Titel:
Coronavirus, SARS-CoV-2, Abschiebung, Freiheitsstrafe, Einreise, Bescheid, Italien, Abschiebungsandrohung, Ausreise, Entziehungsanstalt, Rentenversicherung, Aufenthaltsrecht, Schuldspruch, Lebensunterhalt, Herkunftsland, Widerruf, Sicherheit und Ordnung, Kosten des Verfahrens, Interesse der Allgemeinheit
Schlagworte:
Coronavirus, SARS-CoV-2, Abschiebung, Freiheitsstrafe, Einreise, Bescheid, Italien, Abschiebungsandrohung, Ausreise, Entziehungsanstalt, Rentenversicherung, Aufenthaltsrecht, Schuldspruch, Lebensunterhalt, Herkunftsland, Widerruf, Sicherheit und Ordnung, Kosten des Verfahrens, Interesse der Allgemeinheit
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 17.01.2023 – 10 ZB 21.3201
Fundstelle:
BeckRS 2021, 60339
Tenor
I. Die Beklagte wird verpflichtet, die Frist in Ziffer 4 des Bescheids vom 26. Juli 2021 auf drei Jahre zu reduzieren. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich mit seiner Klage gegen die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Freizügigkeit im Bundesgebiet.
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Der am ... in Italien geborene Kläger ist italienischer Staatsangehöriger. Er reiste im Jahr 1996 bzw. 1997 erstmals in das Bundesgebiet ein. Es spricht einiges dafür, dass sich der Kläger in den Jahren 1998 bis 2000 überwiegend im Ausland – wahrscheinlich in Italien – aufhielt. Jedenfalls seit dem 5. Dezember 2000 hält er sich durchgängig im Bundesgebiet auf.
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Der Kläger ist geschieden und Vater zweier minderjähriger Kinder (geb. am ... 2012 und am ... 2012). Bei dem am ... Juli 2012 geborenen Kind, der Tochter Y. (im Folgenden: Y.), handelt es sich um ein gemeinsames Kind des Klägers mit seiner derzeitigen Lebensgefährtin.
4
Laut dem aktuellen Rentenversicherungsverlauf hat der Kläger während seines bisherigen Aufenthalts im Bundesgebiet in einem erheblichen Zeitraum Sozialleistungen bezogen. Der Versicherungsverlauf enthält zudem eine kurze Ausbildungszeit. Ferner sind einige kurze Zeiten einer geringfügigen nicht versicherungspflichtigen Beschäftigung erkennbar. Von Januar 2019 bis Januar 2020 übte der Kläger eine Vollzeitbeschäftigung aus.
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Der Kläger ist wie folgt vorbestraft:
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1. Am 9. Dezember 1997 wurde der Kläger vom Amtsgericht B. wegen Diebstahls zu einer Geldstrafe von 10 Tagessätzen verurteilt.
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2. Am 16. Juli 1998 wurde der Kläger vom Amtsgericht G. wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.
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3. Mit Urteil des Amtsgerichts B. vom 12. November 1998 wurde der Kläger – unter Einbeziehung der Strafe aus dem Urteil vom 16. Juli 1998 – wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt.
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4. Am 11. März 2003 wurde der Kläger vom Amtsgericht B. wegen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln in 20 Fällen zu einer Freiheitsstrafe von 10 Monaten verurteilt.
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5. Am 16. Dezember 2003 wurde der Kläger vom Amtsgericht B. wegen gemeinschaftlichen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln in zwei Fällen jeweils mit gemeinsamem unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln und gemeinschaftlichen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln in 13 Fällen jeweils mit gemeinschaftlichem unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 10 Monaten verurteilt.
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6. Am 8. Mai 2007 wurde der Kläger vom Amtsgericht B. wegen gemeinschaftlichen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln in 9 Fällen und gemeinschaftlichen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 5 Fällen mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln und Diebstahl zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren verurteilt. Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt wurde im Berufungsverfahren durch das Landgericht B. zusätzlich angeordnet.
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7. Am 4. April 2012 wurde der Kläger vom Amtsgericht H... wegen vorsätzlicher unerlaubter Veräußerung von Betäubungsmitteln in Tateinheit mit vorsätzlichem unerlaubtem Erwerb von Betäubungsmitteln in zwei tatmehrheitlichen Fällen zu einer Freiheitsstrafe von 5 Monaten verurteilt.
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8. Mit Urteil des Amtsgerichts F... vom 27. März 2013 wurde der Kläger wegen Diebstahls in 4 Fällen sowie Diebstahls und Betrugs zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 6 Monaten verurteilt.
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9. Am 23. Juli 2014 wurde der Kläger durch Urteil des Amtsgerichts F... wegen Diebstahls in 2 Fällen zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten verurteilt.
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10. Am 2. Mai 2016 wurde der Kläger vom Amtsgericht D. wegen Diebstahls in einem besonders schweren Fall zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 6 Monaten verurteilt. Hierbei wurde die Strafe aus der Verurteilung des Amtsgerichts F... vom 23. Juli 2014 eingezogen. Die Unterbringung des Klägers in einer Entziehungsanstalt wurde angeordnet.
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11. Am 9. September 2019 wurde der Kläger vom Amtsgericht L. wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen verurteilt.
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12. Mit Urteil vom 15. Juni 2020 verhängte das Amtsgericht D. gegen den Kläger eine Freiheitsstrafe von 10 Monaten aufgrund Diebstahls mit Waffen in zwei tatmehrheitlichen Fällen.
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13. Am 5. August 2020 verurteilte das Landgericht B. den Kläger im Berufungsverfahren wegen Beihilfe zum versuchten Betrug zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 8 Monaten, nachdem er zunächst vom Amtsgericht B. zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren wegen (mittäterschaftlichen) versuchten Betrugs verurteilt worden war.
19
Aufgrund einiger der Straftaten ergingen gegenüber dem Kläger bereits zwei ausländerrechtliche Verwarnungen, einmal am 5. August 2005 von der damals zuständigen Ausländerbehörde der Stadt B. sowie einmal am 17. Februar 2015 seitens der Ausländerbehörde der Stadt D..
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Die Strafurteile treffen vielfach die Feststellung, dass der Kläger betäubungsmittelabhängig ist bzw. dass die Taten aufgrund von Betäubungsmittelabhängigkeit begangen wurden. Der Kläger unternahm immer wieder – erfolglos gebliebene – Bemühungen gegen seine Betäubungsmittelabhängigkeit.
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Der Verurteilung zu 10. lag ein Geschehen zugrunde, bei welchem der Kläger in Büroräume einbrach und dort verschiedene Gegenstände im Gesamtwert von ca. 1.800 EUR entwendete, um (auch) seine Betäubungsmittelabhängigkeit zu finanzieren.
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Der Verurteilung unter 12. lag nach den gerichtlichen Feststellungen zugrunde, dass der Kläger zwei Ladendiebstähle beging, wobei er je zwei Taschenmesser bei sich führte. In Bezug auf einen der Diebstähle ließ er sich dahingehend ein, dass er drogenrückfällig gewesen sei und der Betäubungsmittellieferant die Diebstahlsbestellung so aufgegeben habe. Später sollte dort das Diebesgut in Betäubungsmittel getauscht werden. In den Urteilsgründen wird weiter ausgeführt, dass die Haftentlassung in anderer Sache bei der Begehung des ersten der beiden Diebstähle erst zwei Monate davor stattgefunden habe. Eine erneute Unterbringung des Klägers gem. § 64 StGB wurde als offensichtlich aussichtslos bezeichnet.
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Der Verurteilung unter 13. lag ein Geschehen zugrunde, das in die Kategorie des Trickbetrugs „Falscher Polizeibeamter“ fällt. Dem Kläger sollte im Rahmen des Geschehens die Funktion des „Abholers“ des Geldes zukommen, wobei er dafür eine „Belohnung“ erhalten sollte. Allerdings hatte die Geschädigte aufgrund zwischenzeitlicher Zweifel das Geld bereits bei einer Polizeiinspektion deponiert. Als der Kläger die Tüte in der (unzutreffenden) Annahme, dass sich darin das Bargeld in Höhe von 30.000,00 EUR befinde, an sich nahm, konnte er (von der bereits über das Geschehen informierten Polizei) festgenommen werden. Die Tat wurde nach den amtsgerichtlichen Feststellungen vom Kläger aufgrund von Betäubungsmittelabhängigkeit begangen. Das Amtsgericht nahm eine mittäterschaftliche Tatbegehung an, da dem Kläger die wesentliche Funktion der Beutesicherung zugekommen sei. Er habe selbst Einfluss auf das Geschehen nehmen können, er habe auch den Ablageort benannt.
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Das Landgericht B. änderte den amtsgerichtlichen Schuldspruch in Beihilfe ab und reduzierte die verhängte Freiheitsstrafe (s.o.). Trotz des erheblichen Tatbeitrags des Klägers sei kein mittäterschaftliches Handeln gegeben gewesen; bei dem Kläger habe es sich um einen Kurier gehandelt. Die weiteren Gestaltungsmöglichkeiten (Bestimmung der Tatzeit und Wahl des Übergabeorts) änderten nichts an seiner eher untergeordneten Rolle im Gesamtgeschehen. Bei der negativen Sozialprognose hat das Gericht die zahlreichen Vorstrafen des Klägers, seine langjährige Hafterfahrung, den Umstand, dass seine letzte Haftentlassung erst ein gutes Jahr zurückgelegen habe sowie die offene Führungsaufsicht bei Tatbegehung berücksichtigt. Bisherige Bewährungsstrafen hätten jeweils widerrufen werden müssen. Weder die Lebensgefährtin des Klägers, die gemeinsame Tochter, noch das Arbeitsverhältnis hätten ihn von erneuter Straffälligkeit abhalten haben können. Es gäbe keine Hinweise für zwischenzeitliche Veränderungen. Die neuerlichen Bemühungen um eine Suchttherapie könnten ebenfalls keine Aussetzung zur Bewährung begründen. Zwei Unterbringungen in einer Entziehungsanstalt in den letzten 8 Jahren hätten kein drogenfreies Leben des Klägers bewirken können.
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Mit Schreiben vom 25. Mai 2021 erhielt der Kläger Gelegenheit zur Stellungnahme zur beabsichtigten Feststellung des Verlustes des Rechts auf Einreise und Aufenthalt sowie der beabsichtigten Androhung der Abschiebung nach Italien.
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Hierauf merkte der Bevollmächtigte des Klägers im Wesentlichen an, dass die familiäre Bindung zwischen dem Kläger, seiner aktuellen Lebensgefährtin sowie der gemeinsamen Tochter Y... eng sei. Insbesondere seien Vater und Tochter sehr aufeinander fixiert. Es sei ein schwerer Eingriff in das Wohl des gemeinsamen Kindes, wenn man dem Kläger das Aufenthaltsrecht entziehe. Eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit sei nicht festzustellen; die Vorstrafen hätten sich nie über die engsten Beteiligtenkreise hinaus erstreckt. Hieran ändere die Rückfallhäufigkeit nichts. Die Vorstrafen seien allein der Drogenabhängigkeit und der Beschaffungskriminalität zuzuordnen. Letztere sei aber eher als Kleinkriminalität anzusehen. Aktuell sei geplant, im Rahmen eines Rückstellungsverfahrens nach § 35 BtMG beim Kläger einen Drogenentzug durchzuführen. Dieser solle mit zugesagter Deckung durch die Kostenträger erfolgen. Durch die Unterstützung seitens Psychologen und Drogenberatern sowie die Zusage der Kostentragung sei erkennbar, dass eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nicht zu befürchten sei.
27
Mit Schreiben vom selben Tag wurde auch die Mutter des ersten Kindes (A... ..., geb. am ....4.2012) des Klägers angehört. Demnach sehe der Kläger das Kind gewöhnlich gar nicht. Insgesamt habe es bisher nur wenige Treffen zwischen Kläger und Kind gegeben, als das Kind ein neugeborenes Baby gewesen sei und kurz vor dem Haftantritt des Klägers. Derzeit bestehe kein Kontakt zwischen dem Kläger und dem Kind. Die neue Lebenspartnerin des Klägers wäre gegen den Kontakt und lehne eine Auskunftserteilung über den Kläger ab.
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Ebenfalls mit Schreiben vom selben Tag wurde die aktuelle Lebensgefährtin des Klägers angehört. Demnach sehe die gemeinsame Tochter Y... ihren Vater – aufgrund der coronabedingt eingeschränkten Kontaktmöglichkeiten in der JVA D. – derzeit nur eine Stunde im Monat in physischer Präsenz. Normalerweise seien es drei Stunden im Monat gewesen. Zudem bestehe Kontakt mittels Telefon und Videotelefonie. Auch würden sich Tochter und Vater alle 2-3 Tage persönliche Briefe schreiben. Der Kläger sei trotz der Haft stets bemüht, sich als Vater in entscheidende Fragen des Lebens seiner Tochter einzubringen. Er beeinflusse die Entwicklung des Kindes positiv. Die Entscheidungsfindung in Bezug auf das Kind (Erziehung und Schule) erfolge einvernehmlich gemeinsam, dies sei schon seit der Geburt des Kindes so. Ein gemeinsames Sorgerecht bestehe jedoch nicht. Es sei eine starke Bindung der Tochter zu ihrem Vater vorhanden. Der größte Herzenswunsch der Tochter sei es, ihren Vater jeden Tag sehen zu können. Die Tochter vermisse ihren Vater während der Haftzeit sehr, trotz der verhängten Freiheitsstrafe verachte sie weder ihren Vater noch sei sie ihm böse. Seit ca. 14 Jahren würde der Kläger mit der aktuellen Lebensgefährtin eine eheähnliche Beziehung führen. Es bestehe das absolute Vertrauen der aktuellen Lebensgefährtin in den Kläger, was die Aufsicht über die gemeinsame Tochter angehe. Kläger und Lebensgefährtin würden sich gegenseitig ergänzen, damit sie als Gesamtpaket ihrer Tochter eine behütete und erfüllte Kindheit ermöglichen könnten.
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Nach dem Führungsbericht der JVA D. vom 1. Juli 2021, in der sich der Kläger seit 25. Februar 2021 in Strafhaft befindet, ist sein Verhalten gegenüber den Bediensteten stets hausordnungsgemäß. Er wird als höflich, ungezwungen, verträglich und hilfsbereit beschrieben. Gegenüber Mitgefangenen zeige er sich kameradschaftlich und anpassungsfähig. Die Arbeitsleistung sei überdurchschnittlich gut. Der Kläger habe regelmäßigen Besuchskontakt und Schriftverkehr zu seiner Verlobten, Tochter und Stiefsohn. Er stehe mit der externen Suchtberatung der JVA seit März 2021 in Kontakt und habe dort acht Einzelgespräche wahrgenommen. Er werde insoweit als motiviert beschrieben, auch sei die Weiterführung der Beratung bis zur Aufnahme einer stationären Suchttherapie gewünscht und geplant. Ohne stationäre Therapie scheine ein suchtmittel- und damit straffreies Leben des Klägers nicht wahrscheinlich.
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Mit Bescheid vom 26. Juli 2021, dem Klägerbevollmächtigten am 27. Juli 2021 zugestellt, stellte die Beklagte den Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt gegenüber dem Kläger fest (Ziffer 1). In Ziffer 2 wurde der Kläger zur Ausreise innerhalb eines Monats nach Unanfechtbarkeit des Bescheids aufgefordert. Widrigenfalls wurde ihm in Ziffer 3 die Abschiebung nach Italien angedroht. Die Abschiebung erfolge während der Haft oder dem sonstigen öffentlichen Gewahrsam. In Ziffer 4 wurde das Verbot von Einreise und Aufenthalt auf fünf Jahre befristet. In Ziffer 5 wurde die sofortige Vollziehung der Ziffern 1 und 4 angeordnet. Zur Begründung wird ausgeführt, dass sich die unter Ziffer 1 getroffene Verlustfeststellung auf § 6 Abs. 1 FreizügG/EU stütze. Dessen Voraussetzungen seien erfüllt. Der Kläger sei zuletzt wegen Beihilfe zum versuchten Betrug zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 8 Monaten verurteilt worden.
Er habe dabei als sog. Abholer im Phänomenbereich „Falscher Polizeibeamter“ agiert. Damit sei er Teil einer international agierenden Tätergruppierung gewesen, die sich zur fortgesetzten Begehung derartiger Betrugstaten zusammengeschlossen habe, um dadurch – zumindest teilweise – ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Der Kläger habe die wesentliche Funktion der Beutesicherung innegehabt; er habe selbst Einfluss auf das Geschehene nehmen können. Dem Strafurteil sei zudem zu entnehmen, dass die Freiheitsstrafe mangels günstiger Sozialprognose nicht zur Bewährung habe ausgesetzt werden können. Weiter werde darin ausgeführt, dass der Kläger vielfach und teilweise auch einschlägig im Rahmen der Vermögensdelikte vorbestraft sei. Das Gericht gehe nicht davon aus, dass eine Bewährungsstrafe den Kläger tatsächlich von der Begehung neuerlicher strafrechtlicher Verfehlungen abhalten könne. Die öffentliche Sicherheit bzw. Ordnung sei zweifellos durch den Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet gefährdet. Es liege zudem eine hohe Wiederholungsgefahr, also eine gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Ordnung vor. Der Kläger sei bereits jahrzehntelang schwer drogenabhängig und begehe aufgrund seiner Drogenabhängigkeit immer wieder Straftaten. Er habe offensichtlich keine Chance auf ein drogenfreies Leben, er sei unzählige Male rückfällig geworden. Auch zeigten die ständig wiederkehrenden Straftaten eine hohe Rückfallgeschwindigkeit und eine besonders hohe kriminelle Energie auf. Die ständigen Verurteilungen zu Freiheitsstrafen verdeutlichten, dass sich der Kläger auch eine Freiheitsstrafe nicht zur Warnung gereichen lasse. Selbst seitens des Bevollmächtigten sei in einem Schriftsatz im Jahr 2020 mitgeteilt worden, dass der Kläger dauerhaft und unheilbar drogenabhängig sei. Seit 2019 würden daher Substitution und Medikamentierung erfolgen. Die infolge der Drogenabhängigkeit des Klägers sowie seiner – aufgrund seiner nicht unerheblichen Schulden – entstandenen wirtschaftlichen Perspektivlosigkeit begangenen Straftaten lägen überwiegend im Bereich der Beschaffungskriminalität, was die vom Kläger ausgehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erkennen lasse. Schließlich berge die nach wie vor bestehende Drogenproblematik ein erhöhtes Risiko dafür, dass der Kläger erneut strafbares Verhalten in erheblichem Umfang an den Tag lege, sowohl in Form der Betäubungsmittel- als auch der Beschaffungskriminalität. Gerade bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhten, könne von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht habe. Solange sich der Kläger nicht außerhalb des Straf- oder Maßregelvollzugs bewährt habe, könne nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die das Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertige. Der Kläger sei wohl trotz diverser Therapien gegen seine Drogensucht immer wieder rückfällig geworden. Insgesamt sei aus Sicht der Beklagten ein drogenfreies Leben des Klägers ausgeschlossen. Die Argumentation, wonach der Kläger ein Rückstellungsverfahren gemäß § 35 BtMG betreibe, bei welchem ein Drogenentzug durchgeführt werden solle, laufe somit ins Leere. Insgesamt scheine eine erneute Therapie nicht erfolgversprechend. Der Kläger schrecke auch vor dem Mitführen von Waffen zur Begehung einer Straftat nicht zurück. Eine seiner Verurteilungen sei wegen des Diebstahls mit Waffen in zwei Fällen erfolgt. Eines der bei der Tat mitgeführten Taschenmesser habe eine erhebliche Größe gehabt. Die entwendeten Zigaretten habe der Kläger gegen Morphium und Drogen tauschen wollen, um seine Sucht zu befriedigen. Auch dieses Verhalten lasse den Schluss zu, dass er unberechenbar und gefährlich sei. Bei Straftaten aus den in Art. 83 AEUV aufgezählten Deliktsgruppen könne regelmäßig davon ausgegangen werden, dass ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt werde. Dort seien u.a. der illegale Drogenhandel und die organisierte Kriminalität aufgezählt, worin der Kläger jeweils kein unbeschriebenes Blatt sei. Insgesamt sei der Schutz vor materiellen Schäden ein zu schützendes Grundinteresse der Gesellschaft. Daher sei eine weitere Gefährdung durch die Anwesenheit des Klägers im Bundesgebiet nicht hinnehmbar. Das in der Verurteilung durch das Amtsgericht B. erkennbare Verhalten des Klägers sowie seine strafrechtliche Vergangenheit und unheilbare Drogenabhängigkeit belegten zusammenfassend eine tatsächliche und hinreichende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre, ebenso das Vorliegen von Wiederholungsgefahr.
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Auch die Regelungen des § 6 Abs. 4, Abs. 5 FreizügG/EU führten – wie die Beklagte sinngemäß erwähnt – zu keiner anderen Betrachtung. Zwar halte sich Kläger bereits über 20 Jahre im Bundesgebiet auf. Dabei habe er allerdings etliche Jahre in Justizvollzugsanstalten verbracht, aktuell verbüße er abermals eine Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 8 Monaten. Das Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU sei Voraussetzung für die höchste Schutzstufe des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU. Zeiten der Verbüßung einer Freiheitsstrafe, die nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde, dürften nicht für die Zwecke des Erwerbs des Daueraufenthaltsrechts berücksichtigt werden. Vorliegend habe der Kläger keine solche Rechtsposition erlangt, da er – nach der Bundeszentralregisterauskunft – keinen durchgängigen fünfjährigen Aufenthalt „in Freiheit“ vorweisen könne. Eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Integration sei auch nicht erfolgt. Einer relevanten Vollzeitbeschäftigung sei der Kläger nur von Januar 2019 bis Januar 2020 nachgegangen. Vor diesem Hintergrund seien die Voraussetzungen des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU nicht erfüllt.
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Bei der Ermessensausübung nach § 6 Abs. 3 FreizügG/EU sei zu berücksichtigen gewesen, dass der Kläger seit seiner Einreise nach Deutschland etliche Jahre Freiheitsstrafen verbüßt habe. Er habe sich überwiegend in Haft befunden. Auch habe er überwiegend Sozialleistungen in Anspruch genommen. Mangels wirklicher Integration stelle die Dauer seines Aufenthalts keinen gewichtigen Belang dar. Im Übrigen sei es dem Kläger aufgrund seines noch nicht zu hohen Alters möglich, sich in seinem Heimatland wirtschaftlich zu integrieren. Dort habe er keinen persönlichen Kontakt zu seinen „alten Bekannten“, welche ihn im Bundesgebiet zu weiteren Straftaten verleiten würden. Nach seiner letzten Therapie habe er nach eigenen Angaben zunächst eine Betäubungsmittelabstinenz erreicht. Er habe in Vollzeit gearbeitet und bei seiner Familie gewohnt. In der Folge sei es jedoch aufgrund eines Zusammentreffens mit „alten Bekannten“ zu Rückfällen in die Betäubungsmittelabhängigkeit gekommen. Bisherige nennenswerte Integrationsleistungen seien nicht erkennbar. Der Kläger sei zwar der deutschen Sprache mächtig, habe jedoch weder einen Schulabschluss noch ein Sprachzertifikat im Bundesgebiet erlangt. Auch die Berücksichtigung der familiären Bindungen habe zu keiner anderen Entscheidung als der Verlustfeststellung geführt. Die Mutter des ersten Kindes (Anm.: geb. am ....4.2012) habe mitgeteilt, dass nur Briefkontakt zwischen Vater und Tochter bestehe. Beiträge des Klägers zur Erziehung würden nicht erfolgen, er habe sein Kind bisher nur wenige Male gesehen. Eine andere Situation sei bei dem gemeinsamen Kind (gemeint: Y...) des Klägers mit seiner aktuellen Lebensgefährtin gegeben. Hier würde er sich um das Kind gut kümmern. Er würde trotz fehlenden Sorgerechts einen wesentlichen Teil zur Erziehung beitragen. Allerdings habe er seit der Geburt seiner zweiten Tochter immer wieder jahrelange Freiheitsstrafen verbüßt; in dieser Zeit habe der physische Kontakt von Vater und Tochter gefehlt. Die Tochter werde es somit gewohnt sein, den Vater über einen längeren Zeitraum nicht sehen zu können. Auch sei es bei einer Rückführung des Klägers nach Italien für ihn und seine Familie zumutbar, eine räumliche Trennung in Kauf zu nehmen oder die Bindung anderweitig aufrecht zu erhalten. Die Ausländerbehörde sehe in der Aufenthaltsbeendigung eine Chance für den Kläger, wieder auf den rechtschaffenen Weg zu kommen. Nach Ablauf der Befristung könnte er wieder in das Bundesgebiet einreisen und sich dauerhaft hier niederlassen. Ebenso könne die Familie den Kläger nach Italien begleiten. Im Übrigen sei unklar, ob sich Mutter, Schwester und Bruder des Klägers noch in Deutschland aufhalten. Ferner seien diese Bindungen beim Kläger nicht mehr in dem Maße schutzwürdig, wie es bei einem Minderjährigen der Fall sei. Da er bis zum 25. Lebensjahr in Italien gelebt habe, dürfte ihm eine Wiedereingliederung in die dortigen Verhältnisse nicht allzu schwer fallen. Die Schwere der zuletzt vom Kläger begangenen Straftat, die Vorstrafen, der hohe beabsichtigte Beutewert und die kriminelle Energie sprächen für eine Beendigung des Aufenthalts. Insgesamt sei die Aufenthaltsbeendigung verhältnismäßig. Fraglich sei auch das Maß seiner Vorbildfunktion für seine Tochter Y.... Der mittlerweile neunjährigen Tochter sollte wohl bewusst sein, dass der Vater immer wieder straffällig werde und drogenabhängig sei. Insgesamt müsse das hohe Rechtsgut der Freizügigkeit in der EU hinter dem öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zurücktreten.
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Auch bestehe kein Verstoß gegen Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK. Die weitere Trennung des Klägers von seiner Familie sei keine unbillige Härte, vielmehr ausschließlich Konsequenz seines alleinigen persönlichen kriminellen Verhaltens. Im Übrigen habe auch die familiäre Bindung den Kläger nicht von Straftaten abhalten können.
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Die Abschiebungsandrohung stütze sich auf § 7 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU. Die Setzung einer Ausreisefrist solle auch dann erfolgen, wenn der Betroffene vor seiner Haftentlassung keine Möglichkeit zur freiwilligen Ausreise erhalten werde, sondern aus der Haft abgeschoben werden müsste. Die Ausreisefrist solle im Wesentlichen dazu dienen, dass sich der Betroffene auf die Beendigung des Aufenthalts in Deutschland einstellen, seine persönlichen Angelegenheiten regeln könne etc.
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Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots stütze sich auf § 7 Abs. 2 Satz 1, Satz 5, 6 FreizügG/EU. Hier solle eine fünfjährige Auslandsabwesenheit ausreichen, um Abstand von den Straftaten und der Drogenszene zu finden sowie sich eine legale Existenzgrundlage aufzubauen, von welcher der Kläger und seine Familie leben könnten. Insgesamt sei die Gefahrenabwehr höher zu werten als die privaten familiären Bindungen des Klägers, der Vater zweier minderjähriger im Bundesgebiet lebender Kinder und mit einer italienischen Staatsangehörigen verlobt sei. Der bisherige Lebensweg des Klägers lasse den Schluss zu, dass er nach Haftentlassung im Bundesgebiet kein straf- und drogenfreies Leben führen könne. Die bisher verhängten Freiheitsstrafen von bis zu drei Jahren hätten nicht ausgereicht, um einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Ferner stehe es der Familie frei, ihn in Italien zu besuchen, z.B. während der Schulferien der zweiten Tochter des Klägers.
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Mit Schriftsatz vom 2. August 2021 ließ der Kläger Klage gegen den Bescheid vom 26. Juli 2021 erheben. Gleichzeitig ließ er einen Eilantrag stellen. Der Kläger ist dabei der Ansicht, dass die Beklagte zu den Begriffen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (§ 6 FreizügG/EU) eine unzutreffende Subsumierung vorgenommen habe, die Abschiebung nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts nicht angedroht habe und das Kindeswohl seines zweiten (leiblichen) Kindes durch die Abschiebung des Klägers verletzt würde. Im Einzelnen ließ er die Klage damit begründen, dass er seit 1997 von gelegentlichen Kurzurlauben in Italien abgesehen durchgehend in Deutschland aufhältig sei. Der Kläger sei zwar mehrfach vorbestraft, allerdings nahezu ausschließlich aufgrund Beschaffungskriminalität im einschlägigen Bereich der Drogenkriminalität und der Eigentums- und Vermögensdelikte. Personen seien durch ihn weder an Leib noch Leben zu Schaden gekommen, materielle Schäden seien auf den engsten Kreis der Beteiligten beschränkt geblieben. Ferner seien dem Kläger der streitgegenständliche Aufenthaltsverlust und die Abschiebung nicht angedroht worden. Die Beklagte habe zwar mit Schreiben vom 25. Mai 2021 mitgeteilt, dass aufgrund der Straffälligkeit beabsichtigt sei, den Verlust des Freizügigkeitsrechts festzustellen sowie die Abschiebung anzudrohen. Dies sei allerdings keine Androhung im Sinne des § 59 AufenthG, sondern eine bloße Mitteilung mit der Möglichkeit zur Stellungnahme. Im Übrigen werde die Beklagte nicht einwenden können, dass ihr die Straffälligkeit des Klägers bis zum Schreiben vom 25. Mai 2021 unbekannt geblieben sei. Schließlich seien nach Nr. 42 MiStra Strafsachen gegen Ausländerinnen und Ausländer unverzüglich der zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen. Dieser sei somit über Jahre hinweg die fortschreitende Verurteilung des Klägers bekannt gewesen, ohne dass sie dagegen etwas unternommen habe. Die Beklagte hätte die gravierenden ausländerrechtlichen Maßnahmen anlässlich einer der letzten Verurteilungen androhen müssen.
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Der Kläger lebe seit 2011 mit seiner aktuellen Lebensgefährtin, deren Familie, dem Sohn der Lebensgefährtin sowie seit der Geburt der gemeinsamen Tochter (Y...) auch mit dieser gemeinsam in einem Haushalt. Es liege eine eheähnliche Verbindung von Kläger und Lebensgefährtin vor. Ein Verlust des Aufenthaltsrechts und die Abschiebung würden aufgrund der engen Beziehung des Klägers und seiner Tochter Y... eine Verletzung des Kindswohls bedeuten. Der Klägerbevollmächtigte habe die vorgenannte Stellungnahme der aktuellen Lebensgefährtin des Klägers um die Mitteilung ergänzt, dass er den Kläger und seine Familie seit vielen Jahren kenne und ihm bekannt sei, dass es sich um eine moderne, intakte, bürgerliche Familie italienischen Zuschnitts handle, wo sehr viel Wert auf Zusammenhalt, Bürgerlichkeit und Integration gelegt werde. Auch sei dem Klägerbevollmächtigten selbst die enge familiäre Bindung zwischen der Lebensgefährtin des Klägers, dem Kläger und seiner zweiten Tochter bekannt.
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In Bezug auf die Strafe Nr. 13 sei keinem der Urteile zu entnehmen, dass der Kläger Teil einer internationalen Tätergruppierung gewesen sei, die sich zur fortgesetzten Begehung derartiger Betrugstaten zusammengeschlossen habe, um dadurch zumindest teilweise deren Lebensunterhalt zu bestreiten. Vielmehr sei er angeworben worden, um eine Tüte in Empfang zu nehmen. Ein hohes Gefährdungspotenzial habe insoweit keines der Gerichte festgestellt.
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Die Vorstrafen des Klägers stammten nahezu ausschließlich aus dem Bereich der Drogenkriminalität und seien ebenfalls primär dem Bereich der Kleinkriminalität zuzurechnen. Keinem der Urteile könne eine hohe kriminelle Energie entnommen werden, sodass die Besorgnis einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung unberechtigt sei. Der Kläger habe zuletzt als Lagerarbeiter vollschichtig unter sehr prekären Umständen als Leiharbeitnehmer zu einem Lohn von 1.200 EUR gearbeitet. Derzeit sei er um eine Rückstellung gemäß § 35 BtMG und um Durchführung einer weitgehend in die Wege geleiteten Drogentherapie bemüht. Hierzu läge bereits ein positives Gutachten der Drogenberatung vor, ebenso sei eine Zusage des Kostenträgers in Aussicht gestellt. Die Annahme, ein drogenfreies Leben sei aus Sicht der Ausländerbehörde ausgeschlossen, sei mit dem Weltbild unserer Gesellschaft nicht vereinbar. Ebenso seien die Ausführungen der Beklagten, wonach der Kläger bei der Begehung seiner Straftaten vor der Mitführung von Waffen nicht zurückschrecke, nicht gerechtfertigt. Bei der Vorstrafe Nr. 12 der Strafliste habe der Kläger in seinem Rucksack zwei Taschenmesser mitgeführt gehabt. Der Klägerbevollmächtigte sehe die Rechtsprechung des BGH zur unbewussten Mitführung von Taschenmessern jedoch als unsäglich an. Bei der Anmerkung, wonach der Kläger im Bereich der organisierten Kriminalität kein unbeschriebenes Blatt sei, handle es sich um eine fehlerhafte Darstellung.
40
Der Kläger lässt beantragen,
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Der Bescheid der Beklagten vom 26.7.2021, Az. ... wird aufgehoben.
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Die Beklagte beantragt
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Die Beklagte verweist auf die Ausführungen im angefochtenen Bescheid. In der Klagebegründung seien keine neuen Aspekte vorgebracht worden.
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In der Folgezeit ließ der Kläger zu den familiären Aspekten verschiedene Unterlagen vorlegen.
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Darunter befand sich u.a. eine Bestätigung der Suchtberatungsstelle des ... aus dem Jahr 2013. Demnach sei der Umgang des Klägers mit seiner Tochter – soweit erkennbar – gut.
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Weiter vorgelegt wurde ein kinderärztliches Attest vom 3. August 2021. Danach bestehe zwischen der zweiten Tochter (Y...) und dem Kläger eine große Bindung. Eine Trennung würde wohl zu einer schweren psycho-emotionalen Konfliktsituation führen.
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Ebenfalls beigebracht wurde eine auf den 4. August 2021 datierte Stellungnahme der Klasslehrerin der zweiten Tochter (Y...) des Klägers. Demnach sei ein regelmäßiger Kontakt zum Vater für die weitere Entwicklung – insbesondere im emotionalen und sozialen Bereich – von großer Bedeutung. Als der Kontakt zum Vater aufgrund steigender Corona-Infektionszahlen begrenzt worden sei, sei dies dem Kind emotional anzumerken gewesen. Es habe sich im Unterricht unter anderem teilweise unkonzentriert gezeigt und sehr viel geweint. Besuche beim Kläger hätten dagegen zu Ausgeglichenheit und Fröhlichkeit geführt. Eine Abschiebung des Klägers würde dazu führen, dass die Tochter diesen nur noch einmal jährlich besuchen könne.
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Entsprechend einem Schreiben der ... vom 4. März 2021 sowie einem Schreiben der ... liegt eine Therapiebereitschaft des Klägers in Bezug auf eine stationäre Drogenentzugstherapie vor. Die Deutsche Rentenversicherung hat mit (ebenfalls vorgelegtem) Bescheid eine derartige Therapie für 24 Wochen bewilligt. Den Bescheid hat sie unter der aufschiebenden Bedingung der Zurückstellung der Strafverfolgung gem. § 35 BtMG erlassen. Die Therapieeinrichtung hat mit Schreiben vom 15. Juli 2021 die Aufnahme des Klägers für den Zeitraum ab dem 29. November 2021 (unter der Voraussetzung u.a. der Genehmigung der Justiz) zugesagt.
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Nach dem vorgelegten Arbeitszeugnis für die Zeit von Januar 2019 bis Januar 2020 hat der Kläger alle ihm übertragenen Aufgaben jederzeit gewissenhaft und stets zur vollen und uneingeschränkten Zufriedenheit des Arbeitgebers erfüllt; der Kläger habe ein Angebot zur Festanstellung erhalten gehabt. Er würde vor diesem Hintergrund im Unternehmen wieder eingestellt werden.
51
Die Beklagte sicherte mit Schreiben vom 18. August 2021 zu, bis zur erstintanzlichen Entscheidung des Verwaltungsgerichts in der Hauptsache keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen durchzuführen. Hinsichtlich des positiven Führungsberichts (vom 1.7.2021) merkte sie an, dass sich drogenabhängige Straftäter in der Haft besser kontrollieren könnten. Die weiteren Nachweise änderten nichts an der rechtlichen Bewertung des Sachverhalts. Ungeachtet der in Aussicht stehenden Therapiemöglichkeit sei von einer erheblichen Rückfallgefahr und damit von einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gemäß § 6 Abs. 1 FreizügG/EU auszugehen. Der Kläger habe trotz Therapieversuchen und positiver Prognosen den Rückfall in Sucht und Beschaffungskriminalität bisher nicht verhindern können. Bisherige Verurteilungen hätten keine nachhaltige Wirkung gezeigt. Auch verdeutliche der Bericht der ... vom 4. März 2021, dass beim Kläger offenbar allein eine flüchtige Begegnung mit einem „alten Bekannten“ genügt habe, um ihn rückfällig und wieder straffällig werden zu lassen. Auch seine Familie habe die Rückfälligkeit nicht verhindern können. Es habe ihm klar sein müssen, dass er bei einer Verurteilung sowohl Arbeitsplatz als auch Freiheit für längere Zeit verliere und dies Auswirkungen auf seinen ausländerrechtlichen Status habe. Insgesamt habe die kriminelle Energie beim Kläger zugenommen. Auch in Bezug auf das Verhältnis zum Kind führten die weiteren Nachweise zu keinem anderen Ergebnis. So habe sich das Kind aufgrund der Haftstrafen des Klägers bereits an die vom Kläger verschuldete Abwesenheit gewöhnen müssen. Insgesamt seien die Maßnahmen spezialpräventiv geboten und verhältnismäßig, vor allem wegen der hohen und konkreten Rückfallgefahr des Klägers in Sucht und Straffälligkeit.
52
Mit weiterem Schriftsatz teilte der Klägerbevollmächtigte dem Gericht mit, dass bis zum Haftende im Juli 2022 dringende Gründe zum Schutz der öffentlichen Sicherheit im Sinne des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU nicht vorlägen, ebenso wäre bei einer suchttherapeutischen Maßnahme ein ähnlicher Schutz der öffentlichen Sicherheit gegeben. Es dürfe nach heutigem Stand als sicher gelten, dass die stationäre Therapiemaßnahme über eine Dauer von 24 Monaten stattfände. Danach sei auch aufgrund der dortigen abschließenden sachverständigen Gutachten eine gesicherte Prognoseentscheidung möglich. Es sei problematisch, sofern eine Unterbrechung der Strafhaft eintrete, wenn der Kläger in die stationäre Behandlung übergeleitet werde, und nach einer Klageabweisung aus der Rehamaßnahme heraus eine Abschiebung erfolge. Entsprechend einem der Haftführungsberichte sei der Kläger nach Einschätzung der JVA nicht als Risikoproband einzustufen, von dem erhebliche Gefahren für die körperliche Unversehrtheit potenzieller Opfer ausgingen.
53
Das Argument, der Verlust des Aufenthaltsrechts sei dem Kläger nicht angedroht worden, werde nicht mehr aufrecht erhalten.
54
Die Subsumtion der Beklagten sei in Bezug auf § 6 FreizügG/EU nicht rechtsfehlerfrei erfolgt (s.o.). § 6 Abs. 5 FreizügG/EU sei bei einem Aufenthalt eines Unionsbürgers in den letzten 10 Jahren lex specialis zu § 6 Abs. 1 bis 4 FreizügG/EU . Vorliegend halte sich der Kläger unstreitig seit dem 5. Dezember 2000 durchgängig im Bundesgebiet auf. Als Aufenthalt gelte auch eine Zeit intra muros. Der Text der Norm lasse auch nicht die Interpretation zu, dass man den Schutz nach 10-jährigem Aufenthalt nur dann erwerben könne, wenn man zuvor nach 5 Jahren das Daueraufenthaltsrecht erworben habe. § 6 Abs. 5 FreizügG/EU besage lediglich, dass gegen Unionsbürger eine Ausweisung nicht verfügt werden könne, wenn sie sich in den letzten 10 Jahren im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hätten, es sei denn die Entscheidung beruhe auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit. Der Rechtsansicht der Beklagten stehe auch Art. 16 Abs. 4 RL entgegen, wonach nach Erwerb des Daueraufenthaltsrechts nur eine zwei aufeinanderfolgende Jahre überschreitende Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat zu dessen Verlust führe. Im Übrigen spreche die von der Beklagten am 6. September 2012 ausgestellte Bescheinigung über das Aufenthaltsrecht für einen mehr als zehnjährigen Aufenthalt in Deutschland und die Rechtmäßigkeit eines 5-jährigen Aufenthalts. Zusammengefasst sei der seit 20 Jahren ununterbrochen in Deutschland aufhältige Kläger gegen aufenthaltsbeendende Maßnahmen insoweit gesichert, als nicht zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit entgegenstünden. Solche in § 6 Abs. 5 FreizügG/EU geregelte Gründe bestünden beim Kläger nicht.
55
Im Übrigen reiche es im Rahmen der verfassungsrechtlich gebotenen Abwägung nicht aus, bei der Begehung von Straftaten nach dem BtMG ohne Weiteres auf die Gefährdung höchster Gemeinwohlgüter und eine kaum widerlegbare Rückfallgefahr zu schließen. Vielmehr sei der konkrete der Verurteilung zugrunde liegende Sachverhalt ebenso zu berücksichtigten wie das Nachtatverhalten und der Verlauf der Haft und gegebenenfalls einer Therapie. Auch habe der Bundesgerichtshof im Jahr 2018 festgestellt, dass eine Verbesserung der öffentlichen Sicherheit durch eine Suchtbehandlung schon dann erreicht werde, wenn bei ihrem erfolgreichen Verlauf das Ausmaß der Gefährlichkeit des Täters nach Frequenz und krimineller Intensität der von ihm befürchteten Straftaten deutlich herabgesetzt werde.
56
Mit Beschluss vom 14. September 2021 wurde das Eilverfahren Au 1 S 21.1631 eingestellt, nachdem dies von beiden Beteiligten übereinstimmend für erledigt erklärt worden war. Die Kosten des Verfahrens wurden gegeneinander aufgehoben, da der Bescheid vom 26. Juli 2021 aus Sicht des Gerichts teilweise inhaltlich widersprüchliche Regelungen enthält.
57
Mit Beschluss der Staatsanwaltschaft B. vom 21. September 2021 wurde die Vollstreckung der Freiheitsstrafe von 1 Jahr 8 Monaten (Verurteilung wegen Beihilfe zum versuchten Betrug) ab dem Betreten der Therapieeinrichtung am 29. November 2021 für die Dauer von längstens zwei Jahren zurückgestellt.
58
Mit weiterem Bescheid vom 5. Oktober 2021, zugestellt dem Klägerbevollmächtigten am 6. Oktober 2021, widerrief die Beklagte – soweit streitgegenständlich – Ziffer 2 des Bescheids vom 26. Juli 2021 (Ziffer I. des neuen Bescheids). In Ziffer II. des Bescheids vom 5. Oktober 2021 wurde der Kläger aufgefordert, das Bundesgebiet innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Bescheids zu verlassen. Der teilweise Widerruf des Bescheids sei auf der Rechtsgrundlage des Art. 49 Abs. 1 Satz 1 BayVwVfG erfolgt.
Anlass für den Widerruf sei eine teilweise Widersprüchlichkeit der Regelungen des Bescheids vom 26. Juli 2021 gewesen. Bei der Widerrufsentscheidung habe die Beklagte abgewogen zwischen den Belangen der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und den Gedanken der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens. Der Widerruf sei geeignet, erforderlich und angemessen, um den Vollzug der Verfügung vom 26. Juli 2021 – die Einleitung zeitnaher aufenthaltsbeendender Maßnahmen – sicherzustellen. Das Interesse der Allgemeinheit an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch eine zeitnahe Aufenthaltsbeendigung sei höher zu werten als das Interesse des Klägers an einem weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet. Die fortbestehende Betäubungsmittelabhängigkeit des Klägers stelle eine erhebliche Gefahr für weitere vom Kläger ausgehende Straftaten dar.
59
Die Ausreiseaufforderung einschließlich der Fristsetzung zur Ausreise beruhe (weiterhin) auf § 7 Abs. 1 Sätze 1 bis 3 FreizügG/EU.
60
Mit Schriftsatz vom 10. Oktober 2021 ließ der Kläger seine Klage auf den Bescheid vom 5. Oktober 2021 erweitern. Entsprechend der Klagebegründung sei auch Ziffer II. des neuen Bescheids rechtswidrig. Aufgrund des Vorrangs des Europarechts sei es der Beklagten verwehrt, gemäß Art. 49 Abs. 1 Satz 1 BayVwVfG den Bescheid vom 26. Juli 2021 in Ziffer II. zu widerrufen. Die Norm könne nur auf Verwaltungsakte deutscher Behörden bei Anwendung deutschen Rechts angewendet werden. Die Beklagte habe dem Kläger am 6. September 2012 eine Bescheinigung über das Aufenthaltsrecht ausgehändigt. Für einen Widerruf müsste sich die Beklagte auf § 6 Abs. 5 i.V.m. Abs. 1 FreizügG/EU stützen. Das Verfahren zum Recht auf Einreise und Aufenthalt werde in der AVV zum FreizügG/EU beschrieben. Demnach müsse bei Verlust des Freizügigkeitsrechts die Ausreise verfügt werden. Notfalls müsse ein neuer Bescheid nach § 6 FreizügG/EU erlassen werden, ein Widerruf nach der vereinfachten Norm des Art. 49 Abs. 1 Satz 1 BayVwVfG scheide aus. Ziffer II. des Bescheids sei auch deswegen rechtswidrig, weil die Beklagte mit Schriftsatz vom 18. August 2021 erklärt habe, bis zur erstinstanzlichen Entscheidung des Verwaltungsgerichts in der Hauptsache keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen durchzuführen. Der von der Beklagten nunmehr vorgesehene Ausreisezeitpunkt (7.11.2021) sei nach dem Wortlaut des neuen Bescheids vor der möglichen erstinstanzlichen Entscheidung des Verwaltungsgerichts vom 26. November 2021. Dies widerspreche der Selbstverpflichtung der Beklagten. Maßnahmen im Sinne der Selbstverpflichtung seien nicht nur Maßnahmen der vollziehenden Gewalt, also der gewaltsamen Abschiebung unter Anwendung körperlicher Gewalt, sondern jede Regelung, die etwas bewirken solle, im Rechtssinne ein einseitig-hoheitliches Handeln im Einzelfall (vgl. § 35 VwVfG). Die Maßnahme könne also auch ein Verwaltungsakt sein, der mit der Selbstverpflichtung ausgeschlossen werde. Hätte die Beklagte ihre Maßnahmen nur auf die Vollstreckung beschränken wollen, hätte sie auch „Vollstreckungsmaßnahmen“ formulieren müssen. Das (Anm.: bereits vorgelegte) Arbeitszeugnis sei für die Prognoseentscheidung bedeutsam. Der Bescheid vom 5. Oktober 2021 sei – wie die Klägerseite sinngemäß anmerkt – auch bereits deswegen rechtswidrig, da der Widerruf und die Formulierung des neuen Bescheids gerade nicht aufgrund des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung hätten erfolgen müssen. Schließlich trete mit diesem eine nicht gerechtfertigte Verschlechterung der Rechtsstellung des Klägers ein. Der Kläger solle jetzt bereits einen Monat nach Zustellung des neuen Bescheids – noch dazu vor dem in der beklagtenseitigen Selbstverpflichtung genannten Zeitpunkt – die Bundesrepublik Deutschland verlassen müssen (s.o.). Die Widersprüchlichkeit in der Tenorierung des alten Bescheids nehme man offensichtlich zum Anlass, die Rechtslage zu Lasten des Klägers zu verändern. Dies sei mit dem Grundsatz der ordnungsgemäßen und gesetzmäßigen Verwaltung nicht zu vereinbaren, vor allem vor dem Hintergrund, dass es zur Beseitigung der Widersprüchlichkeit für die Beklagte am einfachsten gewesen wäre, den Sofortvollzug in Nr. 5 des Bescheids vom 26. Juli 2021 aufzuheben. Ebenso hätte man nach dem Vorbringen des Klägerbevollmächtigten die Widersprüchlichkeit im Bescheid vom 26. Juli 2021 bestehen lassen können, da das Eilverfahren aufgrund der Selbstverpflichtung der Beklagten ohnehin beendet sei. Durch den neuen Bescheid entstehe der Eindruck, man habe nachträglich unter Vorschub rechtlicher Gründe die Rechtslage zu Gunsten des Klägers verschärfen wollen. Dies zeige sich daran, dass neben der Korrektur der Widersprüchlichkeit nunmehr auch eine Erweiterung um die (Anm.: in diesem Verfahren nicht streitgegenständliche) strafbewehrte Herausgabe des Passes mit Anordnung der sofortigen Vollziehung erfolgt sei.
61
In der Folgezeit erwiderte die Beklagtenseite schriftsätzlich, dass das Verfahren zum Erlass eines Widerrufsbescheids (Anm.: Ziffer I. des Bescheids vom 5.10.2021) ein selbstständiges Verwaltungsverfahren sei, für das die allgemeinen Grundsätze gelten würden. Die Vorschrift des Art. 49 Abs. 1 BayVwVfG sei damit anwendbar. Ferner könne der vom Klägerbevollmächtigten vorgenommenen Auslegung der beklagtenseitigen Zusicherung vom 18. August 2021 nicht gefolgt werden. Es sei langjährige Praxis der Beklagten, zur Straffung der Verfahren entsprechende Erklärungen gegenüber dem Gericht abzugeben. Die Beklagte und mutmaßlich auch das Gericht seien bisher stets davon ausgegangen, dass nach der Erklärung von einer Vollstreckung der Abschiebung bis zum angegebenen Zeitpunkt abgesehen werde. Zur Klarstellung werde die für das Verfahren Au 1 K 21.1630 ausgesprochene Zusicherung dahingehend konkretisiert, dass die Beklagte den Kläger bis zur erstinstanzlichen Entscheidung in der Hauptsache des Verfahrens Au 1 K 21.1630 sowie der Verfahren Au 1 S 21.2072 und Au 1 K 21.2088 nicht abschiebe.
62
Zur Bitte des Gerichts in der Terminsladung, Nachweise über die Zeiträume der bisherigen Haftaufenthalte des Klägers vorzulegen und zum Termin mitzubringen, führte die Klägerseite mit Schriftsatz vom 26. Oktober 2021 Folgendes aus:
63
Die Beklagte habe keine Auflistung der (konkreten) Haftzeiten des Klägers vorgelegt. Nach telefonischer Auskunft der Staatsanwaltschaft B. seien die tatsächlichen Haftzeiten dem Auszug aus dem Bundeszentralregister zu entnehmen. Der Vermerk „erledigt“ im Auszug aus dem Bundeszentralregister würde auf Endstrafe (vollständige Verbüßung der Strafe ohne Haftverschonung o.ä.) hinweisen, der Vermerk „entlassen“ auf vorzeitige Entlassung.
64
Ob der 10-jährige Schutz nach dem FreizügG/EU bereits eingetreten sei, könne der Klägerbevollmächtigte derzeit noch nicht abschließend mitteilen. Aus dem Bundeszentralregisterauszug könne aber allein durch bloße Addition festgestellt werden, dass der Kläger zumindest mehr als 5 Jahre ohne die Aufenthalte intra muros in der Bundesrepublik Deutschland aufhältig sei.
65
Hierauf teilte die Beklagtenseite mit Schriftsatz vom 4. November 2021 mit, dass (ihrer Ansicht nach) eine bloße Addition der Aufenthaltszeiten „in Freiheit“ nicht zum Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts nach § 4a FreizügG/EU führe. Hierfür müssten die Freizügigkeitsvoraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der RL 2004/38/EG während einer rechtmäßigen Aufenthaltszeit von mindestens fünf Jahren ununterbrochen vorgelegen haben. Dies bedeute einen zusammenhängenden Zeitraum von fünf Jahren.
66
Zeiträume einer im Aufnahmestaat verbüßten Freiheitsstrafe könnten nicht für die Zwecke des Erwerbs des Daueraufenthaltsrechts berücksichtigt werden.
67
Zudem komme es beim Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts allein darauf an, ob im erheblichen Zeitraum ein unionsrechtliches Freizügigkeitsrecht bestanden habe und nicht darauf, ob der Aufenthalt nach dem nationalen Verständnis rechtmäßig gewesen sei. Der Aufenthalt eines Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen müsse sich in den letzten fünf Jahren vor dem maßgeblichen Zeitpunkt als nach den Maßstäben des FreizügG/EU rechtmäßig erwiesen haben, d.h. insbesondere müssten die Voraussetzungen des § 2 FreizügG/EU vorgelegen haben. Der Kläger müsste demnach, sofern er sich tatsächlich fünf Jahre ununterbrochen in Freiheit (auch bei Strafaussetzung zur Bewährung) im Bundesgebiet aufgehalten habe, erwerbstätig gewesen sein oder nachweisen können, dass er über ausreichende Existenzmittel verfügt habe.
68
Die Beklagte gehe davon aus, dass der Kläger keine der vorgenannten Voraussetzungen erfüllt habe. Insbesondere lasse sich unter Zugrundelegung der Ausführungen des Klägerbevollmächtigten zum Bundeszentralregister (s.o.) ersehen, dass der Kläger selbst zu Beginn seines Aufenthalts ab dem Jahr 1997 nicht fünf Jahre ohne Unterbrechung „extra muros“ gewesen sei. Jedenfalls sei auch für die Frühphase seines Aufenthalts in Deutschland aus dem Versicherungsverlauf nicht ersichtlich, dass er die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 lit. b der RL 2004/38 EG erfüllt habe.
69
Mit Schriftsatz vom 15. November 2021 erwiderte der Klägerbevollmächtigte, mittlerweile einen vollständigen Auszug aus dem Bundeszentralregister erhalten zu haben. Der Kläger habe sich – ausgehend von der durch die Beklagte erteilten Bescheinigung über das Aufenthaltsrecht nach dem FreizügG/EU – bisher (ohne Berücksichtigung der Haftaufenthalte) insgesamt 295 Monate und 16 Tage in Deutschland aufgehalten. Die Haftdauer betrage davon 179 Monate und 27 Tage. Hieraus ergebe sich ein Zeitraum von 9 Jahren 7 Monaten und 9 Tagen ohne Haft. Ferner habe der Kläger mitgeteilt, dass seine tatsächliche Einreise nach Deutschland bereits im Frühjahr/Sommer 1996 (nicht erst am 10.4.1997) erfolgt sei. Eine Nachfrage bei der Deutschen Rentenversicherung habe ergeben, dass die Zeiten vom 1. Januar 2007 bis 17. April 2011, vom 22. Dezember 2011 bis 31. Januar 2012 sowie vom 26. November 2013 bis zum 31. Dezember 2017 ungeklärt, also ohne Versicherungsnachweis seien. Es sei nicht ausgeschlossen, dass § 6 Abs. 5 FreizügG/EU streitentscheidend sei.
70
Nach der EuGH-Rechtsprechung sei ein Zeitraum der Verbüßung einer Freiheitsstrafe durch den Betroffenen grundsätzlich geeignet, die Kontinuität des Aufenthalts im Sinne des Art. 28 Abs. 3 lit. a der RL 2004/38 zu unterbrechen. Ein solcher Zeitraum könne sich damit auf die Gewährung des dort vorgesehenen verstärkten Schutzes auswirken. Gleichwohl müsse die im Aufnahmemitgliedstaat zurückgelegte Aufenthaltszeit bei der umfassenden Beurteilung berücksichtigt werden, insbesondere ob mit dem Aufnahmemitgliedstaat vorher Integrationsverbindungen geknüpft worden seien.
71
Im Rahmen dieser Beurteilung sei gegebenenfalls auch relevant, dass der Betroffene in den letzten 10 Jahren vor seiner Inhaftierung seinen Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat gehabt habe.
72
Zur Frage des Integrationszusammenhangs wurde ferner ausgeführt, dass der Kläger keinen Bezug zu seinem Herkunftsland Italien mehr habe. Er sei mit seiner Mutter und seinen Geschwistern 1996 nach Deutschland gekommen und habe hier seinen ausschließlichen Lebensmittelpunkt gewählt. Der Kläger habe mit seiner Ursprungsfamilie zunächst Wohnung in B. bezogen und sei ohne Unterbrechung in Deutschland verblieben. Sämtliche Familienmitglieder würden derzeit weiterhin in B. leben, davon fünf Geschwister. Nur die Mutter halte sich aus gesundheitlichen Gründen derzeit in Italien auf. Sämtliche Geschwister seien vollschichtig berufstätig und in das Leben in B. eingegliedert.
Seit 2011 sei der Kläger mit seiner aktuellen Lebensgefährtin in F... ansässig. Sie hätten dort eine Wohnung bezogen und würden derzeit mit Y... sowie dem aus der ersten Ehe der aktuellen Lebensgefährtin stammenden 18-jährigen Sohn in einem Haus leben, in welchem auch die Familie der aktuellen Lebensgefährtin beheimatet sei. Der 18-jährige Sohn der aktuellen Lebensgefährtin habe im Sommer letzten Jahres die Realschule mit Mittlerer Reife abgeschlossen, die Tochter Y... sei in F... in der Grundschule eingeschult.
73
Nach dem Vorbringen der aktuellen Lebensgefährtin des Klägers erfolge eine umfangreiche Teilnahme der Familien des Klägers/der aktuellen Lebensgefährtin am gesellschaftlichen Leben in F.... Y... sei Mitglied in einer italienischen Tanzgruppe. Die von dieser aufgeführten Veranstaltungen würden regelmäßig von der gesamten Familie besucht. Die Familie nehme ferner an den üblichen Sommerfesten, welche von der Schule, der Hausgemeinschaft und dem Betrieb veranstaltet würden, teil. Ebenso würden häufige Kirchgänge erfolgen, welche mit weiteren Treffen verbunden seien. Auch die regelmäßigen Weihnachtsfeiern in der Kirche fänden in Anwesenheit und unter Mitwirkung der Familie des Klägers/seiner aktuellen Lebensgefährtin statt. Der jährliche gemeinsame Martinsumzug sei Tradition. Zudem fänden Ausflüge in die nähere Umgebung mit Freunden aus dem Betrieb und der Hausgemeinschaft statt. Mit Y... würden mehrmals jährlich Ausflüge in den ... Zoo unternommen, ebenso Fahrrad- und Wanderausflüge. Ebenso würden Ausflüge mit den Kindern ins Schwimmbad sowie Ausgänge zum Abendessen mit Spaziergängen in der Stadt davor und danach erfolgen. Mit dem Sohn der aktuellen Lebensgefährtin gehe der Kläger regelmäßig auf den Fußballplatz. Eine besonders enge Verbindung des Klägers zur örtlichen und überörtlichen Gesellschaft sei durch dessen Tätigkeit bei der Firma gegeben, in welcher er sich als Lagermitarbeiter sehr hoher Beliebtheit und hoher Anerkennung erfreut habe. Die aktuelle Lebensgefährtin des Klägers werde immer wieder arbeitgeberseitig gefragt, wann der Kläger zurückkomme, da man ihn wieder und dieses Mal fest vollschichtig einsetzen wolle.
74
Am 26. November 2021 fand in der Sache mündliche Verhandlung statt, in welcher die aktuelle Lebensgefährtin des Klägers uneidlich als Zeugin einvernommen wurde. Auf das dabei gefertigte Protokoll wird zur Ergänzung des Sachverhalts ebenso Bezug genommen wie auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der von der Beklagten vorgelegten Behördenakte.
Entscheidungsgründe
75
Die zulässige Klage hat in der Sache nur zu einem geringen Teil Erfolg.
76
1. Gegenstand der Klage ist der mit Bescheid vom 26. Juli 2021 festgestellte Verlust des Freizügigkeitsrechts des Klägers (Ziffer 1). Daneben wendet sich der Kläger auch gegen die Ausreiseaufforderung und die Abschiebungsandrohung/Abschiebungsanordnung (Ziffern 2 und 3 des Bescheids vom 26.7.2021 in Verbindung mit Ziffer II. des Bescheids vom 5.10.2021). Ebenso richtet sich die Klage gegen das in Ziffer 4 des Bescheids vom 26. Juli 2021 angeordnete und auf fünf Jahre befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot.
77
2. Die zulässige Klage ist nur hinsichtlich der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots begründet. Insoweit besteht gegenüber der Beklagten ein Anspruch auf Verkürzung der Frist für das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf drei Jahre (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
78
Im Übrigen ist der angefochtene Bescheid rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
79
a) Die Voraussetzungen für die von der Beklagten gemäß § 6 Abs. 1 bis 3 FreizügG/EU verfügte Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt sind beim Kläger erfüllt.
80
aa) Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Verlustfeststellung freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (BVerwG, U.v. 3.8.2004 – 1 C 30/02 – BVerwGE 121, 297 – Leitsatz 2).
81
bb) Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU kann der Verlust des Rechts eines Unionsbürgers auf Einreise und Aufenthalt nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU unbeschadet des § 2 Abs. 7 und des § 5 Abs. 4 FreizügG/EU nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit festgestellt werden. Gemäß § 6 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU genügt die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung für sich alleine nicht, um die Verlustfeststellung zu begründen. Es dürfen nach § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU nur im Bundeszentralregister nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zugrundeliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Es muss gemäß § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Bei der Entscheidung über die Verlustfeststellung sind nach § 6 Abs. 3 FreizügG/EU insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen.
82
cc) Eine vom Kläger ausgehende gegenwärtige tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, liegt nach Überzeugung der Kammer vor. Der Kläger ist in Deutschland in den Jahren 1998 bis 2021 bisher insgesamt dreizehn Mal strafgerichtlich verurteilt worden, den Verurteilungen liegen oftmals schwerwiegende Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz bzw. Delikte gegen das Eigentum oder Vermögen anderer Personen zu Grunde. Zuletzt wurde er mit Berufungsurteil des Landgerichts wegen Beihilfe zum versuchten Betrug B. zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 8 Monaten ohne Bewährung verurteilt.
83
Auch für die Zukunft ist aus nachstehenden Gründen von einer erheblichen Gefahr der Begehung weiterer, erheblicher Straftaten durch den Kläger auszugehen:
84
(1) Zunächst ist zu sehen, dass der Kläger in den vorgenannten Deliktsbereichen (Betäubungsmitteldelikte sowie Delikte gegen Eigentum oder Vermögen anderer Personen) seit seiner Einreise fortlaufend Straftaten begangen hat. Daher ist er als mehrfacher Wiederholungstäter in Bezug auf die vorgenannten Deliktsbereiche anzusehen.
85
Elfmal verhängte das Strafgericht sogar Freiheitsstrafen. Eine der Freiheitsstrafen wurde im Jahr 1998 zur Bewährung ausgesetzt, welche der Kläger nicht zu einer Abkehr vom strafrechtlich relevanten Verhalten genutzt hat. In zehn Fällen erfolgten Freiheitsstrafen ohne Aussetzung zur Bewährung. Sämtliche der vor der aktuellen Inhaftierung verbüßten Freiheitsstrafen konnten den Kläger nicht dazu bewegen, ein straffreies Leben zu führen. Gerade in Bezug auf die vom Kläger begangenen Vermögens- bzw. Eigentumsdelikte ist aus Sicht des Gerichts mittlerweile auch eine nicht unerhebliche Steigerung der kriminellen Energie erkennbar, und damit keinesfalls eine Abkehr des Klägers vom strafrechtlich relevanten Verhalten. So liegt der zuletzt gegebenen Verurteilung, aufgrund derer der Kläger derzeit inhaftiert ist, eine Beteiligung am Trickbetrug „Falscher Polizeibeamter“ zugrunde. Bei Vollendung dieses Trickbetrugs, zu dem der Kläger – wie auf Seite 25 des diesbezüglichen Berufungsurteils des Landgerichts B. ausgeführt wird – einen erheblichen Gehilfenbeitrag leistete, wäre ein erheblicher Vermögensschaden (30.000 EUR) entstanden.
86
Die zahlreichen Verstöße gegen strafrechtliche Vorschriften, die überwiegend in Zusammenhang mit der Drogenabhängigkeit des Klägers stehen und insbesondere die zuletzt abgeurteilte Straftat – die Beihilfe zum versuchten Betrug – begründen (weiterhin) eine vom Kläger ausgehende gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Auch die vom Kläger verwirklichten Eigentums- und Vermögensdelikte sind dabei in erster Linie als drogenabhängigkeitsbedingte Beschaffungskriminalität aufzufassen.
87
Den Kläger konnten bisher weder die wohl seit dem Jahr 2011 bestehende Beziehung zu seiner aktuellen Lebensgefährtin, der Umgang mit seiner Tochter Y... noch das von Anfang 2019 bis Anfang 2020 bestandene Vollzeitarbeitsverhältnis von der Begehung weiterer Straftaten abhalten. Insoweit wird auf die – auch aus Sicht der Kammer zutreffenden – Ausführungen des Landgerichts B. betreffend die Verurteilung des Klägers wegen Beihilfe zum versuchten Betrug Bezug genommen (vgl. Seite 31 des landgerichtlichen Urteils).
88
So befand sich der Kläger seit der Geburt seiner Tochter Y... bereits mehrere Jahre in Haft. Nach übereinstimmenden Angaben des Klägers und der in der mündlichen Verhandlung uneidlich einvernommenen Zeugin ... hat der Kläger zwischen 2013 und 2018 in einem Zeitraum von fünf Jahren Freiheitsstrafen verbüßt.
89
Ebenso nicht zur Warnung gereichen ließ er sich zwei ausländerrechtliche Verwarnungen, durch welche für den Fall weiterer Straffälligkeit aufenthaltsbeendende Maßnahmen angekündigt wurden. Zwei Unterbringungen in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) sowie verschiedene weitere Bemühungen gegen seine Betäubungsmittelabhängigkeit konnten bisher genauso wenig bewirken, dass der Kläger auf Dauer ein betäubungsmittel- und damit einhergehend straffreies Leben führt. Es gibt auch zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung keinerlei neuen Anhaltspunkte dafür, dass etwa die familiären Beziehungen – anders als in der Vergangenheit – eine hinreichende Gewähr für eine derartige Lebensweise bieten.
90
(2) Vor allem aufgrund der weiter nicht erfolgreich therapierten bereits jahrzehntelang bestehenden Betäubungsmittelabhängigkeit des Klägers sieht das Gericht vielmehr die erhebliche Gefahr weiterer Straftaten, insbesondere im Bereich der bisherigen Delikte. Verstärkt wird diese negative Prognose dadurch, dass auch die zuletzt vom Kläger begangene Straftat – die Beihilfe zum versuchten Betrug – nur etwas mehr als ein Jahr nach der Haftentlassung in anderer Angelegenheit und während der laufenden Führungsaufsicht erfolgt ist.
91
Gerade bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen, kann von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat (ständige Rechtsprechung, vgl. BayVGH, B.v. 6.6.2019 – 10 C 19.1081 – juris Rn. 7; B.v. 7.3.2019 – 10 ZB 18.2272 – juris Rn. 7). Denn solange sich der Ausländer nicht außerhalb des Straf- bzw. Maßregelvollzugs bewährt hat, kann nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würde (BayVGH, B.v. 13.10.2017 – 10 ZB 17.1469 – juris Rn. 12; B.v. 18.4.2019 – 10 ZB 18.2660 – juris Rn. 4). Vor diesem Hintergrund ist insbesondere auch insoweit kein Wegfall der Wiederholungsgefahr erkennbar.
92
Zwar steht beim Kläger wohl für den Zeitraum ab dem 29. November 2021 die Aufnahme einer weiteren (wohl sechsmonatigen) stationären Therapie in Aussicht. Diesbezüglich ließ der Kläger sowohl einen Nachweis über die Zurückstellung der Strafvollstreckung hinsichtlich der Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 8 Monaten wegen Beihilfe zum versuchten Betrug vorlegen, als auch das Schreiben der Therapieeinrichtung, mit welchem diese dem Kläger die Aufnahme (unter Voraussetzung u.a. der Genehmigung der Justiz) zugesagt hat.
93
Allerdings kann das Gericht zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt keinerlei (positive) Prognose hinsichtlich des Verlaufs bzw. etwaigen Erfolgs einer noch nicht angetretenen zukünftigen Therapie treffen. Dies gilt erst recht im Hinblick auf die bisher mehrfach erfolglosen Therapieversuche einschließlich zweier ebenfalls erfolglos gebliebener Unterbringungen des Klägers aufgrund seiner Betäubungsmittelabhängigkeit (s.o.). Es sind auch nach Durchführung der mündlichen Verhandlung keine neuen Anhaltspunkte erkennbar, warum gerade diese Therapie mit hoher Wahrscheinlichkeit erfolgversprechend sein soll. Die aus den vorgelegten Unterlagen durchaus ersichtliche Bereitschaft des Klägers zu einer erneuten stationären Drogentherapie sowie eine etwaige Therapiemotivation sind ebenfalls keinesfalls wertungsmäßig mit dem erfolgreichen Therapieabschluss gleichzusetzen.
94
Aufgrund des maßgeblichen Beurteilungszeitpunktes – Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung – kann für die gerichtliche Entscheidung ohnehin keine Berücksichtigung finden, ob und inwieweit eine nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung beginnende bzw. stattfindende Therapie beim Kläger Erfolg zeigt.
95
Ergänzend wird angemerkt, dass die seitens des Gerichts bestehenden Bedenken hinsichtlich eines erfolgreichen Therapieabschlusses durch einen in der Behördenakte befindlichen und an das Amtsgericht B. adressierten Schriftsatz des Klägerbevollmächtigten vom 2. Februar 2020 bestätigt werden. Nach den Ausführungen auf Seite 3 des Schriftsatzes ist der Kläger dauerhaft und unheilbar drogenabhängig. Damit geht selbst der Klägerbevollmächtigte davon aus, dass keine positive Prognose hinsichtlich eines drogenfreien Lebens des Klägers besteht. Ein betäubungsmittelfreies Leben des Klägers wird jedoch seitens des Gerichts vorliegend als Grundlage für ein straffreies Leben gesehen, schließlich besteht aus Sicht des Gerichts ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Betäubungsmittelabhängigkeit des Klägers und den von diesem begangenen Straftaten.
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Ferner ist zu sehen, dass der Kläger im Jahr 2018 selbst während eines seiner früheren Haftaufenthalte in Folge seiner Betäubungsmittelabhängigkeit straffällig wurde, was eine Verurteilung zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zur Folge hatte. Dies spricht wohl für einen beim Kläger bestehenden hohen Suchtdruck.
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Demgegenüber ist zwar zu berücksichtigen, dass der auf den 1. Juli 2021 datierte Haftführungsbericht hinsichtlich des zuletzt gegebenen Strafvollzugs dem Kläger eine beanstandungsfreie Führung in der JVA bescheinigt. Dennoch kann aufgrund dieser Stellungnahme nicht vom Entfall einer auf ein Leben in Freiheit bezogenen Wiederholungsgefahr ausgegangen werden. Schließlich ist auf Seite 2 des Haftführungsberichts vermerkt, dass ohne eine stationäre Therapie ein suchtmittelfreies und damit straffreies Leben des Klägers nicht wahrscheinlich sei.
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Bisher wurde jedoch eine derartige Therapie vom Kläger nicht erfolgreich absolviert.
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dd) Die oben skizzierte hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger erneut erhebliche Straftaten im Bereich der Betäubungsmittelsowie der Beschaffungskriminalität begehen wird, begründet eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit bzw. Ordnung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.
100
Der Gesetzgeber stuft einige der zahlreichen vom Kläger in der Vergangenheit aufgrund seiner Betäubungsmittelabhängigkeit begangenen Taten (unerlaubter Besitz von Betäubungsmitteln bzw. unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge) als Verbrechen mit einer Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr ein; der Kläger wurde insoweit auch bereits zu höheren Freiheitsstrafen verurteilt.
101
Angesichts der verheerenden Auswirkungen, die illegale Betäubungsmittel für Leben und Gesundheit der Bevölkerung haben, ist eine konsequente Vorgehensweise der Behörden gegen Personen, die diese Substanzen verbreiten, gerechtfertigt; daher wiegt das durch solche Straftaten begründete Interesse an der Aufenthaltsbeendigung schwer. Auch Art. 83 Abs. 1 AEUV zählt den illegalen Drogenhandel zur besonders schwerwiegenden Kriminalität (vgl. hierzu OVG Bremen, U.v. 30.9.2020 – 2 LC 166/20, BeckRS 2020, 25877 Rn. 47 mit Verweis auf die ständige Rechtsprechung des EuGH).
102
Dieselbe Betrachtung ist aus Sicht des Gerichts für alle Arten der Tatbegehung geboten, welche die eigennützige, auf den Umsatz von Betäubungsmitteln gerichtete Tätigkeit zum Gegenstand haben (vgl. Becker, in: BeckOK BtMG, 12. Edition, Stand 15.6.2021, Rn. 56 zu § 29 BtMG). Auch durch derartige Betäubungsmitteldelikte ist das grundrechtlich hochrangige Rechtsgut der öffentlichen Gesundheit in erheblicher Weise betroffen (vgl. Art. 2 Abs. 2 GG).
103
Hinzu kommt vorliegend eine nicht unerhebliche Tatbeteiligung des Klägers am Trickbetrug „Falscher Polizeibeamter“, welche eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten zur Folge hatte. Gerade derartige Formen des Betrugs können zu hohen Vermögensverlusten und damit gravierenden wirtschaftlichen Schäden bei den Betrugsopfern führen, im Einzelfall auch zum Verlust der kompletten Ersparnisse. Dass der Betrug im Versuchsstadium stecken blieb, ist nicht zu Gunsten des Klägers zu werten. Vielmehr hatte sich die Geschädigte rechtzeitig an die Polizei gewandt, so dass der Kläger bei der vermeintlichen Geldübergabe gefasst werden konnte.
104
ee) Vorliegend wird zu Gunsten des Klägers davon ausgegangen, dass dieser den nach dem Erwerb des Daueraufenthaltsrechts (§ 4a FreizügG/EU) eintretenden erhöhten Schutz nach § 6 Abs. 4 FreizügG/EU für sich beanspruchen kann. Dabei kann – entgegen der Rechtsansicht des Klägerbevollmächtigten – offen bleiben, auf welchen Zeitpunkt sich diese den Kläger rechtlich begünstigende Annahme eines ununterbrochenen haftfreien Zeitraums von fünf Jahren in Deutschland bezieht.
105
Aufgrund der sehr zahlreichen Haftaufenthalte des Klägers in der späteren Zeit seines Aufenthalts in Deutschland käme ein etwaiger Erwerb des Daueraufenthaltsrechts wohl allenfalls für die Frühphase seines Aufenthalts in Deutschland in Betracht. In diesem Zusammenhang ist insbesondere rechtlich unerheblich, ob der Kläger im Jahr 1997 oder aber – wie vom Klägerbevollmächtigten ohne Vorlage von Nachweisen vorgetragen – im Jahr 1996 nach Deutschland eingereist ist.
106
Da das Gericht ohnehin zu Gunsten des Klägers den erhöhten Schutz des § 6 Abs. 4 FreizügG/EU annimmt, kann dahinstehen, ob – wie vom Klägerbevollmächtigten vertreten – auch im Zeitraum vom 6. November 2007 bis zum 4. Januar 2013 ein Daueraufenthaltsrecht entstanden ist.
107
Gemäß § 6 Abs. 4 FreizügG/EU darf somit eine Feststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU nur aus schwerwiegenden Gründen getroffen werden. Hierbei wird an das geschützte Rechtsgut angeknüpft, so dass gesteigerte Anforderungen an das berührte Grundinteresse der Gesellschaft zu stellen sind. Ausreichend ist insoweit eine konkrete Wiederholungsgefahr. Dies ist insbesondere bei drohender Wiederholung von Verbrechen und besonders schwerer Vergehen anzunehmen (vgl. BayVGH, U.v. 29.1.2019 – 10 B 18.1094 – BeckRS 2019, 3409 Rn. 32; Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, Rn. 51 zu § 6 FreizügG/EU; Hailbronner, in: Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, 121. Aktualisierung, August 2021, Rn. 102 zu § 6 FreizügG/EU). Eines (gegebenenfalls schematischen) Abstellens auf eine bestimmte, im konkreten Fall verhängte Mindestfreiheitsstrafe bedarf es aus Sicht des Gerichts jedoch nicht, da der einzelfallbezogenen Beurteilung eine wesentliche Bedeutung zukommt.
108
Im konkreten Fall ist jedenfalls in der Gesamtschau vom Vorliegen schwerwiegender Gründe auszugehen. Bei den vom Kläger in der Vergangenheit begangenen Straftaten – insbesondere auch den gravierenden Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz – handelt es sich oftmals um Verbrechen (s.o.) bzw. schwerwiegende Vergehen. Bei Straftaten im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität drohen im besonderen Maße negative Folgen für die Gesellschaft und die öffentliche Ordnung. Deshalb ist in einem solchen Fall davon auszugehen, dass die Grundinteressen der Gesellschaft besonders berührt sind (VG Augsburg, U.v. 14.11.2017 – Au 1 K 17.249 – BeckRS 2017, 134688 Rn. 29); dies gilt insbesondere im Falle der mehrfachen Verwirklichung der Tatmodalität des Handeltreibens und der Verurteilung des Betroffenen zu mehrjährigen Freiheitsstrafen wegen (vor allem) betäubungsmittelrechtlicher Verstöße. Diesbezüglich wird auf die Verurteilungen durch das Amtsgericht B. vom 16. Dezember 2003 (2 Jahre 10 Monate Freiheitsstrafe) und vom 8. Mai 2007 (3 Jahre Freiheitsstrafe) hingewiesen.
109
Hinsichtlich der zuletzt gegebenen Beihilfe des Klägers zum versuchten Betrug ist ebenfalls die Annahme schwerwiegender Gründe geboten. Bei dem Trickbetrug „Falscher Polizeibeamter“ können – wie bereits oben dargelegt – die Opfer um große Teile ihres Vermögens bzw. sogar um ihre gesamten Ersparnisse gebracht werden. Somit ist aufgrund des besonders hohen wirtschaftlichen Schadenspotenzials dieser Betrugsart (in Verbindung mit dem erheblichen Gehilfenbeitrag des Klägers) auch hier vom Vorliegen schwerwiegender Gründe auszugehen.
110
Die Grundinteressen der Gesellschaft sind hier außerdem aufgrund der Vielzahl und Regelmäßigkeit der Straftaten in besonderem Maße betroffen, weil an deren konsequenter Bekämpfung ein besonderes gesellschaftliches Interesse besteht (vgl. VG Augsburg, U.v. 14.11.2017 – Au 1 K 17.249 – BeckRS 2017, 134688 Rn. 29).
111
Eine vom Kläger ausgehende Wiederholungsgefahr (auch) hinsichtlich künftiger Verbrechen bzw. besonders schwerer Vergehen ist aus Sicht des Gerichts derzeit gegeben.
112
Die teilweise in der Literatur vertretene Auffassung, wonach schwerwiegende Gründe der öffentlichen Ordnung bzw. öffentlichen Sicherheit nur unter der einschränkenden Voraussetzung, dass der Betroffene wegen eines einzelnen Delikts zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt wurde (vgl. Gerstner-Heck, in: BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, 9. Edition, Stand 15.10.2021, Rn. 12 zu § 6 FreizügG/EU), anzunehmen seien, würde im Übrigen zu keiner anderen Betrachtung führen. Vorliegend wurde der Kläger jedenfalls wegen Delikten aus demselben Deliktsbereich (Betäubungsmittel- und Beschaffungskriminalität) mit Urteil des Amtsgerichts B. vom 8. Mai 2007 rechtskräftig zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt.
113
ff) Demgegenüber kann der Kläger den besonderen Schutz des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU nicht für sich beanspruchen.
114
Nach § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU darf eine Feststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG bei Unionsbürgern, die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren vor der Verlustfeststellung im Bundesgebiet hatten, nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit getroffen werden.
115
Der Anwendung des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU steht nicht der Umstand entgegen, wonach nach der neuesten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für das Erlangen dieser Schutzstufe erforderlich ist, dass der Betroffene – hier der Kläger – ein Daueraufenthaltsrecht erworben hat (EuGH, U.v. 17.4.2018 – C-316/16, C-424/16 – NVwZ 2019, 47 (48, Rn. 49), so auch VG München, B.v. 11.3.2021 – M 10 K 19.1889 – BeckRS 2021, 22092 Rn. 34). Dies wird von der vorgenannten Rechtsprechung mit der Begründung, dass es sich insoweit um ein gestuftes System des Schutzes vor Verlustfeststellung handle, angenommen.
116
Vielmehr geht das Gericht – zu Gunsten des Klägers – davon aus, dass dieser während seines seit 1996 bzw. 1997 dauernden Aufenthalts in Deutschland ein derartiges Daueraufenthaltsrecht erworben hat (s.o.).
117
Allerdings führen im Rahmen des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU Zeiten von Strafhaft regelmäßig zur Unterbrechung des für die Anwendung der Norm maßgeblichen Zehnjahres-Zeitraums und damit des Integrationszusammenhangs. Dennoch ist für die Zwecke der Feststellung, ob eine Haftstrafe zu einem Abreißen des zuvor geknüpften Bandes der Integration zum Aufnahmemitgliedstaat geführt hat, gleichwohl eine umfassende Beurteilung der Situation des Betroffenen zu dem genauen Zeitpunkt vorzunehmen, zu dem sich die Frage der Verlustfeststellung stellt. Im Rahmen dieser umfassenden Beurteilung sind die Zeiträume der Verbüßung einer Haftstrafe zusammen mit allen anderen Anhaltspunkten zu berücksichtigen, die die Gesamtheit der im Einzelfall relevanten Gesichtspunkte ausmachen, wozu gegebenenfalls der Umstand zählt, dass der Betroffene in den letzten zehn Jahren vor seiner Inhaftierung seinen Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat hatte (vgl. EuGH, aaO., NVwZ 2019, 47 (51, Rn. 83); dem folgend: BayVGH, B.v. 22.6.2021 – 19 ZB 18.104 – BeckRS 2021, 16301 Rn. 13). Zusammenfassend ist somit nach neuester Rechtsprechung im Einzelfall zu prüfen, ob die Integrationsbande, die ihn mit dem Aufnahmemitgliedstaat verbinden, trotz der Haftverbüßung (ausnahmsweise) nicht abgerissen sind.
118
Zu diesen Gesichtspunkten gehören insbesondere die Stärke der vor der Inhaftierung des Betroffenen zum Aufnahmemitgliedstaat geknüpften Integrationsbande, die Art der die verhängte Haft begründenden Straftat und die Umstände ihrer Begehung sowie das Verhalten des Betroffenen während des Vollzugs (EuGH, aaO., NVwZ 2019, 47 (51, Rn. 83), dem folgend: BayVGH, B.v. 22.6.2021 a.a.O.).
119
Vorliegend ist nach einer Gesamtabwägung davon auszugehen, dass der Integrationszusammenhang beim Kläger durch die zahlreichen Haftaufenthalte in Deutschland abgerissen ist. Dabei ist zu sehen, dass sich der – bereits seit über 20 Jahren in Deutschland aufhältige – Kläger in den letzten 10 Jahren vor dem Ergehen der Verlustfeststellung nicht wegen einer singulären strafrechtlichen Verfehlung einmalig in Strafhaft bzw. zu Therapiezwecken im Maßregelvollzug des Bezirkskrankenhauses befunden hat, sondern wegen zahlreicher verschiedener Delikte mehrfach und über längere Zeiträume.
120
Dies ergibt sich – hinsichtlich der Aufenthalte des Klägers in der JVA – zum einen aus einer Betrachtung des vom Klägerbevollmächtigten dem Gericht vorgelegten aktuellen Bundeszentralregisterauszug des Klägers, zum anderen – hinsichtlich der Aufenthalte des Klägers im Bezirkskrankenhaus – auch aus den von der Beklagtenseite vorgelegten Unterlagen. Im maßgeblichen Zeitraum war der Kläger vom 22. Dezember 2011 bis 17. April 2012 stationär im Bezirkskrankenhaus F... untergebracht; der Zeitraum wurde von der Beklagten im Rahmen ihres Schriftsatzes vom 24. November 2021 nachvollziehbar dargelegt. Im Übrigen zeigt die Haftzeitübersicht der JVA E... vom 11. Februar 2014 (Blatt 544 der Behördenakte) in Verbindung mit der Mitteilung der JVA E... vom 18. August 2016 (Blatt 591 der Behördenakte), dass der Kläger dort vom 3. Januar 2014 bis zum18. August 2016 ununterbrochen verschiedene Freiheitsstrafen verbüßt hat. Die Mitteilung der JVA E... vom 18. August 2016 bestätigt weiter die am selben Tag erfolgte Entlassung des Klägers zur Unterbringung in eine Forensische Klinik. Diesbezüglich kann von einer gewissen Therapiedauer ausgegangen werden. Daher ist jedenfalls nicht anzunehmen, dass der Kläger bis zu seinem nächsten Haftaufenthalt in der JVA E... (12.9.2017 bis jedenfalls 10.9.2018, vgl. Bl. 593, 596, 645 der Behördenakte sowie Ziffer 10 des Bundeszentralregisterauszugs) einen längeren Zeitraum in Freiheit verbracht hat. Aufgrund von Ziffer 10 des Bundeszentralregisterauszugs spricht sogar vieles dafür, dass der Aufenthalt des Klägers in der Forensischen Klinik bis zum 1. September 2017 dauerte und damit keine relevante zeitliche Unterbrechung zwischen der Unterbringung und dem am 12. September 2017 angetretenen Haftaufenthalt des Klägers bestanden hat.
121
Vom 30. Januar 2020 bis zum 28. November 2021 befand sich der Kläger erneut in Haft (zunächst Untersuchungshaft, daraufhin Strafhaft) in der JVA B.-C... bzw. ab dem 19. Februar 2021 der JVA D..
122
Die insgesamt mehrjährigen Haft- bzw. Therapieaufenthalte des Klägers in den letzten zehn Jahren vor der Verlustfeststellung stellen bereits ein erhebliches Indiz für die Unterbrechung des Integrationszusammenhangs dar.
123
Aus Sicht des Gerichts spricht die vorgenannte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs vor allem Situationen an, in welchen der Betroffene im maßgeblichen Zehn-Jahres-Zeitraum lediglich eine Freiheitsstrafe verbüßt hat (vgl. EuGH, aaO., NVwZ 2019, 47 (48, Rn. 63), hierzu auch Gerstner-Heck, in BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, 9. Edition, Stand 15.10.2021, Rn. 16 zu § 6 FreizügG/EU). Eine solche Situation ist vorliegend ersichtlich nicht gegeben.
124
Zu keiner anderen Betrachtung führt die Aussage der Zeugin .... Diese trug zwar vor, dass der Kläger mit ihr, Y... sowie dem Sohn der Zeugin aus erster Ehe seit 2011 wie in einer Ehe zusammenleben würde. Dennoch erwähnte die Zeugin auch insoweit nachvollziehbar und glaubhaft, dass es Unterbrechungen im gemeinsamen Zusammenleben während der Haftaufenthalte des Klägers gegeben habe.
125
In diesem Zusammenhang wurde – übereinstimmend zwischen Zeugin und dem Kläger – bestätigt, dass die familiäre Gemeinschaft aufgrund der Haftaufenthalte des Klägers (nur) von 2010 bis 2013 und von 2018 bis 2020 bestanden habe.
126
Hieraus lässt sich erkennen, dass – trotz etwaiger ebenfalls vorgebrachter (Besuchs- bzw. telefonischer) Kontakte mit dem in der JVA befindlichen Kläger – keinesfalls von einer aufenthaltsrechtlich besonders schutzwürdigen dauerhaften Aufrechterhaltung der familiären Lebensgemeinschaft in den letzten 10 Jahren vor der Verlustfeststellung ausgegangen werden kann. Stattdessen ist insoweit eine erhebliche Zäsur gegeben. Dies gilt auch für die nach Angaben der Zeugin ebenfalls vom Kläger übernommenen weiteren Aufgaben im Haushalt (Kochen, Putzen, Kinderbetreuung).
127
Ebenso hat die Zeugin – im Einklang mit dem Schriftsatz des Klägerbevollmächtigten vom 15. November 2021 – zwar detailliert und insofern glaubhaft vorgetragen, dass in der Vergangenheit zahlreiche Freizeitunternehmungen mit Nachbarn und Freunden unter Beteiligung des Klägers erfolgt seien. Hierbei habe es sich etwa um Zooausflüge sowie um eine Mithilfe des Klägers beim ...fest gehandelt, ebenso um Feiern in der italienischen Gemeinde, Kinobesuche und Fußballspiele. Allerdings ist dieses Vorbringen (auch) vor dem Hintergrund zu sehen, dass der Kläger aufgrund seiner Haftaufenthalte nur in einem zeitlich sehr überschaubaren Zeitraum an den Aktivitäten teilnehmen bzw. daran mitwirken konnte.
128
Im Übrigen kann auch die Berufstätigkeit des Klägers nicht zur Annahme der Aufrechterhaltung des Integrationszusammenhangs führen. So enthält der Rentenversicherungsverlauf (Blatt 660 der Behördenakte) für die letzten 10 Jahre u.a. zahlreiche Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld II, ebenso eine – wohl haftbedingte – Unterbrechung im Zeitraum vom 26. November 2013 bis zum 9. September 2018. Beitragszeiten mit Pflichtbeiträgen sind nur für etwa (insgesamt) sieben Monate im Jahr 2011, etwa einen Monat im Jahr 2012, etwa (insgesamt) sechs Monate im Jahr 2013 sowie für einen circa einjährigen Zeitraum von Januar 2019 bis Januar 2020 verzeichnet. Nur hinsichtlich des letzteren Zeitraums handelt es sich um ein – zeitlich betrachtet – relevantes Vollzeit-Arbeitsverhältnis, hinsichtlich dessen die Firma ... mit Arbeitszeugnis vom 16. August 2021 erklärte, mit dem Kläger in allen Bereichen sehr zufrieden gewesen zu sein.
129
Zusammenfassend kann daher – bereits aufgrund der Haftaufenthalte des Klägers – insbesondere nicht die Rede davon sein, dass dieser in den letzten zehn Jahren vor dem Ergehen der Verlustfeststellung durchgehend gearbeitet habe.
130
Ferner kann trotz der Anmerkung im Arbeitszeugnis vom 16. August 2021, wonach der Kläger aufgrund der Zufriedenheit des Arbeitgebers mit ihm jederzeit wieder eingestellt werden würde, die Aufrechterhaltung des Integrationszusammenhangs nicht mit der Berufstätigkeit des Klägers begründet werden. Schließlich ist innerhalb der letzten zehn Jahre – soweit ersichtlich – kein Arbeitsverhältnis beim Kläger gegeben gewesen, das nach einer haftbedingten Unterbrechung beim selben Arbeitgeber wieder aufgenommen wurde. Mithin stellt die Anmerkung im Arbeitszeugnis der Firma ... allenfalls eine Absichtserklärung hinsichtlich einer beabsichtigten Wiedereinstellung des Klägers dar, dessen Arbeitsverhältnis mit Haftantritt am 30. Januar 2020 beendet wurde. Hierbei führen auch die im Schriftsatz vom 15. November 2021 vorgetragenen (aber nicht näher nachgewiesenen) Anfragen des Arbeitgebers, wann der Kläger wieder zum Arbeitgeber zurückkomme, zu keiner anderen Betrachtung als der vorgenannten.
131
Die im selben Schriftsatz des Klägerbevollmächtigten vorgetragenen Integrationsleistungen der Geschwister – also anderer Personen als dem Kläger selbst – können ebenfalls keine Aufrechterhaltung des Integrationszusammenhangs des Klägers begründen.
132
gg) Die Beklagte hat ihr Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt. Sie hat alle in § 6 Abs. 3 FreizügG/EU aufgeführten Belange in ihre Entscheidung einbezogen und vertretbar gewichtet (§ 114 Satz 2 VwGO).
Insbesondere hat sie zu Gunsten des Klägers seine familiäre Bindung zu seiner Tochter Y... angemessen gewürdigt. Zu Lasten des Klägers hat sie unter anderem seine zahlreichen Haftaufenthalte, die von ihm bisher begangenen zahlreichen Straftaten, das hohe Gewicht der letztlich zur Verlustfeststellung führenden Straftat, die von ihm (aufgrund seiner bisher nicht therapierten Drogenabhängigkeit) derzeit ausgehende hohe Wiederholungsgefahr, die nur geringe wirtschaftliche sowie sonstige Integration des Klägers in Deutschland sowie das Fehlen weiterer besonders schutzwürdiger familiärer Bindungen beanstandungsfrei berücksichtigt. Vor dem Hintergrund der fehlenden Integration des Klägers in das Arbeitsleben und die Rechtsordnung ist die Beklagte vertretbar davon ausgegangen, dass die über 20-jährige Aufenthaltsdauer des Klägers (allein) kein gewichtiger Belang im Rahmen der Ermessensentscheidung sei. Es ist insbesondere nicht davon auszugehen, dass die Beklagte die Aufenthaltsdauer des Klägers in ermessensfehlerhafter Weise bei ihrer Entscheidung außer Betracht gelassen hat.
133
Insgesamt ist die Beklagte ermessensfehlerfrei zu dem Ergebnis gekommen, dass dem Kläger ein Leben in Italien möglich und zumutbar sei. Es kann nicht beanstandet werden, dass die Beklagte den Belangen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung den Vorrang gegeben und die vom Kläger ausgehende Wiederholungsgefahr als derart schwerwiegend gewichtet hat, dass die persönlichen Belange des Klägers zurückzutreten haben.
134
hh) Schließlich ist die Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts des Klägers auch unter Berücksichtigung des Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht als unverhältnismäßig anzusehen.
135
(1) Der Kläger kann sich auf den Schutz des Familienlebens berufen, da er eine neunjährige Tochter (Y...) sowie eine Lebensgefährtin hat, zu welcher er trotz der Haftaufenthalte in einem gewissen Maß Kontakt hält.
136
Demgegenüber hatte der Kläger zu seiner anderen Tochter A... ... ... entsprechend der – unwidersprochen gebliebenen – Stellungnahme der Kindsmutter bisher nur wenige persönliche Kontakte, zuletzt kurz vor dem Antritt seiner Freiheitsstrafe. Derzeit (Anm.: Stand 7.6.2021) bestehe kein Kontakt des Klägers zu A... ... .... Von einer Veränderung ist auch bis zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht auszugehen. Vor diesem Hintergrund besteht in Bezug auf A... ... ... keine Vater-Kind-Beziehung, welcher im Rahmen des Art. 8 Abs. 1 EMRK ein erhebliches Gewicht zukommt.
137
Etwaige Bindungen des Klägers zu seinen in Deutschland lebenden Geschwistern unterliegen als familiäre Beziehungen zwischen Erwachsenen regelmäßig nicht dem Schutz des Familienlebens gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK. Hierzu wäre erforderlich, dass besondere zusätzliche Elemente der Abhängigkeit vorliegen, die über die gefühlsmäßigen Beziehungen hinausgingen (vgl. Hofmann, in BeckOK Ausländerrecht, 30. Edition, Stand 1.7.2021, Rn. 19 zu Art. 8 EMRK). Solche besonderen Umstände sind – ebenso wie ein persönlicher Kontakt des Klägers zu seinen Geschwistern – weder vorgetragen noch ersichtlich.
138
Der Kläger kann sich zudem auf den Schutz des Privatlebens berufen. Bestandteil des Privatlebens ist die Gesamtheit der sozialen Beziehungen zwischen ansässigen Zuwanderern und der Gesellschaft, in der sie leben. Diese Beziehungen sind für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv und von zentraler Bedeutung für die Entfaltung der Persönlichkeit. Bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts kommt ihnen wachsende Bedeutung zu (vgl. VG Augsburg, U.v. 14.11.2017 – Au 1 K 17.249 – BeckRS 2017, 134688 Rn. 35; Hofmann, in BeckOK Ausländerrecht, 30. Edition, Stand 1.7.2021, Rn. 21 zu Art. 8 EMRK). Der Kläger hält sich seit 1996 bzw. 1997 jedenfalls nahezu durchgehend in Deutschland auf. Damit hat der Kläger über 20 Jahre in Deutschland verbracht, so dass – trotz der zahlreichen Haftaufenthalte des Klägers – davon auszugehen ist, dass dieser rechtlich schutzwürdige soziale Beziehungen geknüpft hat, welche für ihn von wesentlicher Bedeutung sind.
Ebenso halten sich nach Angaben des Klägerbevollmächtigten – mit Ausnahme der Mutter des Klägers – sämtliche Familienmitglieder, davon fünf Geschwister des Klägers, weiterhin in Deutschland auf (s.o.).
139
(2) Liegt ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK vor, ist im Rahmen der nach Art. 8 Abs. 2 EMRK erforderlichen Abwägung eine umfassende Prüfung der konkreten Umstände des Einzelfalls erforderlich. Diese Prüfung führt im vorliegenden Fall zu dem Ergebnis, dass der Eingriff in das Recht auf Achtung des Familien- und Privatlebens gerechtfertigt im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK ist.
140
Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK darf eine Behörde in die Ausübung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Es ist damit zu beurteilen, ob die Verlustfeststellung in diesem Sinne notwendig war, d.h. ob sie durch ein dringendes soziales Bedürfnis begründet war und in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten legitimen Ziel stand. Der Prüfung zugrunde zu legen sind dabei im Wesentlichen die Art und Schwere der begangenen Straftat, die Aufenthaltsdauer, die seit der Tatbegehung verstrichene Zeitspanne und das Verhalten des Ausländers in dieser Zeit sowie die Festigkeit der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Herkunftsland (VG Augsburg, U.v. 14.11.2017 – Au 1 K 17.249 – BeckRS 2017, 134688 Rn. 36).
Nach diesen Grundsätzen ist hier zunächst zu berücksichtigen, dass dem Recht des Klägers auf Achtung seines Familien- und Privatlebens ein gewisses Gewicht beizumessen ist, da er bereits seit über 20 Jahren jedenfalls nahezu ununterbrochen (legal) in Deutschland aufhältig ist. Im Ergebnis ist in rechtlicher Hinsicht auch hierbei ohne Belang, ob die Einreise des Klägers nach Deutschland im Mai 1996 oder im April 1997 erfolgt ist. Ebenfalls nimmt das Gericht zu Gunsten des Klägers an, dass er sich in den Jahren 1998 bis 2000 jedenfalls teilweise in Deutschland aufgehalten hat.
141
Ferner ist zu sehen, dass der Kläger – außerhalb seiner zahlreichen Haftzeiten – seit dem Jahr 2011 mit seiner aktuellen Lebensgefährtin sowie deren mittlerweile volljährigem Sohn aus erster Ehe (jedenfalls meist) in einer Wohnung zusammenlebt, ebenso seit der Geburt von Y... im Jahr 2012 auch mit dieser. Damit verbunden ist eine gewisse familiäre Beziehung des Klägers zu den vorgenannten Personen. Für das jedenfalls ansatzweise Vorliegen einer Vater-KindBeziehung schon zum damaligen Zeitpunkt spricht auch die Stellungnahme des
... aus dem Jahr 2013; es ist davon auszugehen, dass es sich bei der dort erwähnten Tochter des Klägers um Y... handelt. Auch geht aus Blatt 575, 576 der Behördenakte hervor, dass die Lebensgefährtin des Klägers (und damit auch die gemeinsame Tochter Y...) bereits im Jahr 2014 unter der Wohnanschrift des Klägers gemeldet/aufhältig waren. Demgegenüber ist jedoch auf Blatt 540, 541 der Behördenakte für Ende 2013/Anfang 2014 eine (vorübergehende) Trennung des Klägers von seiner aktuellen Lebensgefährtin verzeichnet.
142
Im Ergebnis ist nach Durchführung der mündlichen Verhandlung – auch unter Berücksichtigung der von der Zeugin ... im Rahmen des Anhörungsverfahrens bei der Beklagten eingereichten Stellungnahme – erkennbar, dass die familiäre Beziehung jedenfalls in den Jahren ab 2014 nur in einem sehr stark eingeschränkten Maß gegeben war. Schließlich befand sich der Kläger von Januar 2014 bis August 2016 (über 2,5 Jahre) in Haft, danach – für einen dem Gericht nicht näher bekannten, wohl längeren, Zeitraum – zu Therapiezwecken in der Forensischen Klinik. Von Mitte September 2017 bis September 2018 befand sich der Kläger für ein Jahr erneut in Haft. Im Zeitraum ab dem 30. Januar 2020 ist ein weiterer Haftaufenthalt des Klägers von ca. 22 Monaten erkennbar. Aufgrund dieser seit Geburt von Y... bereits 65 Monate andauernden Haftaufenthalte des Klägers (zuzüglich der Aufenthalte zu Therapiezwecken) kann trotz einer – auch in den Haftzeiten des Klägers erfolgten – gewissen Fortsetzung des Kontakts zwischen dem Kläger und seiner Tochter nicht mehr von einer qualitativ besonders schutzwürdigen Vater-Kind-Beziehung ausgegangen werden.
143
Zu keiner anderen Betrachtung führt es, wenn der Kläger gerade auch in der jüngsten Zeit während seiner haftfreien Phasen eine häusliche Lebensgemeinschaft mit seiner aktuellen Lebensgefährtin und seiner Tochter Y... bildete.
144
Für das Vorliegen einer solchen häuslichen Lebensgemeinschaft sprechen etwa die Ausführungen auf Seite 3 des Berufungsurteils des Landgerichts B. aus dem Jahr 2020 (Verurteilung wegen Beihilfe zum versuchten Betrug); hieraus geht hervor, der Kläger habe mit seiner jüngeren Tochter (gemeint wohl: Y...), deren Mutter und deren 18-jährigem Sohn aus einer früheren Beziehung bis zu seiner Inhaftierung eine Lebensgemeinschaft gebildet. Gleiches gilt für die (sinngemäße) Einlassung des Klägers vor dem Amtsgericht B. – Schöffengericht – in der mündlichen Verhandlung vom 5. August 2020, wonach eine seiner Töchter (gemeint wohl Y...) außerhalb der Haftzeiten bei ihm lebe.
145
Diese Einlassungen bestätigen – nach der in der mündlichen Verhandlung durchgeführten Beweisaufnahme – allenfalls, dass der Kontakt des Klägers zu seiner Tochter trotz seiner mittlerweile zahlreichen Haftaufenthalte (weiterhin) nicht vollständig abgebrochen ist bzw. dass dieser in haftfreien Zeiten wieder vorübergehend intensiviert wurde.
146
Keinesfalls lässt sich dadurch die – auch in der mündlichen Verhandlung gewonnene – Annahme des Gerichts widerlegen, wonach die persönliche VaterKind-Beziehung über einen langen Zeitraum in erheblichem Maße eingeschränkt war und es auch derzeit ist. Unerheblich ist dabei, wenn die Zeugin bzw. deren Tochter Y... eine familiäre Lebensgemeinschaft auch während der Zeit einer Inhaftierung des Klägers subjektiv als (vollumfänglich) gewahrt ansehen sollte. Maßgeblich bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit einer Verlustfeststellung nach dem FreizügG/EU ist nämlich das objektive Bestehen einer schutzwürdigen familiären Lebensgemeinschaft bzw. Vater-Kind-Beziehung.
147
Zusammenfassend betrachtet waren umfangreiche persönliche Vater-KindKontakte des Klägers zu seiner Tochter Y... nur in wenigen – regelmäßig sehr kurzen – Zeiträumen realisierbar. Somit war eine intensive Vater-Kind-Beziehung, welche von einem umfangreichen persönlichen Umgang mit Y... geprägt war, über weite Zeiträume nicht möglich. Damit haben auch die vom Klägerbevollmächtigten (auf den Seiten 6 und 7 des Schriftsatzes vom 15.11.2021) vorgetragenen Aktivitäten im sportlichen, gesellschaftlichen, kirchlichen sowie nachbarschaftlichen Bereich in weiten Zeiträumen nicht unter Beteiligung des Klägers stattgefunden; sie können sich schon daher insoweit nicht in relevanter Weise zu Gunsten des Klägers auswirken.
148
An diesem Umstand ändert es nichts, dass die Zeugin – sowohl in ihrer Stellungnahme vom 31. Mai 2021 als auch in der mündlichen Verhandlung – vorträgt, trotz eines fehlenden (Mit-) Sorgerechts des Klägers mit diesem jedenfalls alle Erziehungsentscheidungen betreffend Y... gemeinsam zu treffen.
149
Zu keiner anderen Beurteilung als der Annahme einer fehlenden besonders schutzwürdigen Vater-Kind-Beziehung zwischen dem Kläger und Y... gelangt man im Übrigen ferner, soweit auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt zweimal im Monat ein jeweils maximal einstündiger persönlicher Kontakt des Klägers zu seiner Tochter stattfindet bzw. weitere telefonische bzw. briefliche Kontakte erfolgen. Im Einzelnen wird hierzu auf die Stellungnahme der Zeugin im Anhörungsverfahren vom 31. Mai 2021 sowie auf deren Aussage in der mündlichen Verhandlung Bezug genommen, ebenso auf die Ausführungen im Haftführungsbericht vom 1. Juli 2021.
150
Das vorgelegte kinderärztliche Attest vom 3. August 2021 sowie die Stellungnahme der Klasslehrerin von Y... treffen dagegen bereits keine Aussage zum – in den vergangenen Jahren gegebenen – Ausmaß derjenigen persönlichen Kontakte, welche nicht ohne Weiteres im bisherigen Umfang auch vom Heimatland des Klägers (Italien) aus fortgesetzt werden könnten.
151
In der Gesamtschau entspricht die vorliegende Sachlage jedenfalls auf Dauer keineswegs – auch wenn der Kläger über die Belange seiner Tochter selbst in seinen Haftzeiten umfassend informiert sein sollte – der Intensität einer üblichen Vater-Kind-Beziehung. Vor diesem Hintergrund hat sich die Tochter bereits über Jahre hinweg an die geringe Anzahl persönlicher Kontakte und die vom Kläger verursachte starke Beeinträchtigung der Vater-Kind-Beziehung gewöhnen müssen.
152
Des Weiteren ist in diesem Zusammenhang zu sehen, dass der Kläger auch nach der Geburt seiner Tochter Y... zahlreiche Straftaten beging, weswegen er mehrfach erhebliche Zeiträume in der JVA verbrachte. Im Einzelnen handelt es sich dabei – jedenfalls teilweise – um die Ziffer 8 des Bundeszentralregisterauszugs (Verurteilung zu 1 Jahr und 6 Monaten Freiheitsstrafe) sowie die Ziffern 9 bis 13 des Bundeszentralregisterauszugs (Verurteilungen zu 6 Monaten Freiheitsstrafe, zu 1 Jahr und 6 Monaten Freiheitsstrafe, zu 10 Monaten Freiheitsstrafe sowie zu 1 Jahr und 8 Monaten Freiheitsstrafe). Der Kläger nahm die familiäre Beziehung zu seiner Tochter damit – wohl aufgrund des erheblichen Ausmaßes seiner Betäubungsmittelabhängigkeit – nicht zum Anlass, ein betäubungsmittelfreies und damit straffreies Leben zu führen.
153
Zudem ist zu Lasten des Klägers zu berücksichtigen, dass diesem (wohl aufgrund seiner zahlreichen Haftaufenthalte) eine wirtschaftliche Integration im Bundesgebiet zu keinem Zeitpunkt nachhaltig gelungen ist. Eine konstante Erwerbsbiographie des Klägers in Deutschland ist nicht erkennbar. Er ist in den über 20 Jahren seines Aufenthalts in Deutschland bisher nur ein Jahr nachweislich ununterbrochen in Vollzeit berufstätig gewesen; bei den davor liegenden Beschäftigungsverhältnissen handelte es sich jeweils um deutlich kürzere Zeiträume. Das aktuelle – wohl zur Zufriedenheit des Klägers und des Arbeitgebers verlaufene – Beschäftigungsverhältnis wurde durch die Inhaftierung des Klägers Ende Januar 2020 beendet. Der Kläger nahm also auch diese berufliche Chance nicht zum Anlass, straffrei zu leben.
154
Die Absichtserklärung seines früheren Arbeitgebers, den Kläger weiter beschäftigen zu wollen, kann aus Sicht des Gerichts nicht einer rechtsverbindlichen Erklärung des Arbeitgebers hinsichtlich der Weiterbeschäftigung eines Arbeitnehmers gleichgestellt werden. Des Weiteren hat der Kläger, soweit ersichtlich, in Deutschland keine Ausbildung absolviert, ebenso keine berufliche Qualifikation erlangt. Ferner sind – außer eines gewissen Erwerbs der deutschen Sprache – keine sonstigen nachgewiesenen besonderen Integrationsleistungen des Klägers erkennbar.
155
Ebenfalls ist erheblich zu Lasten des Klägers zu werten, dass dieser bereits seit Jahrzehnten schwer betäubungsmittelabhängig ist und vor diesem Hintergrund in Deutschland zahlreiche Betäubungsmittel- und Eigentums- bzw. Vermögensdelikte begangen hat, zuletzt vor seiner aktuellen Inhaftierung im Januar 2020. Die vom Kläger fortwährend begangenen oftmals erheblichen Straftaten hatten zur Folge, dass sich der Kläger – wie aus dem Bundeszentralregister ersichtlich ist – einen Großteil seiner Zeit in Deutschland in Haft (bzw. im Maßregelvollzug) verbrachte.
156
Die Drogenabhängigkeit des Klägers konnte bisher durch zwei Unterbringungen nach § 64 StGB, ebenso durch zahlreiche weitere Bemühungen des Klägers nicht erfolgreich therapiert werden. Daher bestehen derzeit keine Anhaltspunkte dafür, dass die beim Kläger für den Zeitraum ab dem 29. November 2021 anstehende Therapie wesentlich mehr Aussicht auf Erfolg verspricht. Die ihm in der Vergangenheit eröffneten Chancen zu einem drogenfreien Leben vermochte der Kläger – wohl aufgrund des hohen Grades seiner Betäubungsmittelabhängigkeit – nicht zu ergreifen (s.o.). Da auch die zuletzt verübte Straftat des Klägers – eine erhebliche Tatbeteiligung an einem Trickbetrug – in allererster Linie vor dem Hintergrund seiner Betäubungsmittelabhängigkeit zu sehen ist, wäre ein nachhaltiger Therapieerfolg das entscheidende Kriterium, auf das sich die Prognose eines künftig straffreien Lebens stützen könnte.
157
Die Delikte, hinsichtlich derer das Gericht aktuell eine hohe vom Kläger ausgehende Wiederholungsgefahr sieht, stellen – wie bereits oben ausgenannt – (auch) Verbrechen bzw. schwerwiegende Vergehen dar.
158
Bei Abwägung der Gesamtumstände und insbesondere im Hinblick auf die vom Kläger ausgehende (Wiederholungs-)Gefahr ist ihm eine (vorübergehende) Rückkehr nach Italien zumutbar. Dort hat er die ersten über 20 Jahre seines Lebens verbracht. Dieser Zeitraum umfasste seine Kindheit und Jugendzeit einschließlich des Schulbesuchs, ebenso das frühe Erwachsenenalter wohl einschließlich einer Berufsausbildung. Es ist vor diesem Hintergrund davon auszugehen, dass er der italienischen Sprache mächtig ist und sich in die Lebensverhältnisse in Italien – gegebenenfalls nach anfänglichen hinzunehmenden Startschwierigkeiten – wieder einfügen kann. Im Übrigen lebt auch die Mutter des Klägers in Italien, so dass er – wohl trotz deren Erkrankung – zumindest am Anfang auf deren Unterstützung zurückgreifen kann.
159
Auch nach seiner vorübergehenden Rückkehr nach Italien kann der Kläger von seiner aktuellen Lebensgefährtin sowie seiner Tochter Y..., soweit dies von allen Beteiligten gewünscht ist, beispielsweise in den Schulferien der Tochter dort besucht werden. Damit ist aus Sicht des Gerichts nicht zu befürchten, dass die - aufgrund der zahlreichen und langwierigen Haftaufenthalte – bereits in einem erheblichen Maß beeinträchtigte Vater-Kind-Beziehung vollständig abreißt.
160
Telefonische Kontakte, briefliche Kontakte sowie Kontakte über moderne Kommunikationsmittel können dagegen auch nach einer Rückkehr des Klägers nach Italien fortgeführt werden.
161
b) Die von der Beklagten vorgenommene Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf fünf Jahre (Ziffer 4 des Bescheids vom 26. Juli 2021) ist dagegen rechtswidrig, da die festgesetzte Frist aus Sicht des Gerichts zu lang bemessen ist.
162
Grundlage der Befristungsentscheidung ist § 7 Abs. 2 Satz 5 FreizügG/EU. Hiernach ist das mit der Verlustfeststellung verbundene Einreise- und Aufenthaltsverbot von Amts wegen zu befristen. Die Vorschrift gewährt Unionsbürgern einen strikten Rechtsanspruch auf die Befristung (vgl. BVerwG, U.v. 25.3.2015 – 1 C 18/14 – juris Rn. 22). Nach § 7 Abs. 2 Satz 6 FreizügG/EU ist die Frist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles festzusetzen.
163
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist in einem ersten Schritt eine an dem Gewicht des Grundes für die Verlustfeststellung sowie dem mit der Maßnahme verfolgten spezialpräventiven Zweck orientierte äußerste Frist zu bestimmen. Hierzu bedarf es der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Verlustfeststellung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr mit Blick auf die im vorliegenden Fall bedeutsame Gefahrenschwelle des § 6 Abs. 1 FreizügG/EU zu tragen vermag (vgl. BVerwG, a.a.O. Rn. 27). Diese ermittelte Frist muss sich in einem zweiten Schritt an höherrangigem Recht, d.h. unionsrechtlichen Vorgaben (Art. 7 GRCh und Art. 8 EMRK) und verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) messen und gegebenenfalls relativieren lassen. Die Abwägung ist nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalles nach der Gewichtung der jeweiligen Belange vorzunehmen (vgl. BVerwG, a.a.O. Rn. 28). Das Bundesverwaltungsgericht geht nunmehr auch hinsichtlich der Dauer der Frist von einer gebundenen Verwaltungsentscheidung aus, die gerichtlich voll überprüfbar ist (vgl. BVerwG, a.a.O. Rn. 29).
164
Im Rahmen der Beurteilung der von der Beklagten getroffenen Befristungsentscheidung in Höhe von fünf Jahren ist nach Auffassung der Kammer zu berücksichtigen, dass zwar die Voraussetzungen für eine Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU vorliegen (s.o.). Die familiären Bindungen des Klägers in Deutschland – insbesondere die Beziehung zu seiner Tochter Y... – führen aufgrund ihrer derzeit relativ geringen Intensität nicht zu einer Unverhältnismäßigkeit der Verlustfeststellung.
165
Dennoch sollte dem Kläger die Möglichkeit gegeben sein, nach Ablauf eines überschaubaren Zeitraums nach Deutschland zurückzukehren, sich dann eine Existenzgrundlage durch legale Arbeit aufzubauen sowie die familiäre Beziehung (insbesondere) zu seiner Tochter Y... zu intensivieren und nachhaltig zu festigen. Hierfür hält das Gericht – anders als von der Beklagten vertreten – unter Berücksichtigung der Wertentscheidung des Art. 6 GG eine Sperrfrist von drei Jahren für angemessen. Maßgeblich war hierbei insbesondere das Alter des Kindes. Bei einer Sperrfrist von drei Jahren wird dem Kläger die Möglichkeit eingeräumt, zu einem Zeitpunkt in das Bundesgebiet zurückzukehren, in dem das Kind noch in besonderem Maße auf die Fürsorge seiner Eltern angewiesen ist und deren erzieherischem Einfluss unterliegt.
166
c) Die Ausreiseaufforderung (Ziffer 2 des Bescheids vom 26.7.2021 in Verbindung mit Ziffer II. des Bescheids vom 5.10.2021) sowie die Abschiebungsandrohung/Abschiebungsanordnung (Ziffer 3 des Bescheids vom 26.7.2021) erweisen sich dagegen als rechtmäßig.
167
aa) Rechtsgrundlage für die Festsetzung der (nunmehr) einmonatigen Ausreisefrist sowie für die Abschiebungsandrohung ist – wie von der Beklagten zutreffend gesehen – § 7 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1, Satz 3 FreizügG/EU.
168
Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU ist der Kläger zur Ausreise verpflichtet, weil die Ausländerbehörde den Verlust seines Freizügigkeitsrechts festgestellt hat. Die Ausreisefrist von einem Monat hält die Grenze des § 7 Abs. 1 Satz 3 FreizügG/EU ein. Umstände, die eine längere als die gesetzte Frist erforderlich machen, wurden vorliegend weder vorgetragen noch sind sie anderweitig für das Gericht ersichtlich. Insbesondere erscheint die Ausreisefrist auch vor dem Hintergrund des (sowohl zum Zeitpunkt des Erlasses des streitgegenständlichen Bescheids als auch zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung gegebenen) Haftaufenthalts des Klägers als angemessen.
169
Die Festsetzung der (nunmehr) einmonatigen Ausreisefrist ist – anders als von der Klägerseite vertreten – zutreffend auf Grundlage des FreizügG/EU, und nicht (allein) nach Art. 49 Abs. 1 BayVwVfG erfolgt. Insoweit wird auf die – auch aus Sicht des Gerichts zutreffenden – Ausführungen unter Ziffer II. der Gründe des Bescheids vom 5. Oktober 2021 ergänzend Bezug genommen (§ 117 Abs. 5 VwGO).
170
bb) Der mit Bescheid vom 5. Oktober 2021 erfolgten Verkürzung der Ausreisefrist steht auch nicht die Zusage der Beklagten vom 18. August 2021 entgegen, bis zur erstinstanzlichen Entscheidung des Verwaltungsgerichts in der Hauptsache keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen durchzuführen.
171
Zunächst spricht bereits nach dem Wortlaut „aufenthaltsbeendende Maßnahmen“ vieles dafür, dass die Zusage der Beklagten nicht jede in irgendeiner Weise im Zusammenhang mit einer etwaigen Abschiebung des Klägers stehende vorgelagerte Maßnahme ausschließt. Bei der Verkürzung der Ausreisefrist handelt es sich (nur) um eine bloße Vorfeldmaßnahme einer etwaigen Abschiebung, die wohl bereits nach der grammatikalischen Auslegung noch nicht von der Zusage erfasst ist. Schließlich sind bis zu einer etwaigen Abschiebung noch zahlreiche weitere behördliche Zwischenschritte erforderlich.
Wenn die Beklagte eine weitergehende Zusage hätte erteilen wollen, hätte sie diese – anders als geschehen – auch ausdrücklich auf Vorbereitungsmaßnahmen einer Abschiebung erstreckt bzw. erstrecken müssen. Dieser erweitert interpretierbare Begriff der Vorbereitungsmaßnahmen ist, wie sich aus § 60c Abs. 2 Nr. 5 Buchst. d AufenthG ergibt, dem Aufenthaltsrecht nicht fremd. Die Betrachtung des Wortlautes der beklagtenseitigen Zusage kann – anders als wohl vom Klägerbevollmächtigten vertreten – insbesondere nicht auf das Wort „Maßnahmen“ beschränkt werden, insoweit kann es bei einem Rückgriff auf Art. 35 Satz 1 BayVwVfG vorliegend nicht sein Bewenden haben. Zusammenfassend ergibt sich aus Sicht des Gerichts auch ohne die ausdrückliche Eingrenzung der beklagtenseitigen Zusage auf Vollstreckungsmaßnahmen, dass eine restriktive Auslegung derselben zu erfolgen hat, namentlich auf unmittelbare Abschiebungsmaßnahmen bzw. – allenfalls – eine durch die Ausländerbehörde erfolgende Buchung eines Rückführungsfluges.
172
Jedenfalls spricht aber der Kontext, in welchem die Zusage der Beklagten erfolgt ist, unmissverständlich gegen die von der Klägerseite vorgenommene extensive Auslegung der Erklärung. Die in den beiden Verfahren Au 1 K 21.1630 und Au 1 S 21.1631 ergangene Zusage soll einzig und allein verdeutlichen, dass der Kläger zum Zeitpunkt der erstinstanzlichen verwaltungsgerichtlichen Hauptsacheentscheidung über die Verlustfeststellung noch in Deutschland ist, also bis zu diesem Zeitpunkt keine Abschiebung nach Italien erfolgt ist. Dies gilt erst recht angesichts der teilweise inhaltlich widersprüchlichen Regelungen, welche im Bescheid über die Verlustfeststellung am 26. Juli 2021 getroffen wurden. Damit spricht auch eine am Sinn und Zweck der beklagtenseitigen Zusage erfolgende Auslegung dafür, dass die Zusage keine Selbstverpflichtung der Beklagten darstellt, jede auch nur ansatzweise eine etwaige Abschiebung des Klägers vorbereitende Maßnahme zu unterlassen.
173
Im Übrigen wurde die Zusage der Beklagtenseite vollumfänglich eingehalten, der Kläger wurde bis zum Zeitpunkt der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung des Verwaltungsgerichts gerade nicht nach Italien abgeschoben.
174
cc) Da sich der Kläger im maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des streitgegenständlichen Bescheids in Haft befand, war eine freiwillige Erfüllung seiner Ausreisepflicht nicht gesichert. Nach § 11 Abs. 14 Satz 2 FreizügG/EU i.V.m. § 58 Abs. 1 und Abs. 3 Nr. 1 AufenthG war deshalb die Abschiebung aus der Haft bzw. dem sonstigen öffentlichen Gewahrsam heraus anzuordnen.
175
3. Hinsichtlich des vom Klägerbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrags, die Berufung zuzulassen, weist das Gericht darauf hin, dass aus seiner Sicht weder eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 124a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) noch eine Abweichung von der obergerichtlichen Rechtsprechung (§ 124a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) gegeben sind.
176
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 155 Abs. 1 VwGO. Als weit überwiegend unterlegener Teil hat der Kläger die Kosten des gesamten Verfahrens zu tragen (§ 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO). Die Festsetzung der Frist für das Einreise- und Aufenthaltsverbot hat gegenüber der Verlustfeststellung nach dem FreizügG/EU ein lediglich geringes Gewicht. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.