Titel:
Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Minderung, Ursachenzusammenhang, Fahrzeug, Revision, Erstattung, Berufung, Nachweis, Anspruch, Beweisaufnahme, Schaden, Anforderungen, Kostenentscheidung, Fortbildung des Rechts, Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung, Zulassung der Revision
Schlagworte:
Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Minderung, Ursachenzusammenhang, Fahrzeug, Revision, Erstattung, Berufung, Nachweis, Anspruch, Beweisaufnahme, Schaden, Anforderungen, Kostenentscheidung, Fortbildung des Rechts, Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung, Zulassung der Revision
Vorinstanz:
LG München I, Endurteil vom 19.02.2021 – 17 O 13901/16
Fundstelle:
BeckRS 2021, 62522
Tenor
1. Auf die Berufung der Beklagten vom 19.03.2021 wird das Endurteil des LG München I vom 19.02.2021 (Az. 17 O 13901/16) in Nr. 1 und 2 abgeändert und wie folgt neu gefasst:
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens. Die Kosten der vom Erstgericht erholten Sachverständigengutachten werden nicht erhoben.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
3. Das Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
4. Die Revision wird nicht zugelassen
5. Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 5.568,08 € festgesetzt.
Entscheidungsgründe
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Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. Verb. m. § 544 II Nr. 1 ZPO).
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Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache Erfolg.
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Das Landgericht hat zu Unrecht einen Anspruch der Klägerin auf Schadensersatz bejaht. Denn der Klägerin steht trotz der für den streitgegenständlichen Zeitraum ärztlich bestätigten Arbeitsunfähigkeit der Zeugin A. kein Schadensersatzanspruch auf Erstattung der an die Zeugin A. geleisteten Entgeltfortzahlungen zu, da der Klägerin nur der Nachweis einer unfallbedingten Anpassungsstörung der Zeugin A. (ICD-10 F43.2) gelungen ist, die lediglich eine Minderung der Erwerbsfähigkeit in dem streitgegenständlichen Zeitraum von 10%, aber gerade keine Arbeitsunfähigkeit begründet.
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1. Bereits im Ausgangspunkt hat das Landgericht bei der Frage der haftungsbegründenden Kausalität rechtsfehlerhaft das Beweismaß des § 287 ZPO zugrunde gelegt hat. Hinsichtlich der in dem vorliegenden Streitfall von Anfang an streitigen unfallbedingten Primärverletzungen der HWS-Distorsion und der posttraumatischen Belastungsstörung der bei der Klägerin angestellten Zeugin A. (vgl. Klageerwiderungsschriftsatz vom 17.10.2016, Bl. 8/14 d.A.) hätte das Erstgericht vielmehr das Beweismaß des § 286 ZPO und die insoweit geltenden Regeln beachten müssen.
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Erst anschließend bei der Ermittlung des Kausalzusammenhangs zwischen dem unstrittigen oder bewiesenen Haftungsgrund (Rechtsgutverletzung) und dem eingetretenen Schaden unterliegt der Tatrichter nicht den strengen Anforderungen des § 286 ZPO; vielmehr ist er dann nach Maßgabe des § 287 I 1 ZPO freier gestellt: Zwar kann er auch eine haftungsausfüllende Kausalität nur feststellen, wenn er von diesem Ursachenzusammenhang überzeugt ist; im Rahmen der Beweiswürdigung gem. § 287 ZPO werden aber geringere Anforderungen an seine Überzeugungsbildung gestellt – hier genügt je nach Lage des Einzelfalls eine überwiegende (höhere oder deutlich höhere) Wahrscheinlichkeit für die Überzeugungsbildung (BGHZ 4, 192 [196]; BGH NJW-RR 2005, 897; Senat NZV 2006, 261 [262], Urt. v. 25.6.2010 – 10 U 1847/10 [juris]; OLG Schleswig NZV 2007, 203 [204]).
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Vorstehendes gilt auch dann, wenn wie hier die Klägerin als Arbeitgeberin aufgrund Legalzession oder Abtretung einen Schadensersatzanspruch geltend macht. Auch dann trifft sie die Darlegungs- und Beweislast für Grund und Höhe. Sie muss beweisen, dass der Arbeitnehmer aufgrund einer unfallbedingten Erkrankung der Arbeit ferngeblieben ist. IdR ist ein ärztliches Attest erforderlich. Schwierig wird es, wenn in einem solchen Attest eine nicht objektivierbare und nicht unfallspezifische Verletzung bestätigt wird, zB eine leichte HWS-Verletzung nach Auffahrunfall. Hier gelten die gleichen Beweisgrundsätze wie für den Verletzten. Kann der Arbeitgeber den erforderlichen Strengbeweis der Unfallkausalität nicht führen, steht ihm trotz der ärztlich bestätigten Arbeitsunfähigkeit kein übergegangener Schadensersatzanspruch zu (vgl. Küppersbusch/Höher, Ersatzansprüche bei Personenschäden, 13. Aufl., Rn. 106).
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Auch der Verweis des Erstgerichts auf die Entscheidungen des Bundesgerichtshofes (abgedruckt in NJW 2002, 128) sowie des OLG München, Az. 10 U 2853/06, ändert hieran nichts, da die jeweiligen Sachverhalte mit dem hier vorliegenden Sachverhalt nicht vergleichbar sind. Denn im Gegensatz zu der hier vorliegenden Konstellation waren in den beiden genannten Entscheidungen die unfallbedingten Primärverletzungen nicht (mehr) im Streit gestanden.
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2. Unter Zugrundelegung des zutreffenden Beweismaßes des § 286 ZPO ist der insoweit beweisbelasteten Klägerin der Beweis der von ihr behaupten unfallbedingten Primärverletzungen der HWS-Distorsion und der posttraumatischen Belastungsstörung der Zeugin A. nicht gelungen.
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Nach § 286 I 1 ZPO hat das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses einer Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder nicht wahr zu erachten ist. Diese Überzeugung des Richters erfordert keine – ohnehin nicht erreichbare (vgl. BGH NJW 1998, 2969 [2971]; Senat NZV 2006, 261; NJW 2011, 396 [397]; KG NJW-RR 2010, 1113) – absolute oder unumstößliche, gleichsam mathematische Gewissheit und auch keine „an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“, sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet (grdl. BGHZ 53, 245 [256], VersR 2014, 632 f.; OLG Frankfurt a. M. zfs 2008, 264 [265]; Senat VersR 2004, 124; NZV 2006, 261; NJW 2011, 396 [397]; SP 2012, 111).
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Unter Beachtung von Vorstehendem gelang der Klägerin angesichts der nachvollziehbaren und überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dr. Au., dessen hervorragende Sachkunde dem Senat aus einer Vielzahl von Verfahren und Gutachten bekannt ist, in den schriftlichen Gutachten vom 22.06.2018 (Bl. 68/142 d.A.) sowie vom 04.03.2019 (Bl. 157/164 d.A.) der Beweis der streitgegenständlichen unfallbedingten Verletzungen nicht:
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So führte der Sachverständige zunächst nachvollziehbar und überzeugend aus, dass das Beklagtenfahrzeug auf das verkehrsbedingt stehende klägerische Fahrzeug, das von der Zeugin A. geführt wurde, mit einer Kollisionsgeschwindigkeit von maximal 15 km/h aufgefahren ist, wodurch am klägerischen Fahrzeug eine kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung von maximal gerundet 8 km/h hervorgerufen wurde, sowie dass das klägerische Fahrzeug anstoßbedingt nur mit einer Spitzenbeschleunigung von bis zu etwa 3,5 g nach vorne gestoßen wurde (vgl. S. 4 ff. und 70 f. des schriftlichen Gutachtens vom 22.06.2018 sowie S. 2 ff. des ergänzenden schriftlichen Gutachtens vom 04.03.2019).
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Unter Berücksichtigung der Angaben der Zeugin A. hinsichtlich ihrer Sitzeinstellung und Sitzhaltung sowie des durchgeführten Sitzversuchs erläuterten die Sachverständigen Dr. Au. und Dr. M. weiter ebenfalls nachvollziehbar und überzeugend, dass es am Kopf-Hals-Systems der Zeugin A. allenfalls zu einer Spitzenbeschleunigung von bis zu etwa 5 g gekommen ist, dass zwischen Kopf und Hals Kräfte von etwa 200 N und zwischen Hals und Brust Kräfte von etwa 160 N aufgetreten waren sowie dass zwischen dem Kopf und dem Hals in der Körperquerachse zu einem Moment von etwa 14 Nm gekommen war (vgl. S. 8 ff. und 71 f. des schriftlichen Gutachtens vom 22.06.2018).
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Unter Berücksichtigung und Würdigung vorstehender Feststellungen, in Auseinandersetzung mit den ärztlichen Befunden, Diagnosen und Einschätzungen der die Zeugin A. behandelnden Ärzte sowie einer körperlichen Untersuchung der Zeugin A. führten die Sachverständigen sodann überzeugend und nachvollziehbar aus, dass es sich nicht nachweisen lässt, dass die Zeugin aufgrund des streitgegenständlichen Unfalls eine HWS-Distorsion erlitten hat (vgl. S. 15 ff. und 72 f. des schriftlichen Gutachtens vom 22.06.2018 sowie S. 4 f. des ergänzenden schriftlichen Gutachtens vom 04.03.2019).
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Weiter führte der Sachverständige Prof. Dr. M. insbesondere unter Berücksichtigung einer psychiatrischen Untersuchung der Zeugin A. am 13.03.2018 sowie der vorgelegten psychiatrischen Atteste überzeugend und nachvollziehbar aus, dass sich für den streitgegenständlichen Zeitraum vom 30.10. bis 31.12.2015 zwar eine Anpassungsstörung der Zeugin A. (ICD-10 F43.2) nachweisen lässt, die eine Minderung der Erwerbsfähigkeit in diesem Zeitraum von 10% begründet. Allerdings lässt sich der Nachweis der von der Klägerin behaupteten posttraumatischen Belastungsstörung und damit einer Arbeitsunfähigkeit der Zeugin A. in diesem Zeitraum auch unter Berücksichtigung dessen, dass die Zeugin A. im Jahr 2011 einen schweren Verkehrsunfall hatte, bei dem sie erheblich verletzt worden war, nicht führen. Denn der streitgegenständliche Unfall war im Gegensatz zu dem Unfallereignis aus dem Jahr 2011 nicht von einer solchen Schwere gewesen, dass körperliche Verletzungszeichen nachweislich gewesen wären, so dass damit eine wesentliche Voraussetzung für die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung fehlt (vgl. S. 41 ff. und 73 des schriftlichen Gutachtens vom 22.06.2018 sowie S. 5 ff. des ergänzenden schriftlichen Gutachtens vom 04.03.2019).
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II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 I ZPO. Auch wenn das Landgericht hinsichtlich der erstinstanzlich erholten Sachverständigengutachten zu Unrecht die Voraussetzungen des § 21 I GKG bejaht hat, war die Entscheidung der Nichterhebung der entsprechenden Kosten nicht abzuändern, da dies seitens der Berufung nicht angegriffen und damit nicht Gegenstand des Berufungsverfahrens war.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Ersturteils und dieses Urteils beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i. Verb. m. § 544 II Nr. 1 ZPO.
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Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 63 II 1, 47 I 1, 40, 48 I 1 GKG, 3 ff. ZPO.