die Klägerin 10.391,46 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 15.08.2017.
2. Der Beklagte zahlt ohne Anerkennung einer Rechtspflicht an die Klägerin vorgerichtliche Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 805,20 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 13.11.2019.
3. Damit sind sämtliche Ansprüche der Klägerin gegen den Beklagten aus der und in Zusammenhang mit der vom Beklagten verursachten Unterbrechung der Stromversorgung am 19.06.2017, egal ob bekannt oder unbekannt, vorhersehbar oder nicht, abgegolten und erledigt.
4. Von den Kosten des Rechtsstreits erster Instanz tragen die Klägerin 41%, der Beklagte 59%. Von den Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Klägerin 18%, der Beklagte 82%.
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III. Die Parteien werden gebeten, bis zum 08.10.2021 mitzuteilen, ob sie den vorgeschlagenen Vergleich schließen möchten und dessen Zustandekommen gemäß § 278 Abs. 6 Satz 2 ZPO protokolliert werden soll. Für den Fall, dass der vorgeschlagene Vergleich nicht zustande kommt, werden die Parteien gebeten, binnen derselben Frist zu erklären, ob sie mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren (§ 128 Abs. 2 ZPO) einverstanden sind.