Inhalt

SG Nürnberg, Endurteil v. 04.08.2021 – S 19 AL 263/20
Titel:

Coronavirus, SARS-CoV-2, Arbeitnehmer, Bewilligung, Bescheid, Arbeitgeber, Fahrer, Arbeit, Verwaltungsverfahren, Kurzarbeitergeld, Betrieb, Glaubhaftmachung, Betriebsabteilung, Arbeitsausfall, Voraussetzungen, Anzeigeverfahren, organisatorische Einheit, juristische Personen

Schlagworte:
Coronavirus, SARS-CoV-2, Arbeitnehmer, Bewilligung, Bescheid, Arbeitgeber, Fahrer, Arbeit, Verwaltungsverfahren, Kurzarbeitergeld, Betrieb, Glaubhaftmachung, Betriebsabteilung, Arbeitsausfall, Voraussetzungen, Anzeigeverfahren, organisatorische Einheit, juristische Personen
Rechtsmittelinstanz:
LSG München, Urteil vom 09.08.2023 – L 10 AL 130/21
Fundstelle:
BeckRS 2021, 62988

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1
Zwischen den Beteiligten ist die Verpflichtung der Beklagten zur Gewährung von Kurzarbeitergeld (Kug) im Streit.
2
Bei der Klägerin handelt es sich um eine Kapitalgesellschaft nach rumänischem Recht mit Sitz in A-Stadt (Rumänien), die sich als Busunternehmen auf Reisen von Rumänien nach Deutschland und von Deutschland nach Rumänien spezialisiert hat. Die Klägerin unterhält in W. ein Betriebsgelände, auf dem zehn bis zwölf Omnibusse abgestellt, gewaschen und gewartet werden können. Darüber hinaus befindet sich auf dem Gelände ein Gebäude, das Übernachtungsmöglichkeiten für maximal zwölf Fahrer beinhaltet und von einem fest angestellten Mitarbeiter dauerhaft bewohnt wird. Der Geschäftsführer der Klägerin, Herr P. unterhält eine Wohnung in N., in der er sich alle ein, zwei Monate aufhält und die wesentlichen personalpolitischen Entscheidungen trifft, d.h. die Einstellung und Kündigung von Mitarbeitern sowie die Einsätze im Fahrplan der Reisebusse vornimmt. Für die technischen Betriebsabläufe, die Busse, deren Reparatur und Wartung sowie die Einteilung der Fahrer ist ein in H. wohnhafter und bei der Klägerin fest angestellter Mitarbeiter, Herr L., verantwortlich.
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Am 24.03.2020 erstattete die Klägerin bei der Agentur für Arbeit B-Stadt aufgrund der Corona-Pandemie Anzeige über Arbeitsausfall infolge von Kurzarbeit für die Zeit von April 2020 bis voraussichtlich Juni 2020. Von der Anzeige umfasst waren sämtliche in Deutschland wohnhaften und gemeldeten Fahrer der Klägerin.
4
Mit Bescheid vom 24.04.2020 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass ihrer Anzeige nicht entsprochen werden könne. Für den Bezug von Kug seien unter anderem gemäß § 97 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) betriebliche Voraussetzungen zu erfüllen. Ein Betrieb im Sinne des § 97 SGB III liege vor, wenn die in einer Betriebsstätte vorhandenen materiellen und immateriellen Betriebsmittel für den oder für die verfolgten arbeitstechnischen Zwecke zusammengefasst, geordnet und gezielt eingesetzt würden und der Einsatz der menschlichen Arbeitskraft von einem einheitlichen Leitungsapparat gesteuert werde. Dies setze voraus, dass der Betrieb auch physisch vorhanden sein müsse. Die Gewährung von Kug sei nur an Arbeitnehmer in Betrieben möglich, die ihren Betriebssitz im Geltungsbereich des SGB III, also in den Grenzen der Bundesrepublik Deutschland haben. Der Betrieb sei der Antragsberechtigte. Dem Arbeitnehmer werde gesetzlich kein eigenständiges Recht zur Geltendmachung von Kug-Ansprüchen eingeräumt. Der Sitz der Klägerin befinde sich in Rumänien. Ein physischer Betrieb oder Betriebsteil sei in Deutschland nicht vorhanden. Kurzarbeit und somit die Gewährung von Kug könne somit nicht gewährt werden.
5
Zur Begründung des hiergegen am 20.05.2020 erhobenen Widerspruchs trug der Bevollmächtigte der Klägerin vor, dass die betrieblichen Voraussetzungen für den Bezug von Kug gemäß § 97 SGB III erfüllt seien. Unter einem Betrieb werde eine organisatorisch-technische Einheit verstanden, der die anspruchsberechtigten Arbeitnehmer zugehören und auf deren Ebene der Arbeitsausfall eintrete. Nach herrschender Meinung sei dies eine organisatorische Einheit, innerhalb der der Unternehmer mit seinen Mitarbeitern mit Hilfe sachlicher sonstiger Mittel einen bestimmten arbeitstechnischen Zweck fortgesetzt verfolge. Die Klägerin sei ein Busunternehmen. Es sei ein Wesensmerkmal eines Busunternehmens, dass die Fahrer in der Nähe der Zustiegs- und Ausstiegsstelle wohnen. Obwohl räumlich getrennt, würden die Fahrten einheitlich geplant, so dass die Fahrer die berufstypischen Ruhezeiten zwischen den Fahrten einhalten könnten. Diese Organisation werde einheitlich vom Geschäftsführer geleitet. Sämtliche Angestellte seien mit Wohnsitz in Deutschland gemeldet. Die Fahrer würden die Busse der Klägerin für ihren Reiseverkehr benutzen. Als sachliche Mittel dienten die Busse der Verfolgung eines arbeitstechnischen Zwecks, nämlich der Personenbeförderung. Für die Beschäftigten würde der Lohn der Lohnsteuer unterworfen und die gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge abgeführt. § 97 Satz 2 SGB III stelle eine Betriebsabteilung einem Betrieb gleich.
6
Mit Widerspruchsbescheid vom 20.07.2020 wies die Beklagte den Widerspruch unter Hinweis darauf als unbegründet zurück, dass keine eigene Betriebsabteilung vorliege, da die Klägerin in Deutschland keine Anschrift/Niederlassung habe. Sie habe nur eine Betriebsnummer und eine sog. anonyme Anschrift, um die Mitarbeiter ordnungsgemäß zur Lohnsteuer und Sozialversicherung anmelden zu können.
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Mit der dagegen am 10.08.2020 zum Sozialgericht Nürnberg erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Auf die Begründung des Bevollmächtigten der Klägerin wird Bezug genommen.
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Der Klägerbevollmächtigte beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 24.04.2020 in Form des Widerspruchsbescheides vom 20.07.2020 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, gemäß Antrag vom 24.03.2020 für 23 Arbeitnehmer Kurzarbeitergeld zu gewähren.
9
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
10
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Das Gericht konnte mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG).
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Die Klage ist zulässig, aber nicht begründet.
13
Der Bescheid vom 24.04.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.07.2020 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Beklagte ist weder verpflichtet, einen schriftlichen Bescheid darüber zu erteilen, dass hinsichtlich der in Deutschland beschäftigten Mitarbeiter der Klägerin ein erheblicher Arbeitsausfall vorliegt und die betrieblichen Voraussetzungen für die Gewährung von Kug erfüllt sind noch den betreffenden Mitarbeitern Kug zu gewähren.
14
Gemäß § 95 Satz 1 SGB III haben Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Anspruch auf Kug, wenn ein erheblicher Arbeitsausfall mit Entgeltausfall vorliegt (Nr. 1), die betrieblichen Voraussetzungen erfüllt sind (Nr. 2), die persönlichen Voraussetzungen erfüllt sind (Nr. 3) und der Arbeitsausfall der Agentur für Arbeit angezeigt worden ist (Nr. 4).
15
Die Bewilligung von Kug erfolgt durch ein zweistufig gestaltetes Verwaltungsverfahren. Dieses beginnt mit der Arbeitsausfallanzeige bei der Agentur für Arbeit, in deren Bezirk der Betrieb seinen Sitz hat (sog. Anzeigeverfahren, § 99 SGB III). Dabei prüft die örtlich zuständige Agentur für Arbeit anhand der Glaubhaftmachung durch den Arbeitgeber, ob ein erheblicher Arbeitsausfall besteht und die betrieblichen Voraussetzungen für Kug erfüllt sind (§ 99 Abs. 1 Satz 4 SGB III). Gemäß § 97 SGB III sind die betrieblichen Voraussetzungen erfüllt, wenn in dem Betrieb mindestens eine Arbeitnehmerin oder ein Arbeitnehmer beschäftigt ist. Betrieb im Sinne der Vorschriften über das Kug ist auch eine Betriebsabteilung. Das Anzeigeverfahren wird mit dem Erlass eines Anerkennungsbescheides nach § 99 Abs. 3 SGB III abgeschlossen. Darauf folgt das Antragsverfahren für die konkrete Bewilligung und Zahlung von Kug.
16
Vorliegend scheitert die Verpflichtung der Beklagten zur Gewährung von Kug daran, dass die Klägerin keinen Anspruch auf Erlass eines Anerkennungsbescheides nach § 99 Abs. 3 SGB III hat. Denn die Kammer teilt die Auffassung der Beklagten, dass es sich bei den in Deutschland wohnhaften Mitarbeitern der Klägerin nicht um eine eigenständige Betriebsabteilung im Sinne des § 97 Satz 2 SGB III handelt.
17
Eine Betriebsabteilung im Sinne des § 97 Satz 2 SGB III liegt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nur dann vor, wenn die maßgebende Abteilung räumlich, personell und organisatorisch vom Gesamtbetrieb abgegrenzt ist, mit eigenen technischen Betriebsmitteln ausgestattet ist und – jedenfalls im Regelfall – einen eigenen Betriebszweck verfolgt (vgl. BSG, Urteil vom 17.03.1972 – 7 RAr 50/69; BSG, Urteil vom 20.01.1982 – 10/8b RAr 9/80; BSG, Urteil vom 29.04.1998 – B 7 AL 102/97). Maßgebend ist hierbei, dass ein solcher Betriebszweck grundsätzlich auf das Tatbestandsmerkmal des erheblichen Arbeitsausfalls reflektieren kann. Ohne eigenen Betriebszweck kann ein solcher Ausfall grundsätzlich nicht betriebsteilbezogen entstehen, weshalb bei Hilfs- oder Nebenbetrieben ergänzend darauf abzustellen ist, ob diese eigenen personalpolitischen und organisatorischen Leitungen unterworfen sind oder nicht.
18
Vorliegend fehlt es bereits an einer mit eigenen technischen Mitteln ausgestatteten und im Inland gelegenen Betriebsabteilung der Klägerin. Die Klägerin hat sich als Busunternehmen auf Reisen von Rumänien nach Deutschland und von Deutschland nach Rumänien spezialisiert mit der Folge, dass die Omnibusse als für die Klägerin zentrale technische Betriebsmittel hier wie dort zum Einsatz kommen. Allgemeine wirtschaftliche Risiken und Arbeitsausfälle – wie vorliegend durch die pandemiebedingten Einschränkungen im internationalen Reiseverkehr bedingt – treffen zwangsläufig den ganzen Betrieb der Klägerin. Ein vom Gesamtbetrieb unterscheidbares Risiko des Arbeitsausfalls einer inländischen „Betriebsabteilung“ vermag die Kammer nicht zu erkennen. Die Entstehungsgeschichte der Erweiterung des ursprünglich nur auf den Betrieb bezogenen Risikos des Arbeitsausfalls auf die „Betriebsabteilung“ hatte indes gerade zum Ziel, das Arbeitsmarktrisiko auch dann in den Schutz der Versicherungsleistung Kug einzubeziehen, wenn es nur in einem speziellen Betriebsteil eintreten kann (vgl. Gagel, SGB II / SGB III, Rz. 21). Ist letzteres im Hinblick auf den Betriebszweck (s.o.) von vornherein ausgeschlossen, liegt ein einheitlicher „Gesamtbetrieb“ vor. Liegt der Sitz dieses „Gesamtbetriebes“ – wie vorliegend – im EU-Ausland, sind die Voraussetzungen für die Gewährung von Kug nicht erfüllt.
19
Die Anknüpfung der Gewährung von Kug an das Vorhandensein eines Betriebs oder einer Betriebsabteilung im Inland verstößt nach Auffassung der Kammer (auch) hinsichtlich eines im EU-Ausland ansässigen Unternehmens weder gegen das Grundgesetz noch gegen das Recht der Europäischen Union. Zwar sind im EU-Ausland ansässige juristische Personen vom Schutzbereich der Grundrechte des Grundgesetzes (GG) erfasst, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind. Das aus Art. 12 GG abzuleitende Recht auf eine zu Erwerbszwecken erfolgende Teilnahme am Wettbewerb als auch das aus Art. 14 Abs. 1 GG abzuleitende Recht auf ungestörte Betätigung eines Gewerbes gewährt jedoch keinen Leistungsanspruch gegenüber der öffentlichen Hand auf Sicherung einer erfolgreichen Marktteilnahme oder künftiger Erwerbschancen (vgl. Bayerischen Landessozialgericht, Beschluss vom 04.06.2020 (L 9 AL 61/20 B ER). Die von der Beklagten vertretene und von der Kammer bestätigte Auslegung von § 97 SGB III ist zudem mit dem europäischen Recht vereinbar. Denn die Differenzierung zwischen im EU-Ausland ansässigen Unternehmen, die im Inland einen Betrieb oder eine Betriebsabteilung unterhalten und solchen, bei denen dies nicht der Fall ist, ist für die Bestimmung des Bezugspunkts, ab wann das Risiko des Arbeitsausfalls von der Versichertengemeinschaft zu tragen ist (vgl. § 96 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB III), zwingend erforderlich.
20
Die Klage bleibt damit ohne Erfolg.
21
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.