Inhalt

SG Würzburg, Gerichtsbescheid v. 28.04.2021 – S 9 P 123/20
Titel:

Widerspruchsbescheid, Pflegegrad, Elektronischer Rechtsverkehr, Erhebliche Beeinträchtigung, Psychische Beeinträchtigung, Entscheidung durch Gerichtsbescheid, Pflegeversicherung, Ausführungen zur Begründetheit, Klageabweisung, Sachverständige, Pflegebedürftigkeit, Sozialgerichtsgesetz, Kostenentscheidung, Erörterungstermin, Berufungsschrift, Gutachten, Landessozialgericht, Rechtsmittelbelehrung, Sozialgerichtliches Verfahren, Außergerichtliche Kosten

Schlagworte:
Gerichtsbescheid, Pflegebedürftigkeit, Pflegegrad
Rechtsmittelinstanzen:
LSG München vom -- – L 5 P 31/21
BSG Kassel, Beschluss vom 20.06.2023 – B 3 P 10/23 AR
Fundstelle:
BeckRS 2021, 62562

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1
Die Klägerin wendet sich im vorliegenden Verfahren gegen den Bescheid der Beklagten vom 17.04.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.10.2020 und begehrt die Gewährung von Leistungen nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) unter Zugrundelegung des Pflegegrads 4 ab Antragstellung bei der Beklagten am 12.03.2020.
2
Die am ...194.. geborene Klägerin, die nach Aktenlage seit dem 01.09.2017 Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach dem Pflegegrad 3 erhält, ist bei der Beklagten gesetzlich pflegeversichert. Bei ihr wurden unter anderem die folgenden Erkrankungen diagnostiziert: fortgeschrittene Demenzerkrankung vom Alzheimer-Typ; komplette Harn- und inkomplette Stuhlinkontinenz; Zustand nach beidseitiger Knie-TEP sowie nach Hüft-TEP links; koronare Herzerkrankung; Diabetes mellitus Typ 2; chronisch-obstruktive Atemwegserkrankung (COPD) mit pulmonaler Hypertonie und Sauerstoffpflichtigkeit bei Ex-Nikotinkonsum.
3
Für die Klägerin wurde eine Betreuung unter anderem für den Aufgabenkreis „Vertretung gegenüber Behörden, Versicherungen, Renten- und Sozialleistungsträgern“ angeordnet. Zu Betreuern wurden die Söhne der Klägerin, Herr A. und Herr AD, sowie die Tochter der Klägerin, Frau A., bestellt.
4
Am 12.03.2020 wurde für die Klägerin im Rahmen eines Verhandlungstermins beim Bayerischen Landessozialgericht ein sogenannter Höherstufungsantrag gestellt, woraufhin die Beklagte eine Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung in Bayern (MDK) veranlasste. Der MDK kam in seinem Gutachten vom 15.04.2020 nach Bewertung der einzelnen Module des Begutachtungsinstruments im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 SGB XI zu dem Ergebnis, dass bei der Klägerin in der Summe 65,00 gewichtete Punkte erreicht werden.
5
Mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 17.04.2020 lehnte die Beklagte den Höherstufungsantrag vom 12.03.2020 unter Hinweis auf die Begutachtung durch den MDK ab. Der Bescheid enthielt den Hinweis, dass die Klägerin weiterhin Leistungen nach dem Pflegegrad 3 im bisherigen Umfang erhalte.
6
Mit Schreiben vom 14.05.2020, beim Beklagten eingegangen am 15.05.2020, legte Herr A. als Betreuer der Klägerin Widerspruch gegen den Bescheid vom 17.04.2020 ein. Auf die Ausführungen zur Begründung des Widerspruchs wird verwiesen.
7
Daraufhin veranlasste die Beklagte eine erneute Begutachtung durch den MDK, der in seinem Gutachten vom 15.07.2020 zu dem Ergebnis kam, dass bei der Klägerin in der Summe 55,00 gewichtete Punkte erreicht werden.
8
Mit Widerspruchsbescheid vom 14.10.2020 wurde der Widerspruch vom 14.05.2020 als unbegründet zurückgewiesen. Auf die Ausführungen zur Begründung des Widerspruchsbescheids wird verwiesen.
9
Bereits mit Schreiben vom 16.08.2020, beim Sozialgericht Würzburg eingegangen am 17.08.2020, erhob der Betreuer der Klägerin sinngemäß Klage gegen den Bescheid vom 17.04.2020. Zur Begründung wurde unter anderem ausgeführt, dass von Seiten der Klägerin auf die Anerkennung des Pflegegrads 4 bestanden werde, weil in der Begutachtung durch den MDK die gesundheitlichen Einschränkungen der Klägerin nicht richtig bewertet worden seien. Auf die weiteren Ausführungen zur Klagebegründung wird verwiesen.
10
Nach Einholung verschiedener Befundberichte der behandelnden Ärzte der Klägerin und der Behindertenakte des ZBFS sowie nach Beiziehung der Gerichtsakten zu den Verfahren S 9 P 154/16 und S 9 P 210/18 beauftragte das Gericht auf der Grundlage der Beweisanordnung vom 03.12.2020 den Sachverständigen Dr. G. mit der Erstellung eines Gutachtens nach § 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG). In seinem Gutachten vom 21.02.2021 kam der Sachverständige nach Bewertung der einzelnen Module des Begutachtungsinstruments zu dem Ergebnis, dass bei der Klägerin in der Summe 68,75 gewichtete Punkte erreicht würden, so dass insgesamt der Pflegegrad 3 zuzuordnen sei. Der festgestellte Hilfebedarf bestehe seit der aktuellen Antragstellung im März 2020 unverändert in dieser Form.
11
Den Beteiligten wurde Gelegenheit gegeben, zu dem Gutachten Stellung zu nehmen.
12
Für die Klägerin wurde im Erörterungstermin am 22.04.2021 beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 17.04.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.10.2020 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin ab dem 12.03.2020 Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach dem Pflegegrad 4 zu gewähren.
13
Die Beklagte beantragte,
die Klage abzuweisen.
14
Die Beteiligten wurden im Erörterungstermin am 22.04.2021 zur Möglichkeit der Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört. Sie haben sich mit dem Erlass eines Gerichtsbescheids einverstanden erklärt.
15
Wegen der weiteren Einzelheiten des Tatbestands wird auf den Inhalt der Beklagtenakte, der sonstigen beigezogenen Unterlagen sowie der Gerichtsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

16
Über die Klage konnte nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 105 Abs. 1 SGG durch Gerichtsbescheid entschieden werden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und weil der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten haben sich mit dem Erlass eines Gerichtsbescheids einverstanden erklärt.
17
Die Klage ist (nach Erlass des Widerspruchsbescheids im Laufe des Klageverfahrens) zulässig, aber unbegründet.
18
Die Klägerin hat nach Überzeugung der erkennenden Kammer keinen Anspruch auf Leistungen der sozialen Pflegeversicherung unter Zugrundelegung des Pflegegrads 4. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 17.04.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.10.2020 ist rechtlich nicht zu beanstanden. Die Beklagte hat den Antrag auf Höherstufung vom 12.03.2020 zu Recht abgelehnt.
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Grundvoraussetzung für die Gewährung von Leistungen der sozialen Pflegeversicherung ist die Pflegebedürftigkeit. Pflegebedürftig im Sinne des SGB XI sind nach § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB XI Personen, die gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten aufweisen und deshalb der Hilfe durch andere bedürfen. Es muss sich um Personen handeln, die körperliche, kognitive oder psychische Beeinträchtigungen oder gesundheitlich bedingte Belastungen oder Anforderungen nicht selbständig kompensieren oder bewältigen können (§ 14 Abs. 1 Satz 2 SGB XI). Die Pflegebedürftigkeit muss gemäß § 14 Abs. 1 Satz 3 SGB XI auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, und mit mindestens der in § 15 SGB XI festgelegten Schwere bestehen. Nach § 14 Abs. 2 SGB XI sind maßgeblich für das Vorliegen von gesundheitlich bedingten Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten die in den folgenden sechs Bereichen genannten pflegefachlich begründeten Kriterien: 1. Mobilität; 2. kognitive und kommunikative Fähigkeiten; 3. Verhaltensweisen und psychische Problemlagen; 4. Selbstversorgung; 5. Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen; 6. Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte.
20
Pflegebedürftige erhalten nach der Schwere der Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten einen Grad der Pflegebedürftigkeit (Pflegegrad), wobei dieser Pflegegrad mit Hilfe eines pflegefachlich begründeten Begutachtungsinstruments ermittelt wird (§ 15 Abs. 1 SGB XI). Das Begutachtungsinstrument ist nach § 15 Abs. 2 SGB XI in sechs Module gegliedert, die den sechs Bereichen in § 14 Abs. 2 SGB XI entsprechen. In jedem Modul sind für die in den Bereichen genannten Kriterien die in Anlage 1 zum SGB XI dargestellten Kategorien vorgesehen. Die Kategorien stellen die in ihnen zum Ausdruck kommenden verschiedenen Schweregrade der Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten dar. Den Kategorien werden in Bezug auf die einzelnen Kriterien pflegefachlich fundierte Einzelpunkte zugeordnet, die aus Anlage 1 zum SGB XI ersichtlich sind. In jedem Modul werden die jeweils erreichbaren Summen aus Einzelpunkten nach den in Anlage 2 zum SGB XI festgelegten Punktbereichen gegliedert. Die Summen der Punkte werden nach den in ihnen zum Ausdruck kommenden Schweregraden der Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten wie folgt bezeichnet:
1.
Punktbereich 0: keine Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten,
2.
Punktbereich 1: geringe Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten,
3.
Punktbereich 2: erhebliche Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten,
4.
Punktbereich 3: schwere Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten und
5.
Punktbereich 4: schwerste Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten.
21
Jedem Punktbereich in einem Modul werden unter Berücksichtigung der in ihm zum Ausdruck kommenden Schwere der Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten sowie der folgenden Gewichtung der Module die in Anlage 2 zum SGB XI festgelegten, gewichteten Punkte zugeordnet. Die Module des Begutachtungsinstruments werden nach § 15 Abs. 2 Satz 8 SGB XI wie folgt gewichtet:
1.
Mobilität mit 10 Prozent,
2.
kognitive und kommunikative Fähigkeiten sowie Verhaltensweisen und psychische Problemlagen zusammen mit 15 Prozent,
3.
Selbstversorgung mit 40 Prozent,
4.
Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen mit 20 Prozent,
5.
Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte mit 15 Prozent.
22
Zur Ermittlung des Pflegegrades sind gemäß § 15 Abs. 3 SGB XI die bei der Begutachtung festgestellten Einzelpunkte in jedem Modul zu addieren und dem in Anlage 1 zum SGB XI festgelegten Punktbereich sowie den sich daraus ergebenden gewichteten Punkten zuzuordnen. Den Modulen 2 und 3 ist ein gemeinsamer gewichteter Punkt zuzuordnen, der aus den höchsten gewichteten Punkten entweder des Moduls 2 oder des Moduls 3 besteht. Aus den gewichteten Punkten aller Module sind durch Addition die Gesamtpunkte zu bilden. Auf der Basis der erreichten Gesamtpunkte sind pflegebedürftige Personen in einen der nachfolgenden Pflegegrade einzuordnen:
1.
ab 12,5 bis unter 27 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 1: geringe Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten,
2.
ab 27 bis unter 47,5 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 2: erhebliche Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten,
3.
ab 47,5 bis unter 70 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 3: schwere Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten,
4.
ab 70 bis unter 90 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 4: schwerste Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten,
5.
ab 90 bis 100 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 5: schwerste Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung.
23
Unter Zugrundelegung dieses gesetzlichen Maßstabs ist die erkennende Kammer nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme im sozialgerichtlichen Verfahren zu der Überzeugung gelangt, dass bei der Klägerin die Voraussetzungen des § 15 Abs. 3 Satz 4 SGB XI für die Einstufung in den Pflegegrad 4 nicht erfüllt sind. Diese Überzeugung gewinnt die erkennende Kammer aus dem Gutachten des Sachverständigen Dr. G. vom 21.02.2021. Der Sachverständige kommt hier zu dem Ergebnis, dass die Schwere der bei der Klägerin vorliegenden Beeinträchtigungen in den dargestellten Modulen eine Einordnung in den Pflegegrad 4 nicht rechtfertigt, weil die Summe der vom Sachverständigen ermittelten gewichteten Punkte (68,75) den Mindestwert von 70,00 Gesamtpunkten für die Einstufung in den Pflegegrad 4 nicht erreicht. Die erkennende Kammer folgt der Einschätzung des Sachverständigen Dr. G., der nach Untersuchung der Klägerin in seinem Gutachten die Schwere der bei der Klägerin vorliegenden Beeinträchtigungen und den sich daraus ergebenden Hilfebedarf mit ausführlichen und fundierten Begründungen würdigt und auf dieser Basis mit überzeugender Begründung ohne innere Widersprüche das oben dargestellte Ergebnis herleitet. Wegen der Einzelheiten wird ausdrücklich auf den Inhalt des Gutachtens vom 21.02.2021, das von der erkennenden Kammer bei der Entscheidung zugrunde gelegt wurde, Bezug genommen. Substantiierte Einwendungen gegen den Inhalt und das Ergebnis dieses Gutachtens wurden von Klägerseite nicht vorgebracht.
24
Nach alledem war die Klage abzuweisen.
25
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG und der Erwägung, dass die Klägerin mit ihrem Begehren erfolglos geblieben ist.