Inhalt

FG München, Gerichtsbescheid v. 09.04.2021 – 7 K 211/19
Titel:

Aufhebung einer Einspruchsentscheidung

Normenketten:
FGO § 44 Abs. 2, § 90a,§ 100, § 102, § 135 Abs. 1, § 151 Abs. 1 u. 3
VwZG § 9, 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, § 15
EStG § 68 Abs. 1 S. 1
AO § 122 Abs. 3
Leitsatz:
Die isolierte Anfechtung kommt dann in Betracht, wenn der Kläger lediglich durch diese Entscheidung beschwert und damit in seinen Rechten verletzt ist und er einen entsprechenden – eingeschränkten – Antrag gestellt hat (vgl. BFH, Urteil vom 19. Mai 1998, I R 44/97, BFH/NV 1999, 314; BeckRS 1998, 30014466). (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Anfechtungsklage, Aufhebung, Aufhebungsbescheid, Ausland, Bekanntmachung, Bescheid, Einspruch, Familienkasse, isolierte Aufhebung, Wiedereinsetzung, Verwaltungsakt, Zustellung
Fundstelle:
BeckRS 2021, 60976

Tenor

1. Die Einspruchsentscheidung vom 12. Februar 2018 wird aufgehoben.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Das Urteil ist im Kostenpunkt für die Klägerin vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten der Klägerin die Vollstreckung abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.

Entscheidungsgründe

I.
1
Die Klägerin begehrt mit ihrer Klage die Aufhebung der Einspruchsentscheidung. Streitig ist, ob ein Bescheid im Wege der öffentlichen Zustellung bekanntgegeben werden durfte.
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Die Klägerin ist Mutter der Kinder G (geb. 1983), T (geb. 1990), M (geb. 1992), J1 (geb. 1997), J2 (geb. 2000) und F (geb. 2002), für die sie Kindergeld bezog.
3
Im Juli 2014 wurde die Festsetzung des Kindergeldes für das Kind T aufgehoben. Der Bescheid war an die Adresse … adressiert. Gegen diesen – hier nicht streitgegenständlichen Bescheid – legte die Klägerin per E-Mail vom 1. August 2014 Einspruch ein. Hierin bat sie um weitere Kommunikation per E-Mail, da sie sich im Rahmen ihres Studiums zu Forschungszwecken im Ausland befinde. Auch in weiteren Angelegenheiten hatte die Klägerin über die Jahre hinweg ihrerseits bereits mehrfach von der immer gleichen E-Mail-Adresse Kontakt zur Beklagten aufgenommen (Mail vom 25. Oktober 2012, Bl. 117 der Kindergeld-Akte; Mail vom 16. Februar 2013, Bl. 121 der Kindergeld-Akte; Mail vom 6. April 2013, Bl. 125 der Kindergeld-Akte; 8. August 2014, Bl. 143 der Kindergeld-Akte).
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Infolge eines Datenabgleichs mit dem Einwohnermeldeamt vom 6. Dezember 2014 wurde der Beklagten bekannt, dass die Klägerin und ihre Kinder J1, J2 und F seit dem 1. September 2013 nach … abgemeldet wurden. Die Eingangsbestätigung des Einspruchs wurde am 16. März 2015 gleichwohl an die bisher bekannte Adresse in O versandt. Das Schreiben kam am 23. März 2015 mit dem Vermerk „Empfänger unter der angegebenen Anschrift nicht zu ermitteln“ zurück. Infolge einer Anfrage beim Einwohnermeldeamt vom 13. Mai 2015 wurde der Beklagten die Abmeldung der Klägerin nach … seit dem 1. September 2013 bestätigt.
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Mit Bescheid vom 17. Juni 2015 hob die Beklagte daher die Kindergeldfestsetzungen gegenüber der Klägerin für die Kinder T, M, J1, J2 und F ab dem Monat September 2013 auf und forderte das bis einschließlich März 2015 überzahlte Kindergeld in Höhe von insgesamt 17.052 € zurück. Der Aufhebungsbescheid wurde öffentlich zugestellt. Als Begründung gab die Beklagte an, dass die Klägerin seit 1. September 2013 ins Ausland (…) verzogen und Näheres nicht bekannt sei. Vom 29. Juni 2015 bis 10. August 2015 wurde in den Räumen der Bundesagentur für Arbeit, Familienkasse …, eine Benachrichtigung für die Klägerin ausgehängt, dass sie – wohnhaft zuletzt unter der Anschrift O – einen für sie bestimmten Aufhebungsbescheid vom 17. Juni 2015, Az. … bei der Familienkasse …, während der Dienststunden in Empfang nehmen könne. Weiter wurde sie darauf hingewiesen, dass durch diese öffentliche Zustellung eine Einspruchsfrist nach § 355 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) in Gang gesetzt werde und nach Ablauf der Frist Rechtsverluste drohten. Die tatsächliche Dauer des Aushangs wurde in den Akten vermerkt. Der Bescheid wurde nicht zusätzlich mit der Post an die Anschrift in O. versandt.
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Gegen den Aufhebungsbescheid vom 17. Juni 2015 legte die Klägerin mit Schreiben vom 23. Dezember 2017 (Zugang am 28. Dezember 2017) Einspruch mit der Begründung ein, dass ihr dieser Bescheid nie zugegangen sei. Mit Einspruchsentscheidung vom 12. Februar 2018 verwarf die Familienkasse den Einspruch der Klägerin als unzulässig, weil er nicht fristgemäß erhoben worden und auch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht zu gewähren sei.
7
Hiergegen hat die Klägerin vor dem Finanzgericht (FG) Baden-Württemberg Klage erhoben. Zur Begründung führt sie aus, dass zum Zeitpunkt der Zusendung des Aufhebungsbescheides ein aktiver Nachsendeauftrag bestanden habe und die gesamte Post an ihren Sohn G in T und seit August 2016 an ihre Tochter J1 in U gegangen sei. Einen eigenen inländischen Wohnsitz habe sich die Klägerin zu dieser Zeit nicht leisten können. Der Beklagten hätten alle Informationen vorgelegen, welche darauf schließen ließen, dass sie postalisch erreichbar sein musste. Die Familienkasse habe aus den ihr vorliegenden Unterlagen zudem gewusst, dass die Tochter M in I an der Hochschule bis einschließlich Sommersemester 2016 eingeschrieben war. Weder das BaFöG Amt noch die Krankenversicherung oder die Schweizer Polizei hätten je ein Problem gehabt, ihr die Post zuzustellen. Es wäre durchaus zumutbar gewesen, zunächst eine postalische Zustellung zu versuchen. Aufgrund des Postnachsendeauftrages habe sie davon ausgehen können, alles Erforderliche getan zu haben, was man von ihr als einer verantwortlichen Erwachsenen und Staatsbürgerin erwarten könne. Unabhängig davon, ob ein Suchvermerk im Bundeszentralregister niedergelegt worden sei, sei ein erster Zustellversuch per Post vom Verwaltungsaufwand her zumutbar gewesen. Ein Fristversäumnis nach einer derart ungeeigneten Zustellung könne ihr nicht vorgeworfen werden.
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Die Klägerin beantragt,
die Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 12. Februar 2018.
9
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
10
Sie trägt vor, dass sie – nachdem bereits die Eingangsbestätigung zum Einspruch vom 11. September 2014 nicht habe zugestellt werden können – den Aufhebungsbescheid öffentlich zugestellt habe, da eine formelle Zustellung wenig erfolgversprechend gewesen sei. Sofern sich die Klägerin darauf berufe, dass ein Nachsendeauftrag vorgelegen hätte, hätte sich dieser auch über die bekannten Zustelldienste der Behörden erstrecken müssen, was offensichtlich nicht der Fall gewesen sei. Aus diesem Grund habe der Aufhebungsbescheid durch die öffentliche Bekanntmachung Bestandskraft erlangt.
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Aufgrund eines Wohnortwechsels vor Klageerhebung wurde das finanzgerichtliche Verfahren durch Beschluss des Finanzgerichts Baden-Württemberg vom 29. November 2018 an das Finanzgericht München verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Beteiligten und die von der Beklagten vorgelegten Kindergeldakten Bezug genommen.
II.
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Die zulässige Klage ist begründet. Die von der Kindergeldkasse erlassene Einspruchsentscheidung vom 12. Februar 2018 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin daher in ihren Rechten (§ 100 der Finanzgerichtsordnung – FGO –).
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1. Die Klägerin begehrt der Sache nach eine isolierte Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 12. Februar 2018.
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Grundsätzlich ist eine Klage dahingehend auszulegen, dass sowohl die Aufhebung der Einspruchsentscheidung als auch der zugrunde liegenden Bescheide verlangt wird. Gegenstand der Anfechtungsklage ist demzufolge der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf gefunden hat (§ 44 Abs. 2 FGO). Beide bilden insoweit eine Verfahrenseinheit. Ausnahmsweise kann auch allein die Rechtsbehelfsentscheidung aufgehoben werden. Die isolierte Anfechtung kommt dann in Betracht, wenn der Kläger lediglich durch diese Entscheidung beschwert und damit in seinen Rechten verletzt ist. Voraussetzung für die isolierte Aufhebung der Rechtsbehelfsentscheidung ist in Fällen der Anfechtungsklage überdies, dass der Kläger einen entsprechenden – eingeschränkten – Antrag gestellt hat (siehe Bundesfinanzhof – BFH – vom 19. Mai 1998, I R 44/97, BFH/NV 1999, 314; siehe Tipke/Kruse-Tipke § 100 FGO Rn. 21 m.w.N.).
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Die von der Rechtsprechung entwickelten Voraussetzungen liegen hier vor. Die Klägerin beruft sich darauf, dass die in der Einspruchsentscheidung getroffene Entscheidung, ihr Rechtsbehelf sei verfristet eingelegt worden, nicht rechtmäßig und der mit dem Einspruch angegriffene Verwaltungsakt ihr gegenüber nicht wirksam bekannt gegeben worden sei. Unter diesen Umständen ist sie allein durch die Einspruchsentscheidung beschwert.
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2. Die angefochtene Einspruchsentscheidung ist rechtswidrig. Der Bescheid vom 17. Juni 2015 wurde nicht ordnungsgemäß bekannt gegeben. Die Voraussetzungen der öffentlichen Bekanntmachung (§ 122 Abs. 3 Satz 1 der Abgabenordnung – AO – i.V.m. § 10 des Verwaltungszustellungsgesetzes – VwZG –) waren im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Nach § 122 Abs. 3 Satz 1 AO darf ein Verwaltungsakt öffentlich bekanntgegeben werden, wenn dies durch eine Rechtsvorschrift zugelassen ist. Eine entsprechende Befugnis ergibt sich aus § 10 VwZG.
18
Die Entscheidung, ob nach § 122 Abs. 5 AO i.V.m. § 10 VwZG öffentlich zugestellt werden soll, steht – wie sich aus der Verwendung des Begriffes „kann“ im Wortlaut des § 10 Abs. 1 Satz 1 VwZG ergibt – im Ermessen der Behörde. Dieses Ermessen setzt erst dann ein, wenn die unter den Nummern 1 bis 3 des § 10 Abs. 1 Satz 1 VwZG geregelten gesetzlichen Voraussetzungen für eine öffentliche Zustellung vorliegen. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen ist in vollem Umfang und nicht nur in den Grenzen des § 102 FGO durch das Finanzgericht nachprüfbar (vgl. BFH-Urteil vom 15. Januar 1991 VII R 86/89, BFH/NV 1992, 81, Rn. 19 zur Vorgängervorschrift des § 15 VwZG a.F.; Schwarz in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, 257. Lieferung, Stand 04.2020, § 10 VwZG, Rn. 5).
19
Dabei ist die öffentliche Zustellung erst zulässig, wenn alle anderen Möglichkeiten, dem Empfänger das Schriftstück zu übermitteln, erschöpft sind (BFH-Beschluss vom 9. August 2007 V B 149/06, BFH/NV 2007, 2310). Die öffentliche Zustellung ist das „letzte Mittel“ und die hiermit einhergehende Zustellungsfiktion aufgrund des Grundrechts auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes) nur zu rechtfertigen, wenn eine andere Art der Zustellung aus sachlichen Gründen nicht oder nur schwer durchführbar wäre (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts – BVerfG – vom 26. Oktober 1987 1 BvR 198/87, NJW 1988, 2361). § 10 VwZG setzt deshalb voraus, dass nicht nur der zustellenden Behörde die Anschrift des Zustellungsempfängers unbekannt, sondern dessen Aufenthaltsort allgemein unbekannt ist. Die öffentliche Zustellung ist erst als „letztes Mittel“ zulässig, wenn alle Möglichkeiten erschöpft sind, das Schriftstück dem Empfänger in anderer Weise zu übermitteln (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 9. Dezember 2009 X R 54/06, BStBl II 2010, 732, Rn. 26 m.w.N.).
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Welcher Art die Ermittlungen nach der Anschrift des Zustellungsempfängers sein müssen, richtet sich nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalles. So mag die Behörde ihrer Ermittlungspflicht in der Regel gerecht werden, wenn sie sich auf den Versuch beschränkt, die Anschrift bei der Einwohnermeldebehörde oder der Polizei zu erhalten. Dies reicht jedoch dann nicht aus, wenn die konkrete Sachverhaltsgestaltung es nahelegt, weitere Nachforschungen bei anderen Einrichtungen oder Personen anzustellen (BFH-Urteil vom 15. Januar 1991 VII R 86/89, BFH/NV 1992, 81, Rn. 20).
21
Eine Rechtspflicht der zustellenden Behörde, Anschriften im Ausland zu ermitteln, wird in der Rechtsprechung regelmäßig verneint, wenn ein Fall der „Auslandsflucht“ vorliegt (vgl. die BFH-Urteil vom 13. Januar 2005 V R 44/03, BFH/NV 2005, 998; BFH-Beschluss vom 16. Januar 2001 VI S 25/00, BFH/NV 2001, 802) oder wenn sich der Empfänger beim inländischen Melderegister „ins Ausland“ ohne Angabe einer Anschrift abmeldet (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 9. Dezember 2009 X R 54/06, BStBl II 2010, 732 m.w.N.; Entscheidungen des FG Düsseldorf vom 17. Februar 2006 1 K 2677/05, E, U, EFG 2006, 865 bzw. des FG München vom 17. Juni 2003 6 K 336/03, juris). Die Behörde ist in diesen Fällen jedoch nicht von jedweden Nachforschungen entbunden, sondern lediglich vorrangig zu Ermittlungsmaßnahmen im Inland verpflichtet, z.B. durch Nachfragen beim Einwohnermeldeamt und bei Kontaktpersonen des Empfängers (BFH-Urteil vom 9. Dezember 2009 X R 54/06, BStBl II 2010, 732, Rn. 28).
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Bei der Bemessung der Anforderungen, welche an den Umfang der Nachforschungsbemühungen zu stellen sind, ist andererseits zu berücksichtigen, in welchem Umfang den Steuerpflichtigen eine Mitwirkungspflicht trifft. Es besteht eine Wechselwirkung zwischen dem Umfang der notwendigen Ermittlungen durch die Behörde und dem Verhalten des Empfängers, insbesondere wenn dieser Umzüge nicht mitteilt (Kruse in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 10 VwZG Rn. 2; offen gelassen im BFH-Urteil vom 6. Juni 2000 VII R 55/99, BStBl II 2000, 560). Nach § 68 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) sind Änderungen in den Verhältnissen, die für die Leistung von Kindergeld erheblich sind oder über die im Zusammenhang mit der Leistung Erklärungen abgegeben worden sind, unverzüglich der Familienkasse mitzuteilen. Im Hinblick auf diese Mitteilungspflicht sind an die von der Familienkasse anzustellenden Nachforschungen keine überhöhten Anforderungen zu stellen (FG Nürnberg, Urteil vom 8. Juli 2010 7 K 938/2009, EFG 2012, 670, Rn. 26).
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a) Zwar wurden die formellen Voraussetzungen des § 10 Abs. 2 VwZG eingehalten. Die Bekanntmachung über die Möglichkeit, den Aufhebungsbescheid entgegenzunehmen, wurde in den Räumen der Familienkasse ausgehängt. Sie enthielt auch den erforderlichen Hinweis auf den drohenden Rechtsverlust.
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b) Die Entscheidung genügte jedoch nicht den Anforderungen des § 10 Abs. 1 Satz 1 VwZG. Hiernach kann auf die öffentliche Bekanntmachung nur zurückgegriffen werden, wenn der Aufenthaltsort des Empfängers unbekannt ist und eine Zustellung an einen Vertreter oder Zustellbevollmächtigten nicht möglich ist (§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VwZG) bzw. eine Zustellung im Ausland nicht möglich ist oder keinen Erfolg verspricht (§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 VwZG). Dies ist vorliegend nicht der Fall.
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Die Anschrift des Empfängers ist nicht bereits deswegen unbekannt i.S.d. § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VwZG, weil die Behörde sie nicht kennt. Vielmehr muss die Behörde vor der öffentlichen Bekanntgabe gründliche und sachdienliche Ermittlungen nach der Anschrift des Empfängers anstellen. Der Nachforschungspflicht genügt die Finanzbehörde regelmäßig durch Rückfrage beim Einwohnermeldeamt, der Polizei oder ggf. einem Bevollmächtigten (BFH-Urteile vom 15. Januar 1991 VII R 86/89, BFH/NV 1992, 81; vom 13. Januar 2005 V R 44/03, BFH/NV 2005, 998). Eine ergebnislose Abfrage beim Einwohnermeldeamt reicht jedoch dann nicht aus, wenn es die konkrete Sachverhaltsgestaltung – auch unter Berücksichtigung etwaiger steuerlicher Mitwirkungspflichten – nahelegt, bei anderen Personen oder Einrichtungen weitere Auskünfte einzuholen (BFH-Urteile vom 15. Januar 1991 VII R 86/89, BFH/NV 1992, 81).
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aa) Im vorliegenden Fall ist die Klägerin gem. § 68 Abs. 1 Satz 1 EStG verpflichtet gewesen, der Familienkasse die Verlegung ihres Wohnsitzes ins Ausland und ihre Rückkehr ins Inland mitzuteilen. Die Klägerin musste sich ihrer Verpflichtung aufgrund des Merkblattes zum Kindergeld, welches ihr ausgehändigt worden war, auch bewusst sein. Die Klägerin hat es indes unterlassen der Beklagten eine konkrete neue Adresse in Deutschland oder im O. mitzuteilen unter der sie erreichbar gewesen wäre. Auch aus der Mitteilung des Einwohnermeldeamtes ging nur hervor, dass die Klägerin sich in den O. abgemeldet hatte; eine genaue Anschrift war nicht hinterlegt.
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bb) Gleichwohl ist im vorliegenden Einzelfall zu berücksichtigen, dass die Klägerin der Beklagten ausdrücklich per E-Mail mitgeteilt hatte, dass sie aufgrund ihres Auslandsaufenthaltes eine Kommunikation per E-Mail wünsche. Es sind keine Umstände vorgetragen worden oder sonst aus den Akten erkennbar, dass die Beklagte Bedenken gegen Nachfragen unter dieser E-Mail-Adresse hatte oder hätte haben können. Die Klägerin hatte bereits mehrfach unter dieser Adresse Kontakt zur Beklagten aufgenommen. Eine E-Mail der Klägerin an die Beklagte, war als nicht zustellbar an die Klägerin unter der benannten E-Mail-Adresse zurückgegangen, was die Klägerin im Nachgang der Beklagten mitteilte. Hieraus war ersichtlich, dass nicht nur E-Mails von dieser Adresse abgesandt wurden, sondern unter der bekannten Adresse auch zustellbar waren. Es sind also keinerlei Gründe ersichtlich, dass die Klägerin unter dieser Adresse nicht erreichbar gewesen wäre. Zwar hätte eine Bekanntgabe des Bescheides nicht an die E-Mail-Adresse erfolgen können, jedoch hätte die Beklagte die E-Mail-Adresse zumindest nutzen können, um die Klägerin nach einer Zustelladresse zu befragen oder um sie zur Benennung einen Empfangsbevollmächtigten im Inland aufzufordern. Hierfür spricht auch, dass sich die Familienkasse zur Erkundigung einer aktuellen inländischen Zustelladresse in 2017 durchaus per E-Mail an die Klägerin wandte.
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Auch die ergebnislose Abfrage beim Einwohnermeldeamt reicht vorliegend nicht aus, um die öffentliche Zustellung als ultima ratio und damit ermessensgerechte Bekanntgabeform anzusehen. Die Beklagte hat bis auf diese eine Abfrage beim Einwohnermeldeamt nichts unternommen, um eine Bekanntgabeadresse in Erfahrung zu bringen. Sie hat beispielsweise keine Nachforschungen bei der Bank angestellt, auf deren Konto das Kindergeld zuletzt ausgezahlt wurde. Auch Nachfragen bei den im Inland verbliebenen Kindern unterblieben, obwohl der Familienkasse zumindest die Adresse von M. bekannt war und der Mitteilung des Einwohnermeldeamtes zufolge nur J1, J2 und F mit in den … verreist waren, nicht jedoch G, T und M.
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Die Finanzbehörde ist ihren Ermittlungspflichten folglich nicht im ausreichendem Maße nachgekommen. Die Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VwZG sind daher im vorliegenden Sachverhalt nicht erfüllt.
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dd) Die Familienkasse hätte zudem vorrangig auch einen Zustellversuch im Ausland unternehmen können (§§ 9, 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 VwZG), was unterblieb.
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Geht eine Behörde davon aus, dass sich ein Antragsteller in einem bestimmten Land aufhält, ohne dessen dortige Anschrift zu kennen, muss es im Vorfeld einer öffentlichen Zustellung wegen „unbekannten Aufenthaltsorts“ gemäß § 15 Abs. 1 Buchst. a VwZG a.F. versuchen, die gültige ausländische Anschrift im Wege des zwischenstaatlichen Informationsaustauschs zu ermitteln. Erst wenn feststeht, dass eine Anschriftenermittlung auf diesem Wege nicht möglich oder fehlgeschlagen ist, darf die Behörde zur öffentlichen Zustellung übergehen (BFH-Urteil vom 9. Dezember 2009 X R 54/06, BStBl II 2010, 732). Die Anforderungen an die Behörde, den Aufenthaltsort des Bekanntgabeadressaten ermitteln zu müssen, dürfen im Einzelfall nicht überspannt werden. Eine Rechtspflicht der zustellenden Behörde, Anschriften im Ausland zu ermitteln, wird in der Rechtsprechung daher regelmäßig verneint, wenn ein Fall der „Auslandsflucht“ vorliegt oder wenn sich der Empfänger beim inländischen Melderegister „ins Ausland“ ohne Angabe einer Anschrift abmeldet (BFH-Urteil vom 9. Dezember 2009 X R 54/06, BStBl II 2010, 732 m.w.N.).
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Zu berücksichtigen ist insoweit, dass sich die Klägerin nicht nach „unbekannt“ abgemeldet hatte. Sie hat als neuen Aufenthaltsort den … angegeben. Auf Grund dieser Angabe, die einen Anhaltspunkt für Erfolg versprechende weitere Nachforschungen bot, war die Familienkasse verpflichtet dieser Möglichkeit nachzugehen, bevor es einen unbekannten Aufenthalt der Klägerin bzw. eine unmögliche bzw. nicht erfolgversprechende Zustellung im Ausland annahm. Auch einen Fall der „Auslandsflucht“ konnte die Familienkasse den Unterlagen folgend nicht annehmen. Die Klägerin hatte in ihrer Mail mitgeteilt, dass sie sich im Ausland aufhalte und ausdrücklich um Kommunikation per E-Mail ersucht. Die fehlende Angabe der genauen Adresse im … kann für sich allein die Annahme einer auf Verheimlichung des Wohnsitzes gerichteten Flucht ins Ausland nicht begründen.
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Ob eine Zustellung des Aufhebungs- und Rückforderungsbescheides im … nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 VwZG nicht möglich war bzw. keinen Erfolg versprach, kann nicht mehr geklärt werden. Jedenfalls wurde kein in diese Richtung gehender Versuch unternommen.
34
ee) Die öffentliche Zustellung ist vorliegend unwirksam. Sie stellte vorliegend nicht das „letzte Mittel“ dar. Ein einmaliger Postrücklauf eines anderen Bescheides und eine einzige ergebnislose Anfrage beim Einwohnermeldeamt reichen im vorliegenden Fall nicht aus, um die öffentliche Zustellung als einzig mögliche Bekanntgabeform zu begründen. Die konkrete Sachverhaltsgestaltung – insbesondere die Bitte um Kontaktaufnahme via E-Mail seitens der Klägerin – hätte es nahelegt, weitere Nachforschungen bei anderen Einrichtungen oder Personen vorzunehmen bzw. zumindest eine Kontaktaufnahme via E-Mail zu versuchen. Welcher Gestalt der Postnachsendeauftrag war bzw. inwiefern andere Dokumente öffentlicher Einrichtungen der Klägerin im Streitzeitraum zugingen, der Aufenthaltsort der Klägerin demnach nicht allgemein, sondern allein der Beklagten, unbekannt war – was den Anforderungen des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VwZG nicht genügt hätte (vgl. BFH-Urteil vom 14. März 2017 X S 18/16, BFH/NV 2017, 909, Rn. 31), braucht daher nicht festgestellt werden.
35
3. Die Entscheidung ergeht gem. § 90a FGO durch Gerichtsbescheid.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
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5. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 151 Abs. 1, 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10 und 711 Satz 1 ZPO.