Titel:
Schadensersatz, Anlageentscheidung, Gesellschaft, Dienstleistungen, Anleger, Staatsanwaltschaft, Beteiligung, Marktteilnehmer, Pflichtverletzung, Schaden, Medien, Internet, Vermarktung, Anscheinsbeweis, Gegenstand des Unternehmens, Nutzung von, Art und Weise
Schlagworte:
Schadensersatz, Anlageentscheidung, Gesellschaft, Dienstleistungen, Anleger, Staatsanwaltschaft, Beteiligung, Marktteilnehmer, Pflichtverletzung, Schaden, Medien, Internet, Vermarktung, Anscheinsbeweis, Gegenstand des Unternehmens, Nutzung von, Art und Weise
Fundstelle:
BeckRS 2021, 60514
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Der Streitwert wird auf 37.449,34 € festgesetzt.
Tatbestand
1
Klagepartei begehrt von der Beklagten Schadensersatz nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 332 Abs. 1 HGB sowie nach § 826 BGB wegen Pflichtverletzungen im Zusammenhang mit ihrer Prüfungstätigkeit als Wirtschaftsprüferin der ….
2
Die beklagte Wirtschaftsprüfungsgesellschaft war seit 2009 gemeinsam mit der … und seit 2011 alleine Abschlussprüferin der …. Deren Unternehmensgegenstand ist in § 2 ihrer Satzung (Anlage K 10) wie folgt beschrieben:
„(1) Gegenstand des Unternehmens ist die Entwicklung, der Betrieb und die Vermarktung von Informationsdienstleistungen (insbesondere unter Nutzung von elektronischen Medien). Ferner ist Gegenstand des Unternehmens die Entwicklung, der Betrieb und die Vermarktung von Informationsdienstleistungen (insbesondere unter Nutzung von elektronischen Medien). Ferner ist Gegenstand des Unternehmens die Entwicklung, Konzipierung und Realisierung von technischen Anwendungen, Dienstleistungen und Projektvorhaben im Bereich Zahlungssysteme sowie alle damit im Zusammenhang stehenden Geschäfte, einschließlich des Erwerbs und der Vergabe von Lizenzen im Finanzdienstleistungsbereich. Die Gesellschaft kann sich auch auf einen Teil der vorstehend genannten Tätigkeiten beschränken.
(2) Die Gesellschaft ist zu allen Geschäften und Maßnahmen berechtigt, die mit den in Absatz 1 genannten Tätigkeitsfeldern zusammenhängen oder ihnen unmittelbar oder mittelbar zu dienen geeignet sind. Sie kann im In- und Ausland Zweigniederlassungen und Betriebsstätten errichten, Unternehmen gründen, erwerben oder sich an ihnen beteiligen, insbesondere an solchen, deren Unternehmensgegenstände sich ganz oder teilweise auf die in Absatz 1 genannten Tätigkeitsfelder erstrecken. Sie kann Unternehmen, an denen sie beteiligt ist, strukturell verändern, unter einheitlicher Leitung zusammenfassen oder sich auf die Verwaltung der Beteiligung beschränken, Beteiligungen veräußern sowie Unternehmens- und Kooperationsverträge jeder Art abschließen. Sie kann ferner ihren Betrieb (auch von ihr gehaltene Beteiligungen) ganz oder teilweise durch verbundene Unternehmen führen lassen oder auf solche übertragen oder auslagern und sich auf die Tätigkeit einer geschäftsleitenden Holding beschränken.“
3
Die Beklagte erteilte für die Jahres- und Konzernabschlüsse der … und für die (Konzern-)Lageberichte für die Geschäftsjahre 2009 bis einschließlich 2018 uneingeschränkte Bestätigungsvermerke. Die Abschlüsse für die Geschäftsjahre 2015 bis 2018 (Anlagen K 17-K 24) wurden an folgenden Tagen von nachfolgend genannten Mitarbeitern der Beklagten unterzeichnet und an nachfolgend genannten Tagen im Bundesanzeiger veröffentlicht:
Jahresabschluss: Unterzeichnung: 08.04.2016, Veröffentlichung: 13.06.2016
Konzernabschluss: Unterzeichnung: 06.04.2016, Veröffentlichung: 28.06.2016
Erster Unterzeichner … Zweiter Unterzeichner: …
Jahresabschluss: Unterzeichnung: 25.04.2017, Veröffentlichung: 17.05.2017
Konzernabschluss: Unterzeichnung: 05.04.2017, Veröffentlichung: 19.07.2017
Erster Unterzeichner … Zweiter Unterzeichner: …
Jahresabschluss: Unterzeichnung: 25.04.2018, Veröffentlichung: 23.05.2018
Konzernabschluss: Unterzeichnung: 11.04.2018, Veröffentlichung: 03.05.2018
Erster Unterzeichner: … weiter Unterzeichner: …
Jahresabschluss: Unterzeichnung: 24.04.2019, Veröffentlichung: 27.05.2019
Konzernabschluss: Unterzeichnung: 24.04.2019, Veröffentlichung: 17.05.2019
Erster Unterzeichner: … Zweiter Unterzeichner: …
4
Am 28.04.2020 wurde der als Anlage K 15 vorgelegte Sonderprüfungsbericht von … zu in Presse und Internet erhobenen Vorwürfen gegen die … zum Vorwurf einer angeblichen Erhöhung des Umsatzes durch fiktive Kundenbeziehungen, veröffentlicht. Die für den 30.04.2020 anberaumte Bilanzpressekonferenz wurde verschoben. Der Aktienkurs verlor über 23 %.
5
Am 05.06.2020 veröffentlichte die … eine Ad-hoc Mitteilung u.a. folgenden Inhalts:
„Infolge der bereits im Markt bekannten Ermittlungen im Zusammenhang mit Ad-hoc Mitteilungen im Vorfeld der Veröffentlichung des … Sonderuntersuchungsberichts, wurden heute die Geschäftsräume des Unternehmens von der Staatsanwaltschaft durchsucht. Die Ermittlungen richten sich nicht gegen die Gesellschaft, sondern gegen ihre Vorstandsmitglieder. […]“
6
Am 18.06.2020 um 10:43 Uhr veröffentlichte die … folgende Ad-hoc Mitteilung (Anlage K 4):
„Der Abschlussprüfer der … die … hat die … darüber informiert, dass über die Existenz von im Konzernabschluss zu konsolidierenden Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von insgesamt 1,9 Milliarden Euro (dies entspricht in etwa einem Viertel der Konzernbilanzsumme) noch keine ausreichenden Prüfungsnachweise zu erlangen waren.
Es bestehen Hinweise, dass dem Abschlussprüfer von einem Treuhänder bzw. aus dem Bereich der Banken, welche die Treuhandkonten führen, unrichtige Saldenbestätigungen zu Täuschungszwecken vorgelegt wurden, damit dieser ein unrichtiges Vorstellungsbild über das Vorhandensein der Bankguthaben bzw. die Führung von Bankkonten zugunsten der … erhalte. Der Vorstand arbeitet mit Hochdruck daran, den Sachverhalt in Abstimmung mit dem Abschlussprüfer weiter aufzuklären.
Vor diesem Hintergrund wird die Abschlussprüfung des Jahres- und Konzernabschlusses 2019 nicht wie geplant bis zum 18. Juni 2020 abgeschlossen sein. Ein neuer Termin wird bekannt gegeben. Wenn ein testierter Jahres- und Konzernabschluss nicht bis zum 19. Juni 2020 vorgelegt wird, können Kredite der … in Höhe von ca. 2 Mrd EUR gekündigt werden.“
7
Der Tagesverlust der … am 18.06.2020 betrug 61,8 Prozent, am Folgetag sackte der Kurs um weitere 35,5 Prozent ab. Der Preis einer Aktie der … fiel von ca. 100,- € vorübergehend auf Werte von um die 15,- €.
8
Am 22.06.2020 um 02:48 Uhr veröffentlichte die … folgende Ad-hoc Mitteilung (Anlage K 5):
„Der Vorstand der … geht aufgrund weiterer Prüfungen derzeit davon aus, dass die bisher zugunsten von … ausgewiesenen Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von insg. 1,9 Mrd. Euro mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht bestehen. Die Gesellschaft ging bisher davon aus, dass diese Treuhandkonten im Zusammenhang mit dem sog. Drittpartnergeschäft (Third Party Acquiring) zugunsten der Gesellschaft bestehen und hatte sie entsprechend in der Rechnungslegung als Aktivposten ausgewiesen. Vorstehendes führt auch dazu, dass die Gesellschaft die Annahmen über die Verlässlichkeit der Treuhandbeziehungen in Frage stellen muss.
Der Vorstand geht außerdem davon aus, dass die bisherigen Beschreibungen des sog. Drittpartnergeschäfts (Third Party Aquiring) durch die Gesellschaft unzutreffend sind. Die Gesellschaft untersucht weiter, ob, in welcher Art und Weise und in welchem Umfang dieses Geschäft tatsächlich zugunsten der Gesellschaft geführt wurde.
W. nimmt die Einschätzung (i) des vorläufigen Ergebnisses des Geschäftsjahres 2019 (Umsatz und operativer Gewinn vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen (EBITDA)) vom 14. Februar 2020 (zuletzt bestätigt am 18. Juni 2020), (ii) des vorläufigen Ergebnisses des ersten Quartals des Geschäftsjahres 2020 (Umsatz und EBITDA) vom 14. Mai 2020, (iii) der EBITDA Prognose für das Geschäftsjahr 2020 vom 6. November 2019 (zuletzt bestätigt am 14. Mai 2020) und (iv) der Vision 2025 zu Transaktionsvolumen, Umsatz und EBITDA vom 8. Oktober 2019 zurück. Mögliche Auswirkungen auf die Jahresabschlüsse vorangegangener Geschäftsjahre können nicht ausgeschlossen werden.
W. steht weiterhin in konstruktiven Gesprächen mit seinen kreditgebenden Banken hinsichtlich der Fortführung der Kreditlinien und der weiteren Geschäftsbeziehung, inklusive hinsichtlich einer Ende Juni bevorstehenden Verlängerung der bestehenden Ziehung. Gemeinsam mit der renommierten und international tätigen Investmentbank … prüft die Gesellschaft Möglichkeiten für eine nachhaltige Finanzierungsstrategie des Unternehmens.
Darüber hinaus prüft die Gesellschaft eine Reihe weiterer Maßnahmen um eine Fortsetzung des Geschäftsbetriebs zu gewährleisten, einschließlich Kostensenkungen sowie Umstrukturierungen, Veräußerung oder Einstellungen von Unternehmensteilen und Produktsegmenten.
Um Missverständisse zu vermeiden teilt die Gesellschaft mit, dass ihre IT Systeme ohne Einschränkungen weiterarbeiten.“
9
Am 25.06.2020 um 10:27 Uhr veröffentlichte die … folgende Ad-hoc Mitteilung (Anlage K 6):
„Der Vorstand der … hat heute entschieden, für die … beim zuständigen Amtsgericht München einen Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens wegen drohender Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung zu stellen. Es wird geprüft, ob auch Insolvenzanträge für Tochtergesellschaften der W.-Gruppe gestellt werden müssen.“
10
Aufgrund des Eigenantrags der … vom 25.06.2020 ordnete das Amtsgericht München – Insolvenzgericht – am 29.06.2020 die vorläufige Insolvenzverwaltung an und bestellte Herrn … zum vorläufigen Insolvenzverwalter (Az.: 1542 IN 1308/20). Am 25.08.2020 wurde über das Vermögen der … das Insolvenzverfahren eröffnet.
11
Die Beklagte erteilte mangels Vorlage eines prüffähigen Jahres- und Konzernabschlusses der W. AG zum 31.12.2019 sowie wegen fehlender angeforderter Aufklärungen und Nachweise für Bankguthaben auf Treuhandkonten jeweils einen Versagungsvermerk.
12
Mit Anwaltsschreiben vom 18.08.2020 (Anlage K 37) machte die Klagepartei Schadensersatzansprüche gegen die Beklagte geltend und forderte sie unter Fristsetzung bis zum 01.09.2020 dazu auf, ihre Haftung dem Grunde nach anzuerkennen. Die Beklagte lehnte mit Anwaltsschreiben vom 26.08.2020 (Anlage K 38) die geltend gemachten Ansprüche endgültig ab.
13
Die Klagepartei trägt vor, sie habe Wertpapiere der … vie folgt gekauft (Anlagenkonvolut K 29):
am 29.03.2019 100 Stück zum Preis (inkl. Gebühren) von 11.305,60 €,
am 17.10.2019 110 Stück zum Preis (inkl. Gebühren) von 13.274,16 €,
am 09.03.2020 45 Stück zum Preis (inkl. Gebühren) von 4.820,30 €;
am 28.04.2020 45 Stück zum Preis (inkl. Gebühren) von 4.980,44 €;
am 28.04.2020 40 Stück zum Preis (inkl. Gebühren) von 4.046,64 €;
am 06.05.2020 50 Stück zum Preis (inkl. Gebühren) von 4.149,00 €;
am 18.06.2020, 11:30 Uhr, 100 Stück zum Preis (inkl. Gebühren) von 5.314,07 €;
am 30.06.2020 1.000 Stück zum Preis (inkl. Gebühren) von 6.820,00 €;
am 30.06.2020 500 Stück zum Preis (inkl. Gebühren) von 3.433,87 €.
14
Zudem habe sie Wertpapiere der … wie folgt verkauft (Anlagenkonvolut K 30):
am 18.06.2020 50 Stück zum Preis (inkl. Gebühren) von 2.740,00 €,
am 30.06.2020 1.000 Stück zum Preis (inkl. Gebühren) von 7.020,00 €,
am 30.06.2020 400 Stück zum Preis (inkl. Gebühren) von 2.750,00 €;
am 01.07.2020 240 Stück zum Preis (inkl. Gebühren) von 1.420,64 €;
am 02.07.2020 300 Stück zum Preis (inkl. Gebühren) von 944,45 €.
15
Die … habe zumindest seit dem Geschäftsjahr 2015 die Geschäftszahlen in den Bilanzen, aufgebläht, was zur Folge gehabt habe, dass die Aktivposten in den Bilanzen falsch widergegeben worden seien. Dies sei geschehen, indem Guthaben auf Treuhandkonten ausgewiesen worden seien, die überhaupt nicht existiert hätten. Bei den nicht vorhandenen Guthaben habe es sich um Umsatzerlöse aus TPA-Geschäftsbeziehungen zwischen der … der … sowie der … aus dem TPA-Partner-Geschäft handeln sollen. Diese Umsatzerlöse hätten nicht nur den überwiegenden Anteil des … ausgemacht, sondern es hätten sich zuletzt auf den Treuhandkonten zudem Beträge in Höhe von 1,9 Mrd. EUR befinden sollen, was einem Viertel der Bilanzsumme entspreche. Schon in dem von de… geprüften Zeitraum 2015 bis 2018 hätten ca. 1 Mrd. EUR dorthin geflossen sein sollen. Daraus werde ersichtlich, dass es sich bei den angeblich existierenden Beträgen auf den Treuhandkonten um für die … äußerst wesentliche Beträge gehandelt habe. Um die Beträge zu überprüfen, hätte es einer besonders einfachen Prüfungshandlung bedurft: Der Einholung einer Saldenbestätigung von der jeweiligen Bank. Auch die … sei in ihrem Sondergutachten (Anlage K 15) zu dem Schluss gekommen, dass eine derartige Bestätigung zwingend notwendig sei, um die Existenz der Guthaben überhaupt nachweisen zu können. Dennoch habe die Beklagte diese einfache Prüfung, die zum Grundhandwerk eines Wirtschaftsprüfers gehöre, nicht durchgeführt. Dieser Umstand sei ihr bewusst gewesen. Denn entsprechende Saldenbestätigungen von den Banken hätten der Beklagten nie vorgelegen. Ein uneingeschränktes Testat hätte vor diesem Hintergrund ganz eindeutig nicht erteilt werden dürfen. Bei ordnungsgemäßer Prüfung hätte die Beklagte vielmehr schon bei den Abschlüssen für das Geschäftsjahr 2015 die Bestätigung wegen der fehlenden Saldenbestätigungen verwehren müssen, bzw. zumindest in dieser Hinsicht nur ein eingeschränktes Testat erteilen dürfen.
16
Zwischenzeitlich habe sich bestätigt, dass die Beträge nicht existent seien. Bei dem als Aktivposten zu Unrecht ausgewiesenen Betrag in Höhe von 1,9 Mrd. EUR handle es sich um rund ein Viertel des insgesamt bilanzierten Vermögens der …. Die Bilanzen der Gesellschaft seien damit stark aufgebläht und evident fehlerhaft. Sie hätten zumindest seit dem Geschäftsjahr 2015 falsche Werte im Zusammenhang mit den Treuhandkonten ausgewiesen.
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Der Bilanzskandal habe wegen des damit einhergehenden Vertrauensverlustes des Kapitalmarktes massive Auswirkungen auf den Aktienkurs und dementsprechend auch auf Derivate gehabt. Der Aktienkurs sei von Werten um die 100,- € pro Aktie auf Werte im unteren einstelligen Euro-Bereich eingebrochen.
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Den uneingeschränkten Testaten sei eine immense Bedeutung zugekommen. Es sei selbstverständlich, dass die Anleger den positiven Prüfungsvermerken erhebliche Relevanz bei ihren Investitionsentscheidungen beigemessen hätten. Nur durch die uneingeschränkt erteilten Testate habe der Markt arglos der … weiterhin sein Vertrauen geschenkt. Welche spiegelbildlichen Auswirkungen die Offenlegung über das Fehlen der Gelder auf den Treuhandkonten gehabt habe, habe zuletzt eindrucksvoll verfolgt werden können, als der Bilanzskandal enthüllt worden sei. Dies habe zur Folge gehabt, dass die Anleger der … ihr Vertrauen entzogen hätten und ein beispielloser Kursverfall der Aktie des im DAX gelisteten Unternehmens von nahezu 100 % eingetreten sei.
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Der Klagepartei sei aufgrund der Pflichtverletzungen der Beklagten ein Schaden in Höhe der Kaufpreise für die im streitgegenständlichen Haftungszeitraum (13.06.2016 bis 18.06.2020, 10:43 Uhr) erworbenen Wertpapiere abzüglich der anteiligen Erlöse aus Veräußerungen der Wertpapiere entstanden. Der Schaden werde nach dem Prinzip „First In First Out“ berechnet. Hätten sich im Wertpapierdepot der Klagepartei schon vor Beginn des Haftungszeitraums gleichartige Wertpapiere befunden, so würden Veräußerungserlöse im Haftzeitraum erst dann schadensmindernd berücksichtigt, wenn sämtliche vor dem Haftzeitraum erworbenen Wertpapiere veräußert seien. Der Haftungszeitraum beginne mit der Veröffentlichung des Jahresabschlusses für das Geschäftsjahr 2015, mithin dem 13.06.2016. Der Schaden belaufe sich demnach auf 37.449,34 € (Anlage K 31).
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Für die außergerichtliche anwaltliche Vertretung seien Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 2.918,56 € entstanden. Diesen Betrag habe die Rechtsschutzversicherung der Klagepartei, ausgenommen von einer Selbstbeteiligung in Höhe von 50,- EUR, die die Klagepartei selbst zu zahlen gehabt habe, vollständig gezahlt. Die Klagepartei sei berechtigt, die Gebühren in eigenem Namen ersetzt zu verlangen (Anlage K 32).
21
Die Beklagte habe bei der Erteilung der falschen Testate zumindest bedingt vorsätzlich gehandelt. Es habe in ihrem Verantwortungsbereich als Wirtschaftsprüferin gelegen, die Bilanzen gewissenhaft zu prüfen. Sie stelle dabei eine außerordentlich wichtige Kontrollinstanz dar. Durch die gewissenlose Prüfung habe sie zumindest billigend in Kauf genommen, dass den Anlegern, mithin der Klagepartei, ein Vermögensschaden entstehe.
22
Die Pflichtverletzungen der Beklagten seien für den eingetretenen Schaden kausal gewesen. Hätte sie die Abschlüsse der … seit 2015 pflichtgemäß nicht oder nur eingeschränkt testiert, hätte die Klagepartei in dem Haftungszeitraum (13.06.2016 bis 18.06.2020, 10:43 Uhr) nicht in die streitgegenständlichen Wertpapiere investiert. Das sei auch anhand der heutigen Geschehnisse, die mit einem kompletten Vertrauensentzug der Aktionäre in die … einhergegangen seien, belegt: Die Aktien würden nur noch als absolutes „Zockerpapier“ gehandelt. Aktuelle Investitionen, also solche nach Enthüllung des Bilanzskandals, seien mithin nicht mehr mit der ursprünglichen Investition in ein angeblich „gesundes“ Unternehmen vergleichbar.
23
Der Prüfung der Jahresabschlüsse und Konzernabschlüsse komme neben anderen Funktionen im Wesentlichen eine anlegerschützende Funktion zu. Das hätten das … und der Rat der … in ihrer Verordnung (EU) Nr. 537/2014 an mehreren Stellen erkennen lassen und auch die Beklagte selbst werbe mit diesem Umstand.
24
Insofern die Beklagte vortrage, dass es abwegig erscheine, dass ein Investor bei seiner Anlageentscheidung auf die Prüfungshandlungen des Wirtschaftsprüfers vertraue, und hierauf bei seiner Investitionsentscheidung nicht abstelle, so stehe dies in diametralem Widerspruch zu den eigenen Aussagen der Beklagten, in denen gerade dafür geworben werde, dass die Wirtschaftsprüfung grundlegend ist für das Vertrauen der Investoren in die Märkte sowie das stabile Funktionieren der selbigen sei.
25
Der Wirtschaftsprüfung komme eine derart für den Kapitalmarkt und mithin für die Investoren grundlegende, systemrelevante und entscheidende schützende Funktion zu, dass schlussendlich bei jeder Anlageentscheidung das Prüfungsergebnis mitschwinge und damit mitursächlich sei, sofern es sich bei dem Unternehmen – wie vorliegend – um ein solches handele, bei dem die Abschlussprüfung gesetzlich vorgeschrieben sei. Sämtliche … hätten mithin darauf vertrauen können, dass die Bilanzen – wie durch die Beklagte fälschlicherweise testiert – ein der Wahrheit entsprechendes Bild abgäben. Vor diesem Hintergrund liege es an der Beklagten, den Beweis anzutreten, dass die Abschlussprüfung in dem vorliegenden Fall ausnahmsweise nicht ursächlich für die Anlageentscheidung geworden sei.
26
Ihr Argument, es spreche gegen die Kausalität, dass die Klagepartei nicht nur in zeitlich unmittelbarem Zusammenhang mit den Testatserteilungen in die streitgegenständlichen Wertpapiere investiert habe, greife nicht. Testate würden für Jahresabschlüsse und Konzernabschlüsse erteilt und erfolgten mithin im Jahresturnus. Das jeweilige Testat behalte seine Gültigkeit, sofern es nicht zurückgenommen werde. Ein Anleger dürfe mithin – sofern nicht wesentliche Umstände aufträten, die andere Rückschlüsse hierauf zuließen – darauf vertrauen, dass das Testat richtig sei. Sobald ein nach Ablauf ca. eines Jahres ein neues Testat erteilt werde, dürfe wiederum auf das aktuelle Testat vertraut werden. Die Anleger hätten mithin mindestens bis zu der Verweigerung des Testates für das Geschäftsjahr 2019 am 18.06.2020 und der Enthüllung des Bilanzskandals auf die Richtigkeit der vorangegangenen Testate vertrauen dürfen. Wesentliche Umstände, die dagegen sprächen, habe die Beklagte nicht vorgetragen. Insofern die Beklagte in diesem Zusammenhang kritische Presseberichterstattung anführe, sei dazu nur gesagt, dass selbst die Beklagte ob dieser Presseberichterstattung weiterhin uneingeschränkte Testate erteilt habe. Die F. T.habe schließlich schon seit 2015 regelmäßig kritisch über die W. AG berichtet. Weshalb ein Anleger im Gegensatz zur Beklagten, die als Abschlussprüferin endlos bessere Einsichtsmöglichkeiten in die Unternehmensdaten gehabt habe, aus der kritischen Presseberichterstattung die richtigen Rückschlüsse ziehen müsse, die Beklagte selbst aber nicht, sei nicht erklärlich. Die Anleger hätten vielmehr auf die Abschlussprüfungen der Beklagten vertrauen dürfen, dies umso mehr, als die Beklagte trotz kritischer Presseberichtserstattung weiterhin uneingeschränkt Testate erteilt habe. Denn sie selbst habe hierdurch gezeigt, dass kein Anlass zu Zweifeln bestanden habe.
27
Das von der Beklagten herangezogene Urteil des Amtsgerichts München vom 23.08.2001, Az. 191 C 9970/01, sei mit dem vorliegenden Fall nicht vergleichbar. Bei dem Fall handle es sich um ein Extrembeispiel in Bezug auf Aktienkursschwankungen. Im streitgegenständlichen Zeitumfang habe es keine vergleichbaren Kursschwankungen bei der … gegeben. Erst nachdem am 18.06.2020 der Skandal enthüllt worden sei, sei es zu einem enormen Kursverfall gekommen. Es sei nachvollziehbar, wenn Anlageentscheidungen nach diesem Zeitpunkt auf dem im Urteil genannten Phänomen (Anlageentscheidung im Vertrauen auf eine Trendwende des angesichts der Kursentwicklungen dieser Aktie eines Unternehmens dieser Branche seit der Erstausgabe tatsächlich „hochspekulativen“ Papiers) getroffen worden seien. Allerdings seien Anlageentschlüsse ab diesem Zeitpunkt nicht schadensbegründend geltend gemacht worden, weshalb dies auf sich beruhen könne.
28
Nachdem die Klagepartei bei Kenntnis der Unrichtigkeit der Testate nicht in die streitgegenständlichen Wertpapiere investiert hätte, seien die Testate wiederum ursächlich für den eingetretenen Schaden. Bei einer richtigen Testatserteilung hingegen wäre, wie im Juni 2020 geschehen, der Bilanzskandal aufgedeckt worden, der zum Einbruch des Aktienkurses auf Pennystock-Niveau geführt habe. Wie man es auch drehen und wenden möge, sei damit die Erteilung der fehlerhaften Testate ursächlich für den eingetretenen Schaden. Hieraus ergebe sich auch, dass die Klagepartei unmittelbar aufgrund der falsch erteilten Testate geschädigt worden sei und nicht nur mittelbar Geschädigte der Testatserteilung sei. Denn sie habe nach obigen Ausführungen ihre Vermögensdispositionen gerade im Vertrauen auf die Richtigkeit der Testate vorgenommen.
29
Die uneingeschränkt erteilten Testate spielten eine essentielle Bedeutung für die Bewertung des jeweiligen Unternehmens. Wie wesentlich die Testate für den Gesamtmarkt seien, habe sich im Rahmen der Zeugenbefragung des Untersuchungsausschusses ergeben. So seien mehrere Marktteilnehmer, insbesondere Mitarbeiter der großen fremdkapitalgebenden Banken, zur Rolle des Testates befragt worden. Aber auch weitere Personen, … ehemaliges Aufsichtsratsmitglied …, hätten Statements zur Rolle der Testate abgegeben. Allen Aussagen sei zu entnehmen, dass die Testate essentiell für den Markt seien. Dies sei auch nur folgerichtig, denn die Prüfung der Zahlen durch einen unabhängigen Dritten diene gerade dazu, Marktvertrauen zu schaffen. Ebendieses sei durch die äußerst nachlässige Prüfung und Falschtestierung von Seiten der Beklagten – wodurch die Bilanzen über mehrere Jahre immer weiter hätten aufgebläht werden können – immens gestört worden. Alle Marktteilnehmer hätten hierauf vertraut. Sie hätten eine derartige Basisfunktion, dass jeder Aktionär, der sich nur im Ansatz vor seiner Investitionsentscheidung mit dem Unternehmen auseinandergesetzt habe, kausal durch die Falschtestierung geschädigt worden sei.
30
Nach Aussagen der Experten könne damit nur als gesichert gelten, dass die Testate aufgrund ihrer wichtigen Funktion auf den Markt eine derart hohe Strahlkraft gehabt hätten, dass sie für jeden … kausal geworden seien für seinen Schaden. Möge dies bei kleinen Abweichungen in der Bilanz noch hinterfragt werden können, könne im vorliegenden Fall, in dem die Bilanzen derart massiv von der Realität abwichen, kein Zweifel daran bestehen.
31
Die Klage Partei beantragt:
I. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 37.449,34 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 27.08.2020 zu zahlen.
II. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger außergerichtlich angefallene Gebühren in Höhe von 2.918,56 EUR zu zahlen.
32
Die Beklagte beantragt
33
Die Beklagte trägt vor, sie habe ihre Abschlussprüferpflichten hochprofessionell, vollständig und gewissenhaft erfüllt. Nach derzeitigem Kenntnisstand deute alles darauf hin, dass die Beklagte Opfer eines ausgeklügelten Betrugssystems geworden sei. Diese Erkenntnis gehe nicht zuletzt auch auf die akribischen und in vielen Bereichen überobligatorischen Prüfungshandlungen der Beklagten zurück und auf das hierdurch erst veranlasste eigene Einräumen der von der Beklagten identifizierten Unregelmäßigkeiten durch die … der Öffentlichkeit. Verfehlt sei es deshalb, wenn die Klagepartei nunmehr versuche, die Beklagte auf Schadensersatz in Anspruch zu nehmen, da
- die den Prüfarbeiten zugrundeliegenden Abschlussprüfaufträge keine drittschützende Wirkung zu Gunsten der Klagepartei entfalteten,
- die Beklagte ihre diesbezüglichen berufsspezifischen Abschlussprüfaufgaben und -pflichten vollumfänglich erfüllt habe,
- eine etwaige – tatsächlich nicht gegebene – Pflichtverletzung jedenfalls nicht schuldhaft und schon gar nicht vorsätzlich bzw. sittenwidrig erfolgt sei,
- die Jahresabschlüsse der … (Jahresabschluss und Konzernabschluss) der Geschäftsjahre endend zum 31.12.2018 und der Vorjahre nach derzeitigem Kenntnisstand der Beklagten nicht fehlerhaft seien und
- eine Kausalität zwischen der schadenverursachenden Anlageentscheidung der Klagepartei und der vorgeblichen – tatsächlich nicht vorliegenden – Pflichtverletzung der Beklagten nicht gegeben sei.
34
Wollte sich ein Anleger darauf berufen, dass ein Testat für seine Investitionsentscheidung ursächlich gewesen sei, müsste er dies darlegen und beweisen. Die für Beratungsverträge entwickelte Kausalitätsvermutung finde vorliegend nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung keine Anwendung. Die Klagepartei trage die volle Darlegungs- und Beweislast dafür, dass die vorgeblichen Pflichtverletzungen den angeblichen Schaden verursacht haben sollten. Vorliegend sei hierzu gar nicht vorgetragen. Die Klage sei somit unschlüssig. Darzulegen und zu beweisen wäre, dass die Klagepartei ihre Investition gerade im Vertrauen auf die richtige Wiedergabe der Verhältnisse in den Jahres- bzw. Konzernabschlüssen getätigt habe und dass zum anderen der Verfall des Kurses der Aktie gerade auf der angeblich unrichtigen Wiedergabe der Verhältnisse in den Jahres- bzw. Konzernabschlüssen beruhe.
35
Die Beklagte bezieht sich u.a. auf die Urteile des Amtsgerichts München vom 23.08.2001, Az. 191 C 9970/01, des OLG Stuttgart vom 29.09.2009, Az. 12 U 147/05, und des LG Bonn vom 15.05.2001, Az. 11 O 181/00.
36
Dass zwischen den behaupteten Pflichtverletzungen, den Investitionsentscheidungen der Klagepartei und dem angeblichen Schaden kein adäquater Kausalzusammenhang bestehe, sei offensichtlich und zeige sich an folgendem:
37
Die Klagepartei habe über Jahre hinweg immer wieder in die … investiert, offensichtlich unabhängig davon, wann die Beklagte ein Testat erteilt habe. Die Investitionen der Klagepartei seien also nicht durch ein Arbeitsergebnis der Beklagten getrieben gewesen, sondern ausschließlich zu Spekulationszwecken im Hinblick auf eine Trendwende.
38
Die Klagepartei habe vor und noch lange nach der Testatserteilung zum 31.12.2018 investiert und sogar noch nach der am 28.04.2020 erfolgten Veröffentlichung der forensischen Sonderuntersuchung ….
39
Die Klagepartei habe nach der Veröffentlichung der Ad-hoc Mitteilung vom 05.06.2020 investiert. Die Klagepartei habe nach der Veröffentlichung der Ad-hoc Mitteilung vom 18.06.2020 10.43 Uhr investiert.
40
Die Klagepartei müsse sich etwaige Gewinne anrechnen lassen, die sie mit der W.-Aktie oder mit auf die … bezogenen Wertpapieren erzielt habe.
41
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die gewechselten Schriftsätze samt Anlagen sowie auf das Protokoll vom 12.10.2021 verwiesen.
Entscheidungsgründe
42
Die zulässige Klage ist unbegründet.
43
Die Klagepartei kann von der Beklagten nicht nach § 826 BGB Ersatz des ihr durch die Käufe von Aktien der … entstandenen Schadens wegen der Erteilung von uneingeschränkten Bestätigungsvermerken für die Jahres- und Konzernabschlüsse der … und für die (Konzern-)Lageberichte der … erlangen.
44
Denn die Beklagte muss sich, den klägerischen Sachvortrag zugrunde gelegt, die Aktienkäufe der Klagepartei nicht zurechnen lassen.
45
Das Mindesterfordernis für den Zurechnungszusammenhang bei der Haftungsbegründung und -ausfüllung legt die Äquivalenztheorie fest. Danach sind alle Bedingungen gleichwertig und ist kausal jedes Ereignis, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (condicio sine qua non) (vgl. Palandt, 80. Auflage 2021, Vorb v § 249 BGB Rdn. 25). Zur Vermeidung einer unerträglichen Ausweitung der Schadensersatzpflicht erfährt die condicio-sine-qua-non-Formel Einschränkungen durch die adäquate Kausalität und den Schutzzweck der Norm bzw. den Rechtswidrigkeitszusammenhang (vgl. Palandt, 80. Auflage 2021, Vorb v § 249 BGB Rdn. 25).
46
Im vorliegenden Fall trägt die Klagepartei nicht vor, dass und wann sie überhaupt Kenntnis von den Bestätigungsvermerken genommen hat. Sie argumentiert lediglich, durch die uneingeschränkt erteilten Testate habe der Markt arglos der … weiterhin sein Vertrauen geschenkt, während bei Offenlegung des Fehlens der Gelder auf den Treuhandkonten die Anleger der … ihr Vertrauen entzogen hätten und ein beispielloser Kursverfall der Aktie des im DAX gelisteten Unternehmens von nahezu 100 % eingetreten sei. Die Testate hätten aufgrund ihrer wichtigen Funktion für die Bewertung eines Unternehmens und für die Schaffung von „Marktvertrauen“ eine derart hohe „Strahlkraft“ auf den Markt, dass sie für jeden … kausal geworden seien für seinen Schaden, jedenfalls im vorliegenden Fall, in dem die Bilanzen derart massiv von der Realität abwichen.
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Auf der Grundlage dieses Vortrags scheitert eine Zurechnung hier jedenfalls daran, dass unter Schutznormaspekten eine „generelle“ – also unabhängig von der Kenntnis des Aktienkäufers von den uneingeschränkten Bestätigungsvermerken bestehende – Kausalität der uneingeschränkten Bestätigungsvermerke für die Aktienkaufentscheidungen nicht in Betracht kommt (vgl. BGH II ZR 310/06 Randziffer 20). Im Rahmen der Informationsdelikts- und Prospekthaftung genügt nämlich das enttäuschte allgemeine Anlegervertrauen in die Integrität der Marktpreisbildung zur Bejahung einer haftungsbegründenden Kausalität nicht (BGH II ZR 147/05; BGH II ZR 173/05 Randziffer 16), und zwar selbst bei extrem unseriöser Kapitalmarktinformation (BGH II ZR 147/05; BGH II ZR 310/06 Randziffer 16). Dies wird mit der Vermeidung einer uferlosen Ausweitung des ohnehin offenen Haftungstatbestandes der sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung und mit dem Schutzgut der Norm, nämlich der Integrität der Willensentschließung des Aktienerwerbers, begründet (BGH II ZR 310/06 Randziffer 17). Im Fall von unrichtigen Testaten ist keine andere Beurteilung geboten (OLG Stuttgart 12 U 147/05 Randziffer 64), jedenfalls was die hier relevante Informationsfunktion der Abschlussprüfung (BeckOGK/Bormann, 15.11.2020, HGB § 316 Rn. 4) anbelangt.
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Im Übrigen hat die Klagepartei vor dem Hintergrund der Einwendungen der Beklagten auf Seiten 113 ff. der Klageerwiderung nicht schlüssig dargelegt, dass die verfahrensgegenständlichen Aktienkäufe bei einem Versagungsvermerk oder bei einem eingeschränkten Bestätigungsvermerk unterblieben wären. Die Anlageentscheidung des potentiellen Aktienerwerbers stellt einen durch vielfältige rationale und irrationale Faktoren, insbesondere teils durch spekulative Elemente beeinflussten, sinnlich nicht wahrnehmbaren individuellen Willensentschluss dar, für den es grundsätzlich keinen Anscheinsbeweis für sicher bestimmbare Verhaltensweisen von Menschen in bestimmten Lebenslagen gibt (BGH II ZR 173/05 Randziffer 13). Zu den Faktoren, die ihren jeweiligen individuellen Willensentschluss beeinflusst haben, trägt die Klagepartei jedoch nicht vor. Auch aus dem Bekanntwerden des Fehlens der Gelder auf den Treuhandkonten, dem Verlust von Marktvertrauen und dem Kursverfall ergibt sich nicht automatisch, dass die Klagepartei die verfahrensgegenständlichen Aktienkäufe nicht getätigt hätte. Denn eine Handlungsalternative wäre gewesen, Aktien – etwa zu Spekulationszwecken – zu einem erheblich niedrigeren Preis zu kaufen. Dies ist auch nicht unrealistisch angesichts des Umstands, dass die Klagepartei am 18.06.2020 um 11.30 Uhr, also nach der am 18.06.2020 um 10:43 Uhr veröffentlichten Ad-hoc Mitteilung, 100 Aktien der W. AG gekauft hat. Darüber hinaus hat die Klagepartei am 30.06.2020 insgesamt 1.500 Aktien der … gekauft hat. Zu diesem Zeitpunkt waren die forensischen Sonderuntersuchung … sowie die Ad-hoc Mitteilung vom 05.06.2020 und die Ad-hoc Mitteilung vom 18.06.2020 allesamt veröffentlicht. Darauf, dass der Klagepartei bei Zugrundelegung der genannten Handlungsalternative u.U. ein Kursdifferenzschaden entstanden wäre, kommt es nicht an. Denn dieser ist nicht Gegenstand der Klage und auch nicht beziffert.
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Die Rechtsfigur des Anscheinsbeweises bei einer positiven Anlagestimmung kann zur Herstellung eines Zusammenhangs (vgl. RGZ 80, 196, 204 f.) zwischen den Bestätigungsvermerken und den Aktienkäufen der Klagepartei nicht herangezogen werden. Die Rechtsprechung zur „Anlagestimmung“ ist zu ad-hoc-Mitteilungen und Prospektangaben ergangen (vgl. BGH XI ZR 173/97, BGH II ZR 218/03) und könnte – so jedenfalls OLG Stuttgart 12 U 147/05 Randziffern 67, 68 – auf den testierten Jahresabschluss übertragen werden. Sie wurde jedoch aufgegeben (vgl. BGH XI ZB 24/16 Randziffer 80: „Nach der reformierten börsenrechtlichen Prospekthaftung kommt der Rechtsfigur der Anlagestimmung keine Bedeutung mehr zu.“). Denn der Gesetzgeber wollte die mit ihr verbundenen Unsicherheiten über deren Dauer und Fortfall durch die Neufassung der börsenrechtlichen Prospekthaftung überwinden (vgl. BGH XI ZB 24/16 Randziffer 82). Er hat die Rechtsfigur der Anlagestimmung gerade nicht „kodifiziert“ und in der Gesetzesbegründung explizit ausgeführt, dass hinsichtlich der Frage, wie lange der Zeitraum zu bemessen ist, innerhalb dessen der Anleger sich zur Beweiserleichterung auf eine am Markt herrschende „Anlagestimmung“ berufen könne, zu einer für alle beteiligten Kreise unzumutbaren erheblichen Rechtsunsicherheit geführt habe (BT-Drucks. 13/8933, S. 55 f.).
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Im Übrigen hat die Klagepartei das Vorliegen einer positiven Anlagestimmung zum Zeitpunkt ihrer jeweiligen Aktienkaufentscheidung auch nicht schlüssig dargelegt angesichts der vielfältigen kursbeeinflussenden Faktoren des Kapitalmarkts einerseits und der Uneinheitlichkeit der individuellen Willensentscheidungen der einzelnen Marktteilnehmer andererseits (vgl. BGH II ZR 218/03 Randziffer 44). Eine Anlagestimmung kann nur in Ausnahmefällen bejaht werden, ihre Dauer ist nicht unbegrenzt und sie endet, wenn im Laufe der Zeit andere Faktoren für die Einschätzung des Wertpapiers bestimmend werden, etwa eine wesentliche Änderung des Börsenindex, der Konjunktureinschätzung oder aber neue Unternehmensdaten wie z.B. ein neuer Jahresabschluss, ein Halbjahres- oder Quartalsbericht oder aber eine neue ad-hoc-Mitteilung (OLG Stuttgart 12 U 147/05 Randziffer 67 m.w.N.). Hinzu kommt, dass die Reichweite der Informationen des Bestätigungsvermerks begrenzt ist (§§ 317, 322 HGB), vgl. auch OLG Stuttgart 12 U 147/05 Randziffer 68.
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Auch auf § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 332 Abs. 1 HGB kann die Klagepartei den geltend gemachten Schadensersatzanspruch nicht stützen. Denn auch diese Anspruchsgrundlage setzt einen Zurechnungszusammenhang zwischen den Bestätigungsvermerken der Beklagten und den Aktienkäufen der Klagepartei voraus, an dem es vorliegend fehlt. Auf die obigen Ausführungen wird Bezug genommen.
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Mangels Hauptanspruch besteht auch kein Anspruch auf die Nebenforderungen. Diese folgen dem Schicksal der Hauptforderung.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 S. 2 ZPO. Der Streitwert entspricht dem klägerischen Begehren.