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SG Bayreuth, Gerichtsbescheid v. 23.04.2021 – S 6 P 14/19
Titel:

Leistungen, Krankenversicherung, Versorgung, Pflegeversicherung, MDK, Facharzt, Widerspruchsbescheid, Gutachten, Gerichtsbescheid, Psychiatrie, Diagnose, Beteiligung, Psychotherapie, Klinik, Leistungen der Pflegeversicherung, Gutachten nach Aktenlage, angefochtene Entscheidung

Schlagworte:
Leistungen, Krankenversicherung, Versorgung, Pflegeversicherung, MDK, Facharzt, Widerspruchsbescheid, Gutachten, Gerichtsbescheid, Psychiatrie, Diagnose, Beteiligung, Psychotherapie, Klinik, Leistungen der Pflegeversicherung, Gutachten nach Aktenlage, angefochtene Entscheidung
Rechtsmittelinstanzen:
LSG München, Urteil vom 08.09.2022 – L 4 P 35/21
BSG Kassel, Beschluss vom 27.02.2023 – B 3 P 8/22 B
Fundstelle:
BeckRS 2021, 61128

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1
Der Kläger begehrt Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung nach einem Pflegegrad von mindestens 1.
2
Der Kläger ist 1961 geboren und bei der Beklagten pflegeversichert. Bei ihm ist ein Grad der Behinderung von 90 anerkannt. Der Kläger beantragte befundgestützt mit Schreiben vom 26.07.2017 die Feststellung eines Pflegegrades. Frau Dr. A. führte in einem Begleitschreiben zur Pflegebegutachtung vom 10.07.2017 aus, der Kläger leide unter Schwierigkeiten bei der Haushaltsführung, sei in Alltagsangelegenheiten oft überfordert, leide selber unter seinem Ordnungs- und Hygienemangel, hier würde er im Wesentlichen Unterstützung brauchen. Bei Stress und noch mehr in unerwarteten Situationen habe er Konzentrations- und Denkstörungen mit Angstreaktionen durch zwanghafte Überanpassung, Redefluss und autistische Rückzugstendenzen. Der Kläger benötige eine Unterstützung der häuslichen Situation mehr im Sinne einer psychologischen Betreuung, d.h. z.B. eine Planung der erforderlichen Tätigkeiten.
3
Am 28.10.2017 fand ein Hausbesuch durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) statt. Der MDK kam in seinem Gutachten vom 31.10.2017 zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzungen für einen Pflegegrad nicht erfüllt seien. Zur Begründung trug der MDK vor, pflegebegründende Diagnose sei Autismus mit frühkindlichen Entwicklungsstörungen. Komorbide Störungen seien eine Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung sowie eine instabile Persönlichkeit. Weiter pflegebegründend seien regelmäßige depressive Episoden mit Antriebsminderung sowie Angst- und Panikattacken. An weiteren Diagnosen lägen vor eine dissoziierte Persönlichkeitsstörung (Borderline-Syndrom), Hashimoto, Bluthirnschrankenstörung, Neuroborreliose und Inkontinenz. Nach eigenen Angaben sei der Kläger überängstlich oder überspontan. Er habe Schwierigkeiten, mit Menschen in Kontakt zu treten. In unbekannten Situationen habe er Angst- und Panikattacken. Einschränkungen der Mobilität bestünden nicht. Die Körperpflege könne er selbständig durchführen. In depressiven Phasen, die mehrmals im Monat auftreten würden, dusche er aber teilweise vier Tage nicht. Er sei dann stark antriebsgemindert und esse so viel, dass es „weh tue“, weiterhin komme es zu massivem Alkoholkonsum. Bei allen depressiven Phasen, Angst- und Panikattacken bestehe personeller Interventionsbedarf, er wende sich bei Bedarf telefonisch an eine Pflegesachverständige, manchmal mache er das mit sich aus, in Extremsituationen peinige er sich selbst. Es bestehe eine Harninkontinenz unklarer Genese, die mit Windelhosen versorgt sei, der Stuhlgang sei kontinent, die Intimhygiene sei selbständig möglich. Er wünsche sich Unterstützung im Haushalt und eine Person, die ihn motiviere. Termine bei einem Neurologen wolle er nicht vereinbaren, die Hausärztin kümmere sich um die Versorgung. Zum ausführlichen, vom MDK erhobenen gutachterlichen Befund wird im Übrigen auf das Gutachten verwiesen. Nach Einschätzung des MDK bestünden messbare Einschränkungen nur im Modul 6 (Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte) mit 3,75 gewichteten Punkten. Bei der Gestaltung des Tagesablaufs und der Anpassung am Veränderungen sei der Kläger überwiegend selbständig, was zu einem Einzelpunkt und 3,75 gewichteten Punkten führe. Die Summe der gewichteten Punkte betrage demnach 3,75 gewichtete Punkte.
4
Mit Bescheid vom 01.11.2017 lehnte die Beklagte die Gewährung von Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung ab. Dagegen erhob der Kläger mit Schreiben vom 15.11.2017 Widerspruch. Zur Begründung führte er u.a. an, die Erstellung des Gutachtens habe gegen das Grundsatzurteil des BSG mit dem Aktenzeichen B 9 SB 5/13 B verstoßen, da es nicht barrierefrei erhoben worden und somit von vorn herein medizinisch und juristisch unzulässig und auch tatsächlich fehlerhaft sei. Eine barrierefreie Kommunikation bei der Begutachtung von Erwachsenen mit Aspergerautismus durch eine fachkompetente Person dauere meist mehr als drei Stunden und finde nach Aktenlage und telefonisch statt. Die Begutachtung durch den MDK habe diesen Vorgaben nicht entsprochen.
5
Nach nochmaliger Beteiligung des MDK (Gutachten nach Aktenlage vom 05.02.2018) bestätigte die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 15.01.2019 die angefochtene Entscheidung. Hiergegen erhob der Kläger am 29.01.2019 Klage zum Sozialgericht Bayreuth und verwies zur Klagebegründung nochmals auf die fehlende Kompetenz des MDK in Sachen Autismus sowie die nicht barrierefreie Begutachtung, die zu einer falschen Bewertung geführt habe. Eine zuvor hinzugezogene Pflegeberatung habe je nach Betrachtung 20 bis 35 Punkte ermittelt.
6
Das Gericht hat Befundberichte der vom Kläger im Fragebogen vom 21.02.2019 genannten behandelnden Ärzte samt dort vorliegender Fremdbefunde eingeholt und die Schwerbehindertenakten beigezogen. Des Weiteren hat das Gericht mit Beweisanordnung vom 09.07.2019 den Sachverständigen Herrn Dr. med. D., Arzt für das öffentliche Gesundheitswesen, mit der Erstellung eines Gutachtens im Wege des Hausbesuchs bezüglich der Pflegebedürftigkeit des Klägers beauftragt. Nachdem der Kläger auf die Notwendigkeit einer barrierefreien Kommunikation hingewiesen hatte, nahm Herr Dr. D. telefonisch Kontakt mit dem Kläger auf. Mit dem vom Kläger vorgeschlagenen Ablauf der Begutachtung mit einer zunächst nur telefonischen Befragung und einem daran anschließenden Hausbesuch war der Gutachter einverstanden. Nach Ablehnung durch den Kläger gab Herr Dr. D. den Begutachtungsauftrag zurück.
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Im Verlauf hat das Gericht mit Beweisanordnung vom 08.10.2019 Herrn Prof. Dr. W., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Forensische Psychiatrie, Psychiatrische und Psychotherapeutische Klinik des Universitätsklinikum E., zum ärztlichen Sachverständigen bestellt und mit der Erstellung eines Gutachtens nach ambulanter Untersuchung beauftragt. Der Kläger erklärte mit Schreiben vom 11.10.2019, Herr Prof. Dr. W. verfüge über keine ausreichende Fachkompetenz für die bei ihm vorliegende Hauptstörung Aspergerautismus, er lehne den Gutachter ab. Das Gericht erläuterte unter dem 14.10.2019, die Auswahl des Gutachters sei erfolgt, da im Universitätsklinikum E. eine Diagnostik bei Autismus im Erwachsenenalter durchgeführt werden könne. Frau Dr. T. betreue am Universitätsklinikum E. die Autismus-Sprechstunde zur Abklärung von Störungen aus dem autistischen Spektrum und werde auch im Rahmen der Begutachtung des Klägers beteiligt sein. Insofern sei von ausreichender Fachkompetenz auszugehen. Herr Prof. Dr. W. erläuterte mit Schreiben vom 05.11.2019, eine Autismusspektrumsstörung sei durch seine fachärztliche Kompetenz vollumfänglich abgedeckt. Desweiteren sei eine mehrdimensionale Diagnostik durch die Psychologin Dr. T. Teil der Begutachtung. Eine barrierefreie Begutachtung sei gewährleistet.
8
Der Kläger lehnte die Begutachtung weiterhin ab, erklärte jedoch nach einem Hinweis des Gerichts auf eine Entscheidung nach Aktenlage sein Einverständnis mit einer Begutachtung durch Herrn Dr. D. (Beweisanordnung vom 24.01.2020, geändert mit Beschluss vom 03.02.2020 hinsichtlich einer für den Kläger barierrefreien Begutachtung). Die Anamneseerhebung erfolgte durch Herrn Dr. D. am 13.02.2020 telefonisch, der Kläger erhielt das Diktat zur Kenntnis und eventuellen Ergänzung bzw. Korrektur. Nachdem der Kläger in mehreren Anschreiben an den Gutachter Signale eines deutlichen Misstrauens äußerte, sah Herr Dr. D. keine Basis für eine Begutachtung und gab den Auftrag zurück. Er erklärte, aufgrund der komplexen psychiatrischen Problematik halte er ein psychiatrisches Gutachten für erforderlich. Die von Herrn Dr. D. diktierte Anamnese wurde zur Akte genommen.
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Mit Beweisanordnung vom 31.08.2020 hat das Gericht Frau Dr. M., Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, zur ärztlichen Sachverständigen bestellt und mit der Erstellung eines Gutachtens nach Aktenlage beauftragt. Den Ablehnungsantrag des Klägers vom 02.09.2020 hat das Gericht mit Beschluss vom 02.11.2020 zurückgewiesen. Weiter erklärte der Kläger im Schreiben vom 02.09.2020, er ziehe alle dem Sozialgericht vor dem 01.09.2020 erteilten Schweigepflichtentbindungen mit sofortiger Wirkung zurück.
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In dem neurologischen und psychiatrischen Fachgutachten nach Aktenlage vom 13.02.2021 kommt Frau Dr. M. unter Auswertung der von dem Gericht beigezogenen Unterlagen und der von Herrn Dr. D. erhobenen Anamnese zu dem Ergebnis, dass bei dem Kläger zwar erhebliche Einschränkungen aufgrund von psychiatrischen Erkrankungen bestünden, die jedoch keine Pflegebedürftigkeit bedingten. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf das Gutachten verwiesen.
11
In seinen Stellungnahmen zum Gutachten führt der Kläger u.a. an, die von der Gutachterin angenommenen Diagnosen seien unzutreffend, Frau Dr. M. fehle die Fachkompetenz, zudem bestünden weder Objektivität noch Neutralität. Eine soziale Teilhabe sei ohne Begleitung kaum möglich, zur Entlastung (Orientierung) sei zumindest Pflegegrad 1 festzustellen.
12
Der Kläger beantragt (sinngemäß),
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 01.11.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.01.2019 zu verurteilen, dem Kläger ab dem 01.07.2017 Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung mindestens nach dem Pflegegrad 1 zu gewähren.
13
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
14
Zur Begründung für den Antrag auf Klageabweisung verweist die Beklagte auf die Gründe der streitgegenständlichen Bescheide.
15
Die Beteiligten wurden zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört und haben ihr Einverständnis hierzu erklärt.
16
Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhaltes wegen der Einzelheiten auf die Akte der Beklagten und die Akte des Sozialgerichts verwiesen.

Entscheidungsgründe

17
Da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt, soweit er entscheidungserheblich ist, geklärt ist, entscheidet das Gericht vorliegend in Ausübung seines Ermessens – und unter Berücksichtigung aller Umstände – gemäß § 105 SGG durch Gerichtsbescheid. Zu berücksichtigen war insoweit auch, dass die Beteiligten dem zugestimmt haben.
18
Die insbesondere form- und fristgerecht erhobene kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage ist zulässig, aber unbegründet und daher abzuweisen. Der Kläger wird durch den angegriffenen Bescheid der Beklagten vom 01.11.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.01.2019 nicht beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 S. 1 SGG. Die Bescheide der Beklagten sind rechtmäßig ergangen, denn der Kläger hat keinen Anspruch auf Leistungen der sozialen Pflegeversicherung, die Voraussetzungen für einen Pflegegrad liegen nicht vor.
19
Grundvoraussetzung für Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung ist das Vorliegen von Pflegebedürftigkeit gemäß § 14 SGB XI. Pflegebedürftig im Sinne des SGB XI sind nach § 14 Abs. 1 SGB XI Personen, die gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten aufweisen und deshalb der Hilfe durch andere bedürfen. Es muss sich um Personen handeln, die körperliche, kognitive oder psychische Beeinträchtigungen oder gesundheitlich bedingte Belastungen oder Anforderungen nicht selbständig kompensieren oder bewältigen können. Die Pflegebedürftigkeit muss auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, und mit mindestens der in § 15 SGB XI festgelegten Schwere bestehen.
20
Maßgeblich für das Vorliegen von gesundheitlich bedingten Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten sind nach § 14 Abs. 2 SGB XI die in den folgenden sechs Bereichen genannten pflegefachlich begründeten Kriterien:
1. Mobilität: Positionswechsel im Bett, Halten einer stabilen Sitzposition, Umsetzen, Fortbewegen innerhalb des Wohnbereichs, Treppensteigen;
2. kognitive und kommunikative Fähigkeiten: Erkennen von Personen aus dem näheren Umfeld, örtliche Orientierung, zeitliche Orientierung, Erinnern an wesentliche Ereignisse oder Beobachtungen, Steuern von mehrschrittigen Alltagshandlungen, Treffen von Entscheidungen im Alltagsleben, Verstehen von Sachverhalten und Informationen, Erkennen von Risiken und Gefahren, Mitteilen von elementaren Bedürfnissen, Verstehen von Aufforderungen, Beteiligen an einem Gespräch;
3. Verhaltensweisen und psychische Problemlagen: motorisch geprägte Verhaltensauffälligkeiten, nächtliche Unruhe, selbstschädigendes und autoaggressives Verhalten, Beschädigen von Gegenständen, physisch aggressives Verhalten gegenüber anderen Personen, verbale Aggression, andere pflegerelevante vokale Auffälligkeiten, Abwehr pflegerischer und anderer unterstützender Maßnahmen, Wahnvorstellungen, Ängste, Antriebslosigkeit bei depressiver Stimmungslage, sozial inadäquate Verhaltensweisen, sonstige pflegerelevante inadäquate Handlungen;
4. Selbstversorgung: Waschen des vorderen Oberkörpers, Körperpflege im Bereich des Kopfes, Waschen des Intimbereichs, Duschen und Baden einschließlich Waschen der Haare, An- und Auskleiden des Oberkörpers, An- und Auskleiden des Unterkörpers, mundgerechtes Zubereiten der Nahrung und Eingießen von Getränken, Essen, Trinken, Benutzen einer Toilette oder eines Toilettenstuhls, Bewältigen der Folgen einer Harninkontinenz und Umgang mit Dauerkatheter und Urostoma, Bewältigen der Folgen einer Stuhlinkontinenz und Umgang mit Stoma, Ernährung parenteral oder über Sonde, Bestehen gravierender Probleme bei der Nahrungsaufnahme bei Kindern bis zu 18 Monaten, die einen außergewöhnlich pflegeintensiven Hilfebedarf auslösen;
5. Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen:
a) in Bezug auf Medikation, Injektionen, Versorgung intravenöser Zugänge, Absaugen und Sauerstoffgabe, Einreibungen sowie Kälte- und Wärmeanwendungen, Messung und Deutung von Körperzuständen, körpernahe Hilfsmittel,
b) in Bezug auf Verbandswechsel und Wundversorgung, Versorgung mit Stoma, regelmäßige Einmalkatheterisierung und Nutzung von Abführmethoden, Therapiemaßnahmen in häuslicher Umgebung,
c) in Bezug auf zeit- und technikintensive Maßnahmen in häuslicher Umgebung, Arztbesuche, Besuche anderer medizinischer oder therapeutischer Einrichtungen, zeitlich ausgedehnte Besuche medizinischer oder therapeutischer Einrichtungen, Besuch von Einrichtungen zur Frühförderung bei Kindern sowie
d) in Bezug auf das Einhalten einer Diät oder anderer krankheits- oder therapiebedingter Verhaltensvorschriften;
6. Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte: Gestaltung des Tagesablaufs und Anpassung an Veränderungen, Ruhen und Schlafen, Sichbeschäftigen, Vornehmen von in die Zukunft gerichteten Planungen, Interaktion mit Personen im direkten Kontakt, Kontaktpflege zu Personen außerhalb des direkten Umfelds.
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Nach § 14 Abs. 3 SGB XI werden Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten, die dazu führen, dass die Haushaltsführung nicht mehr ohne Hilfe bewältigt werden kann, bei den Kriterien der in § 14 Abs. 2 SGB XI genannten Bereiche berücksichtigt.
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Vorliegend steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass bei dem Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum ab Juli 2017 die für das Erreichen eines Pflegegrades erforderliche Einschränkung in der Selbständigkeit bzw. der Fähigkeiten nicht bestand bzw. besteht.
23
Der Pflegegrad hängt nach dem neuen seit 01.01.2017 geltenden Verständnis von Pflegebedürftigkeit von der Schwere der Beeinträchtigungen der Selbständigkeit und der Fähigkeiten ab (§ 15 Abs. 1 S. 1 SGB XI). Der Grad der Selbständigkeit bzw. der Beeinträchtigungen wird in der Regel danach bemessen, in welchem Umfang der Mensch seinen Alltag eigenständig bewältigen kann bzw. in welchem Maße er bei Aktivitäten die Unterstützung anderer Personen benötigt. Die menschlichen Fähigkeiten und Aspekte selbständigen Handelns werden entsprechend der sechs Module nach den in § 14 Abs. 2 SGB XI aufgeführten Kriterien bewertet.
24
Nach § 15 Abs. 2 Satz 2 SGB XI sind in jedem Modul für die in den Bereichen genannten Kriterien die in Anlage 1 zum SGB XI dargestellten Kategorien vorgesehen, wobei mit Kategorien die Ausprägungen bzw. Schweregrade der Beeinträchtigungen der Selbständigkeit und der Fähigkeiten gemeint sind. Den jeweiligen Kategorien sind wiederum für alle einzelnen Kriterien pflegefachlich fundierte Einzelpunkte zuzuordnen. Die Kategorien erfassen dabei in den verschiedenen Modulen unterschiedliche Aspekte. In den Modulen 1 (Mobilität), 4 (Selbstversorgung) und 6 (Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte) geht es um den Grad der Selbständigkeit. Im Modul 2 (kognitive und kommunikative Fähigkeiten) ist das Ausmaß, in dem die jeweilige Fähigkeit vorhanden ist, die maßgebende Kategorie. Die Bewertung richtet sich danach, ob eine Fähigkeit vorhanden bzw. unbeeinträchtigt, ob sie größtenteils, in geringem Maße oder nicht vorhanden ist. Im Modul 3 (Verhaltensweisen und psychische Problemlagen) richtet sich die Zuordnung zu einer Kategorie nach der Häufigkeit, mit der die aufgeführten Verhaltensweisen und psychische Problemlagen auftreten. Im Modul 5 (Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen) sind Kriterien zu erfassen, die auf der Grundlage des bisherigen Pflegebedürftigkeitsbegriffs nicht berücksichtigt wurden. In diesem Bereich geht es nicht darum, den Bedarf an Maßnahmen der häuslichen Krankenpflege bzw. Behandlungspflege nach dem SGB V einzuschätzen. Die Berücksichtigung von Fähigkeiten beim Umgang mit krankheits- und therapiebedingten Anforderungen und Belastungen trägt allein der Erkenntnis Rechnung, dass ein großer Teil der hier aufgeführten Maßnahmen und Handlungen von erkrankten Menschen ganz oder teilweise eigenständig durchgeführt werden können, sofern sie (noch) über die dazu nötigen Ressourcen verfügen. Mit dem in Modul 5 aufgeführten Bereich ist häufig ein Hilfebedarf bei der Anleitung, Motivation oder Schulung verbunden (Udsching in: Udsching/Schütze, SGB XI Soziale Pflegeversicherung, 5. Auflage 2018, § 14 Rz 18 – beck online). Aus den in den jeweiligen Modulen erreichten Einzelpunkten werden entsprechend der Anlage 2 zum SGB XI gewichtete Punkte zugeordnet.
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Die Zuordnung zum Pflegegrad 1 setzt nach § 15 Abs. 3 Satz 4 Nr. 1 SGB XI voraus, dass ein Punktwert der gewichteten Punkte von mindestens 12,5 erreicht wird (geringe Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten).
26
Die Voraussetzungen für Pflegegrad 1 sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Nach dem Gutachten der gerichtlich bestellten Sachverständigen Frau Dr. M. erreicht der Kläger lediglich 3,75 gewichtete Punkte.
27
Die gerichtliche Sachverständige hat die bei dem Kläger vorliegenden Limitationen erfasst und entsprechend der Vorgabe der Richtlinie des GKV-Spitzenverbandes zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit vom 15.04.2016, geändert durch Beschluss vom 31.03.2017, eingeordnet. Die Richtlinie formuliert genaue Definitionen, wann in den Modulen 1, 4 und 6 eine Maßnahme selbständig/überwiegend selbständig/überwiegend unselbständig/unselbständig durchgeführt werden kann bzw. wann in Modul 2 eine Fähigkeit vorhanden/größtenteils vorhanden/in geringem Maße vorhanden/nicht vorhanden ist. Auch die Module 3 und 5 werden durch die Angabe der Häufigkeit eindeutig definiert.
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Außer im Modul 6 (Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte) unter Ziffer 6.1 Gestaltung des Tagesablaufs und Anpassung an Veränderungen haben sich im Ergebnis sowohl bei der Begutachtung durch den MDK als auch durch die Gerichtsgutachterin keine Beeinträchtigungen der Selbständigkeit und der Fähigkeiten des Klägers ergeben, und solche werden von dem Kläger auch nicht geltend gemacht. So erfolgten weder im Widerspruchs- noch im Klageverfahren Ausführungen dazu, welche gesundheitlich bedingten Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten im Sinne der Module 1 bis 6 mit einem hieraus resultierenden Hilfebedarf nach Auffassung des Klägers vorliegen, weitere Ausführungen hierzu sind daher nicht angezeigt. Der Vortrag des Klägers beschränkt sich im Wesentlichen auf die Voraussetzungen einer barrierefreien Begutachtung und die Kompetenz des Gutachters, Einlassungen zu den Voraussetzungen der Pflegebedürftigkeit erfolgen jedoch nicht. Aus einer Erkrankung auf psychiatrischem Fachgebiet allein lässt sich ein Anspruch auf Zuerkennung eines Pflegegrades nicht ableiten. Die vom dem Kläger geltend gemachte Begleitung bei der sozialen Teilhabe ist im Übrigen auch keine Leistung der sozialen Pflegeversicherung. Die Hausärztin des Klägers, Frau Dr. A., sieht eher die Erforderlichkeit einer psychologischen Betreuung (Attest vom 10.07.2017), Frau Dr. M. verweist auf die Erforderlichkeit fachärztlicher Behandlung. Wie die von dem Kläger hinzugezogene Pflegeberatung 20 bis 35 Punkte ermitteln konnte, kann daher nicht nachvollzogen werden.
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Das Gericht ist unter eigener sorgfältiger Prüfung der vorliegenden Unterlagen davon überzeugt, dass die gutachterliche Einschätzung der Frau Dr. M. zutreffend ist. Das Gericht hat daher keine Bedenken, sich der Einschätzung von Frau Dr. M. anzuschließen. Anhaltspunkte für eine unvollständige Befunderhebung oder unzutreffende Beurteilung sind nicht ersichtlich. Auch durften die vom Gericht beigezogenen Befunde der Begutachtung und der Entscheidung des Gerichts zugrunde gelegt werden, obwohl der Kläger mit Schreiben vom 02.09.2020 alle dem Sozialgericht vor dem 01.09.2020 erteilten Schweigepflichtentbindungen mit sofortiger Wirkung zurückgezogen hat. Diese Erklärung des Klägers führt nicht zum rückwirkenden Entfallen der Zustimmung, sondern nur dazu, dass ab Zugang des Widerrufs eine Zustimmung nicht mehr vorliegt. Eine Grundlage dafür, einmal rechtmäßig erhaltene Informationen und Beweismittel in einem Prozess nicht mehr nutzen zu dürfen, wenn ein Beteiligter nicht mehr mit der Verwendung einverstanden ist, gibt es nicht. Rechtmäßig erlangte Informationen und Beweismittel sind im Prozess einführbar und verwertbar (Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 11. 03.2014, L 3 SB 229/12; BSG, Beschluss vom 28.11.2019, B 8 SO 56/17 B – jeweils juris). Soweit der Kläger auf das Erfordernis einer barrierefreien Begutachtung und die hierzu ergangene Entscheidung des BSG vom 14.11.2013, B 9 SB 5/13 B, verweist, so hat das Gericht im vorliegenden Verfahren alle Möglichkeiten ausgeschöpft, um eine solche Begutachtung des Klägers durchzuführen. Herr Dr. D. hat zweimal versucht, eine Begutachtung über einen telefonischen Kontakt anzubahnen. Frau Dr. T. betreut am Universitätsklinikum E. eine Spezialsprechstunde im Bereich Erwachsenenautismus und verfügt daher über entsprechende Erfahrungen im Umgang mit Menschen, die an einer Autismusspektrumsstörung leiden. Nachdem der Kläger die hier zumutbare Mitwirkung abgelehnt hat, war eine Beweiserhebung nur mittels eines Gutachtens nach Aktenlage möglich.
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Wie bereits aufgezeigt, setzt eine Zuordnung zum Pflegegrad 1 nach § 15 Abs. 3 Satz 4 Nr. 1 SGB XI voraus, dass ein Punktwert der gewichteten Punkte von mindestens 12,5 erreicht wird (geringe Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten). Mit 3,75 gewichteten Punkten liegen die Voraussetzungen für den Pflegegrad 1 nicht vor. Die Klage war daher abzuweisen.
31
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.