Titel:
Behinderung, GdB, Arzt, Gerichtsbescheid, Widerspruchsbescheid, Gesundheitszustand, Auslegung, Bescheid, Widerruf, Medizin, Klageverfahren, Feststellung, Gutachten, Vergabe, Innere Medizin, Fortsetzung des Verfahrens, Wiederaufnahme des Verfahrens
Schlagworte:
Behinderung, GdB, Arzt, Gerichtsbescheid, Widerspruchsbescheid, Gesundheitszustand, Auslegung, Bescheid, Widerruf, Medizin, Klageverfahren, Feststellung, Gutachten, Vergabe, Innere Medizin, Fortsetzung des Verfahrens, Wiederaufnahme des Verfahrens
Rechtsmittelinstanz:
LSG München, Beschluss vom 02.02.2023 – L 18 SF 210/22 AB
Fundstelle:
BeckRS 2021, 60416
Tenor
I. Es wird festgestellt, dass die Klage mit dem Aktenzeichen:
S 16 SB 383/20 auf Feststellung eines höheren Grades der Behinderung (GdB) durch Klagerücknahme erledigt ist.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
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Mit der vorliegenden Klage begehrte die Klägerin die Feststellung eines höheren GdB im Sinne des Neunten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB IX).
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Auf ihren Erstantrag vom 05.02.2020 stellte der Beklagte mit Bescheid vom 18.02.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.06.2020 einen Gesamt-GdB von 30 fest. Der Beklagte legte hierbei folgende Gesundheitsstörungen zugrunde:
1. Seelische Störung (Einzel-GdB: 30)
2. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule (Einzel-GdB: 10).
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Mit der am 22.06.2020 erhobenen Klage begehrte die Klägerin einen GdB von wenigstens 50. Das Gericht holte Befundberichte der behandelnden Ärzte ein und erhob gemäß Beweisanordnung vom 12.11.2020 Beweis durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens durch den Arzt für Innere Medizin, und Sozialmedizin Prof. Dr. D. Dieser führte in seinem Termingutachten am 14.12.2020 aus, dass die bei der Klägerin vorliegenden Beeinträchtigungen durch den Beklagten im Widerspruchsbescheid vom 02.06.2020 der Art und Höhe nach angemessen bewertet seien. Aus seiner Sicht sei die Vergabe eines Gesamt-GdB von 30 ab dem 05.02.2020 dem bei der Klägerin vorliegenden Beschwerdebild angemessen.
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Im anschließenden Erörterungstermin gab die Klägerin nach vorheriger Erörterung des Sach- und Streitverhältnisses folgende Erklärung ab: „Ich nehme die Klage zurück“. Die Erklärung wurde in die Niederschrift aufgenommen, der Klägerin nochmals vorgelesen und von dieser genehmigt.
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Bereits mit Schreiben vom selben Tag teilte die Klägerin dem Gericht mit, dass sie im Gerichtsverfahren zu schnell gehandelt habe. Sie wolle ihre Entscheidung widerrufen. Sie wünsche, „dass auf ihr Klageverfahren geurteilt werde“. Mit weiterem Schreiben vom 15.12.2020 erklärte sie, dass sie mit dem am 14.12.2020 erstatteten ärztlichen Gutachten nicht einverstanden sei; mit Schreiben vom 11.02.2021 trug sie vor, dass nach ihrer Auffassung ihr Gesundheitszustand einen GdB von 60 bis 70 bedinge. Die Klägerin begehrt damit sinngemäß die Fortsetzung des Verfahrens auf Zuerkennung eines höheren GdB.
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Das Gericht hat das zunächst als erledigt ausgetragene Verfahren unter dem bisherigen Aktenzeichen S 16 SB 383/20 fortgeführt. Mit Verfügung vom 15.02.2021 hat das Gericht die Beteiligten zur beabsichtigten Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid gemäß § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) angehört.
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Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Klageverfahren fortzuführen und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 18.02.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.06.2020 zu verurteilen, einen höheren GdB von mindestens 60 festzustellen.
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Der Beklagte beantragt,
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze der Beteiligten sowie auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Das Gericht konnte ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid gemäß § 105 Abs. 1 SGG entscheiden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten in tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten wurden zuvor mit gerichtlichem Schreiben vom 15.02.2021 zu dieser beabsichtigten Entscheidungsform angehört (§ 105 Abs. 1 Satz 2 SGG). Soweit die Klägerin Einwände gegen eine Entscheidung gemäß § 105 SGG erhoben hat und mit Schreiben vom 25.02.2021 die Durchführung einer mündlichen Verhandlung begehrt, ist dies unerheblich. Im Gegensatz zur Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG bedarf es bei einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid gerade nicht des Einverständnisses der Beteiligten. Diese sind lediglich – wie geschehen – zu hören. Die Klägerin hat ihren Standpunkt schriftsätzlich vertreten. Vernünftige Gründe dafür, dass eine mündliche Verhandlung unentbehrlich ist, sind nicht ersichtlich und auch nicht vorgetragen.
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Die am 14.12.2020 im Erörterungstermin zur Niederschrift des Gerichts erklärte Rücknahme der Klage hat den Rechtsstreit S 16 SB 383/20 beendet.
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Bei Streit darüber, ob eine Klagerücknahme erklärt und ob sie wirksam ist, wird das Verfahren fortgesetzt. Bejaht das Gericht die Klagerücknahme, erlässt es ein Urteil – bzw. wie hier einen Gerichtsbescheid gemäß § 105 SGG – und stellt fest, dass die Klage zurückgenommen ist. Verneint das Gericht die Klagerücknahme oder hält es die Rücknahme für unwirksam, entscheidet es in der Sache (vgl. BSG, Urteil vom 28.11.2002, Az.: B 7 AL 26/02 R, Rd. 20; zitiert nach juris; B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/ Schmidt, SGG, 13. Aufl., § 102 Rd. 12).
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Gemäß § 102 Abs. 1 Satz 1 SGG kann der Kläger die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Die Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache (§ 102 Abs. 1 Satz 2 SGG). Eine Klage kann bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung zurückgenommen werden. Dies ist Ausfluss der auch im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Dispositionsmaxime. Die Rücknahme stellt eine Prozesshandlung dar und ist gegenüber dem Sozialgericht zu erklären (vgl. LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 14.08.2019, Az.: L 6 AS 113/19, Rd. 17; zitiert nach juris). Die Erklärung der Klagerücknahme ist eine einseitige Prozesshandlung und kann auch in einer mündlichen Verhandlung oder einem Erörterungstermin vor dem Gericht abgegeben werden. Wird die Klagerücknahme in einer mündlichen Verhandlung oder einem Erörterungstermin erklärt, ist sie in die Niederschrift aufzunehmen (§ 122 SGG in Verbindung mit § 160 Abs. 3 Ziff. 8 Zivilprozessordnung – ZPO). Die Förmlichkeiten des § 162 Abs. 1 ZPO (Vorlesen und Genehmigung) sind grundsätzlich zu beachten, wobei die Wirksamkeit der Erklärung der Klagerücknahme davon jedoch nicht abhängig ist (vgl. B. Schmidt in Meyer-Ladewig/ Keller/Leitherer/ Schmidt, a. a. O., § 102 Rd. 8).
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Vorliegend wurde das Verfahren durch die Erklärung der Klagerücknahme im Erörterungstermin am 14.12.2020 beendet.
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Anhaltspunkte dafür, dass die Rücknahmeerklärung der Klägerin aus prozessrechtlichen Gründen unwirksam sein könnte, liegen nicht vor. Die Erklärung wurde wirksam abgegeben. Die Formvorschriften der §§ 159 bis 165 ZPO wurde eingehalten. Insbesondere wurde die Erklärung der Klagerücknahme in die Niederschrift aufgenommen. Der Wortlaut der Erklärung wurde der Klägerin vorgelesen und von dieser genehmigt. Die Niederschrift wurde entsprechend den gesetzlichen Vorschriften ausgefertigt und von der Vorsitzenden sowie von der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle unterschrieben (§ 122 SGG in Verbindung mit §§ 159, 160 ZPO). Das Protokoll beweist gemäß § 165 ZPO die Beachtung der Formvorschriften und erbringt als öffentliche Urkunde nach § 118 Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung § 415 ZPO den vollen Beweis über die Abgabe der Erklärungen. Der zulässige Beweis der Unrichtigkeit wurde von der Klägerin nicht geführt.
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Die Klagerücknahme ist die Erklärung des Klägers oder seines Bevollmächtigten, er verfolge den geltend gemachten prozessualen Anspruch nicht mehr weiter. Ob ein Kläger den mit der Klage geltend gemachten prozessualen Anspruch ganz oder teilweise nicht mehr weiterverfolgt, ist ggf. durch Auslegung seiner prozessualen Erklärung zu ermitteln und dazu sein wirklicher Wille unter Einbeziehung seines bisherigen Vorbringens zu erforschen. Für Prozesserklärungen wie eine Klagerücknahme gelten die allgemeinen Auslegungsregeln. Dabei ist nach dem in § 133 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zum Ausdruck gekommenen allgemeinen Rechtsgedanken, der auch im öffentlichen Recht und im Prozessrecht gilt, bei der Auslegung von Erklärungen nicht am Wortlaut zu haften, sondern der wirkliche Wille des Erklärenden zu erforschen (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23.02.2017, Az.: L 25 AS 931/16; Rd. 21; zitiert nach juris). Ausweislich der Sitzungsniederschrift des Erörterungstermins am 14.12.2020 hat die Klägerin ausdrücklich die „Rücknahme“ der Klage erklärt. Somit bleibt für eine anderweitige Auslegung ihrer Prozesserklärung kein Raum. Anhaltspunkte, dass die Klägerin den Inhalt ihrer Erklärung nicht verstanden haben könnte, sind weder ersichtlich noch von ihr behauptet. Dass die Erklärung der Klägerin als Klagerücknahme im Sinne des § 102 Abs. 1 SGG auszulegen ist, kann nach vorstehenden Auslegungsregeln nicht in Frage stehen.
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Die Klägerin behauptet selbst nicht, dass sie die Erklärung im Erörterungstermin nicht habe abgeben wollen. Sie beruft sich vielmehr auf den nachträglichen „Widerruf“ der im Termin am 14.12.2020 erklärten Klagerücknahme.
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Die Klägerin kann sich indes von der Klagerücknahme nicht nachträglich lösen. Ihren „Widerruf“ begründet die Klägerin damit, dass sie übereilt gehandelt habe. Hierbei ist indes zu beachten, dass eine Klagerücknahme nicht entsprechend den bürgerlich-rechtlichen Vorschriften wegen Irrtums, z. B. in Hinblick auf die Reichweite der abgegebenen Prozesserklärung, oder Drohung (§§ 119, 123 BGB) angefochten oder widerrufen werden kann. Widerruf und Anfechtung der Rücknahmeerklärung sind grundsätzlich unzulässig.
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Die Klagerücknahme ist eine gestaltende Prozesshandlung, auf die die Vorschriften des bürgerlichen Rechts über Nichtigkeit, Widerruf und Anfechtung gerade nicht anwendbar sind. Hinsichtlich ihrer Voraussetzungen und Formerfordernisse, unterliegt die Rücknahme dem Prozessrecht und nicht dem materiellen Recht. Eine Klagerücknahme kann damit grundsätzlich nicht widerrufen und nicht angefochten werden (vgl. B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, a. a. O., § 102 Rd. 7c). Gründe für eine Irrtumsanfechtung sind im Übrigen auch nicht nachvollziehbar dargetan. Einlegung und Rücknahme einer Klage sind gestaltende Prozesshandlungen. Derartige prozessgestaltende Erklärungen binden das Gericht und die Beteiligten. Denn das Prozessrecht will die Verfahrenslage weitgehend vor Unsicherheit schützen und lässt deshalb einen Widerruf oder eine Anfechtung derartiger Prozesserklärungen lediglich in Ausnahmefällen zu. Die Klagerücknahme kann somit, weil sie eine Prozesshandlung ist, mit der der Erklärende den Prozess unmittelbar gestaltet, nach der ständigen Rechtsprechung des BSG (vgl. z.B. BSG, Beschluss vom 04.11.2009, Az.: B 14 AS 81/08 B; Rd. 6; BSG, Urteil vom 13.07.2017, Az.: B 8 SO 1/16 R, Rd. 15; zitiert nach juris) grundsätzlich nicht widerrufen oder nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts wegen Irrtums angefochten werden.
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Der Widerruf einer Klagerücknahme kommt entsprechend der Rechtsprechung des BSG nur ausnahmsweise dann in Betracht, wenn Gründe vorliegen, die gemäß § 179 SGG in Verbindung mit §§ 579, 580 ZPO zur Wiederaufnahme eines rechtskräftig beendeten Verfahrens berechtigen würden (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 13.07.2017, Az.: B 8 SO 1/16 R, Rd. 16; vgl. hierzu auch LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 14.08.2019, Az.: L 6 AS 113/19; Rd. 20; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23.02.2017, Az.: L 25 AS 931/16; Rd. 23; zitiert nach juris). Restitutionsgründe im Sinne des § 580 Ziff. 1 bis Ziff. 8 ZPO sind hier indes weder vorgetragen noch erkennbar. Anhaltspunkte für das Vorliegen der dort normierten Voraussetzungen des § 580 ZPO liegen nicht vor. Eine Wiederaufnahme des Verfahrens ist schließlich auch nicht gemäß § 179 Abs. 2 SGG statthaft. Es ist kein Beteiligter strafgerichtlich verurteilt worden, weil er Tatsachen, die für die Entscheidung der Streitsache von wesentlicher Bedeutung waren, wissentlich falsch behauptet oder vorsätzlich verschwiegen hat.
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Die Klägerin konnte somit ihre Erklärung weder entsprechend den bürgerlich-rechtlichen Vorschriften wegen Irrtums oder Drohung (§§ 119, 123 BGB) anfechten noch widerrufen. Sie hat damit den vorliegenden Rechtsstreit im Erörterungstermin am 14.12.2020 wirksam durch Klagerücknahme beendet. Ein nachträglicher „Widerruf“ konnte nicht erfolgen.
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Damit ist der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt (vgl. § 102 Abs. 1 Satz 2 SGG). Das Gericht hat nicht mehr darüber zu entscheiden, ob der angefochtene Bescheid des Beklagten vom 18.02.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.06.2020 rechtmäßig ergangen ist. Denn der Bescheid vom 18.02.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.06.2020 ist mit der Rücknahmeerklärung für die Beteiligten bindend geworden (§ 77 SGG). Dem Gericht ist damit nach der Klagerücknahme jede weitere Auseinandersetzung mit dem von der Klägerin ursprünglich geltend gemachten Begehren verwehrt.
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Das Klageverfahren S 16 SB 383/20 ist beendet worden und nicht weiter fortzusetzen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.