Titel:
Rechtmäßige Ausweisung (Kamerun)
Normenketten:
AufenthG § 53 Abs. 1, § 54 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, § 55 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 4
GG Art. 6
Leitsatz:
Art. 6 GG gewährt dem betroffenen Ehegatten keinen unbedingten Anspruch, von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen verschont zu bleiben. (Rn. 68) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Kamerun, Ausweisung, Niederlassungserlaubnis, besonders schwer wiegendes Ausweisungsinteresse, Straffälligkeit, Wiederholungsgefahr, deutsche Ehefrau
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 11.01.2023 – 10 ZB 21.2425
Fundstelle:
BeckRS 2021, 60337
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung aus der Bundesrepublik Deutschland.
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Der am ... in ... in Kamerun geborene Kläger erwarb im Jahr 1996 das Abitur, studierte in Kamerun Wirtschaftswissenschaften und reiste am 7. September 1998 mit einem Visum zu Studienzwecken nach Deutschland ein, wo er an der Technischen Universität F. im Jahr 2004 sein Studium des Maschinenwesens als Diplom-Ingenieur erfolgreich abschloss. Anschließend arbeitete er bei einer ...firma als Entwicklungsingenieur bis zu seiner Inhaftierung am 10. Juli 2018.
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Der Kläger erhielt zwecks Studiums zunächst ein Visum, anschließend Aufenthaltsbewilligungen und später Aufenthaltserlaubnisse, bis ihm am 27. November 2007 eine Niederlassungserlaubnis erteilt wurde.
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Der Kläger schloss im Jahr 2005 in Kamerun die Ehe mit seiner in Kamerun geborenen Ehefrau, die im Jahr 2006 im Wege des Familiennachzugs mit Visum ins Bundesgebiet einreiste und zunächst Aufenthaltserlaubnisse erhielt, sowie am 10. November 2011 eine Niederlassungserlaubnis. Mit Urkunde vom 17. März 2020 wurde die Ehefrau in Deutschland eingebürgert. Sie hat sich vor seiner Inhaftierung im Jahr 2018 bereits vom Kläger getrennt und nach Umzug im Jahr 2019 eine Berufsausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin an den Kliniken der Stadt M. begonnen, die bis zum Jahr 2023 dauern soll. Aus der Ehe gingen zwei in den Jahren 2007 und 2010 geborene Kinder hervor, die ebenfalls mit Urkunden vom 17. März 2020 in Deutschland eingebürgert wurden. Die Kinder leben mit ihrer Mutter in L.; zum 20. August 2019 meldeten sie sich dort mit Hauptwohnsitz an.
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Der Kläger hat noch einen im Jahr 2000 in Kamerun geborenen dort lebenden Sohn.
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Der bis zum Jahr 2019 noch mit der Wohnadresse in D. gemeldete Kläger wurde am 10. Juli 2018 zunächst in der Justizvollzugsanstalt B.-C., zum 5. Juli 2019 in der Justizvollzugsanstalt E., zum 2. Juli 2020 in der Justizvollzugsanstalt G.-H. und zum 27. Mai 2021 in der Justizvollzugsanstalt N. in Untersuchungs- und anschließend in Strafvollstreckungshaft genommen.
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Der Kläger ist mehrfach vorbestraft:
8
– AG B., U.v. 6.5.2019 – ... – Behördenakte Bl. 354 ff.: Gesamtfreiheitsstrafe zwei Jahre elf Monate wegen 66 Fällen des Computerbetrugs in Tateinheit mit Fälschung beweiserheblicher Daten.
Der Kläger hatte zwischen Februar 2014 und Juli 2018 einem Mittäter ermöglicht, über Computer oder internetfähige Mobiltelefone unter Vortäuschung der Zahlungswilligkeit im Internet Monats- und Wochenkarten der Deutschen Bahn zu bestellen, welche an die Postadresse des Klägers in B. gesendet wurden. Der Kläger gab dem Mittäter die Rahmenbedingungen für die Ticketbestellungen (Reisedaten, Reiseroute, Personalien der Reisenden und Lieferadresse) vor, nahm die jeweiligen Fahrkarten in Empfang und verkaufte sie jeweils gewinnbringend an Dritte oder gab sie Familienangehörigen oder Verwandten zur Nutzung weiter oder nutzte sie selbst. Der Mittäter besorgte fremde Kreditkartendaten für die Bestellungen und führte die Bestellungen mit den vom Kläger erhaltenen Daten aus. Die belasteten Kreditkarteninstitute machten die Belastungen für die Konten ihrer Kunden jeweils rückgängig, sodass in Höhe der nichtbezahlten Preise für die Fahrkarten ein Schaden für die Deutsche Bahn entstand. Der Kläger und sein Mittäter handelten, um sich durch die wiederholte Tatbegehung eine Einnahmequelle von einigem Umfang zu verschaffen. Der erlangte Tatgewinn von 17.062,50 Euro wurde vom Strafgericht eingezogen. Im Rahmen einer Verfahrensverständigung räumte der Kläger die ihm zur Last gelegten Straftaten ein.
Zugunsten des Klägers wurde berücksichtigt, dass er die Taten gestanden hatte und sich seine Familie in Kamerun befinde, sodass er als haftempfindlicher zu beschreiben sei. Zulasten des Klägers wurden seine Vorahndung wegen Diebstahls im Jahr 2016, der hohe verwirklichte Schaden und die tateinheitliche Strafbegehung berücksichtigt.
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– LG B., U.v. 28.9.2019 – ... – Behördenakte Bl. 453 ff.: Gesamtfreiheitsstrafe vier Jahre neun Monate unter Auflösung der Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil vom 6. Mai 2019 wegen Steuerhinterziehung in 44 tatmehrheitlichen Fällen, in 33 Fällen jeweils in Tateinheit mit Urkundenfälschung in Tatmehrheit mit versuchter Steuerhinterziehung in sieben tatmehrheitlichen Fällen, in sechs Fällen jeweils in Tateinheit mit Urkundenfälschung in Tatmehrheit mit Urkundenfälschung in 70 tatmehrheitlichen Fällen; Verurteilung zur Einziehung von Wertersatz von 150.848,14 Euro.
Aus prozessökonomischen Gründen sei das Verfahren gegen den Kläger auf die abgeurteilten Fälle beschränkt worden. Dem Urteil sei eine Verständigung vorausgegangen, in welcher der Kläger ein vollumfängliches Geständnis abgelegt, seinen Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen die Notveräußerung seines Pkw zurückgenommen und glaubhafte Angaben zu einem weiteren Täter gemacht habe.
Zu den persönlichen Verhältnissen stellte das Strafgericht fest, dass der Kläger den anderweitigen Mittäter aus der Zeit seiner Abiturvorbereitung im Jahr 1996 kenne und mit ihm in tiefer Freundschaft verbunden sei. Der Kläger habe bei seinem Arbeitgeber als Ingenieur ein Nettoeinkommen von etwa 4.700 Euro monatlich erzielt. Seine Mutter lebe in Y. bei seiner Schwester, sein ältester Sohn lebe alleine in Kamerun, seine Frau und die beiden jüngeren Kinder lebten in L.. Ihr habe er vor seiner Inhaftierung 2.000 Euro monatlich Unterhalt gezahlt, seinem in Kamerun lebenden Sohn zwischen 500 Euro und 800 Euro monatlich sowie einen Privatkredit mit monatlich 1.400 Euro bedient. Vor seiner Verhaftung habe der Kläger von seiner Frau getrennt gelebt und plane nach einer zwischenzeitlichen Versöhnung, nach seiner Haftentlassung die eheliche Lebensgemeinschaft wiederaufzunehmen.
Der Kläger habe frühestens im Jahr 2013 ein System entwickelt, mit dem er einer Vielzahl von Personen aus Kamerun (im Folgenden: „Steuerkunden“) dazu verholfen habe, Steuererstattungen in nicht unerheblicher Höhe zu erlangen, indem er für diese die jeweiligen Einkommensteuererklärungen erstellt und darin falsche Angaben über tatsächlich nicht entstandene Aufwendungen für außergewöhnliche Belastungen wie Unterhaltsleistungen an fiktive Verwandte in Kamerun, Krankenhauskosten für diese in Kamerun oder nicht entstandene Werbungskosten und doppelte Haushaltsführung gemacht habe. Zur Untermauerung seiner falschen Angaben habe er den Steuererklärungen je nach Bedarf eigens angefertigte, gefälschte Bestätigungen hinsichtlich der abzugsfähigen Beträge beigefügt, die er teils auch bei mehreren „Steuerkunden“ ausgedruckt und in den jeweiligen Steuerunterlagen verwendet habe. Diese Unterlagen habe er den „Steuerkunden“ weitergeleitet, damit diese die Erklärungen unterschreiben und an das jeweils zuständige Finanzamt senden konnten. Bei kleineren Finanzämtern habe er auch immer nur einen „Steuerkunden“ betreut, um zu verhindern, dass die Manipulationen den Sachbearbeitern des Finanzamts auffielen. Diese hätten die Steuern anschließend zu niedrig festgesetzt. Im Übrigen habe der Kläger bei Einkommensteuererklärungen, bei denen die Steuer noch nicht festgesetzt worden sei, die Steuerhinterziehung versucht. Insgesamt habe er Steuern zugunsten Dritter in Höhe von 132.985,00 Euro Einkommensteuer und 7.221,85 Euro Solidaritätszuschlag verkürzt sowie eine weitere Verkürzung von 56.217,00 Euro Einkommensteuer und 2.950,47 Euro Solidaritätszuschlag versucht. Auch nach Abgabe der Steuererklärungen sei der Kläger für seine Kunden weiter tätig gewesen, in dem er bei Bedarf Einsprüche verfasst und Telefonate mit Finanzämtern geführt habe.
Für seine unerlaubt geleistete Hilfe bei der Einkommensteuerhinterziehung habe der Kläger jeweils einen Betrag zwischen 150 Euro und 400 Euro als Anzahlung sowie eine anteilige Provision von bis zu 40% des Erstattungsbetrages erhalten, insgesamt also Provisionszahlungen in Höhe von mindestens 113.020,73 Euro. Für diese habe er keine Einkommensteuer und auch keine Umsatzsteuer entrichtet, stattdessen in den von ihm für sich abgegebenen Steuererklärungen zu Unrecht außergewöhnliche Belastungen in Form von Unterhaltsleistungen für Familienangehörige in Kamerun geltend gemacht, obwohl diese tatsächlich nicht angefallen seien. Zudem habe er ab dem Veranlagungszeitraum 2015 zu Unrecht formal seinen Wohnsitz in F. angemeldet, um eine höhere Entfernungspauschale für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte geltend zu machen, obwohl er seinen tatsächlichen Wohnsitz im Raum B. gehabt habe. Insgesamt habe er seine eigenen Steuern in Höhe von 20.008,00 Euro Einkommensteuer, 1.163,36 Euro Solidaritätszuschlag und 16.656,05 Euro Umsatzsteuer verkürzt.
Darüber hinaus habe der Kläger durch die gefälschten Bescheinigungen, für die er spätestens im Jahr 2013 eigens Vorlagen entwickelt oder amtliche Vordrucke auf seinem Computer abgespeichert sowie eigens von ihm entworfene Gemeinde- und Namens-Stempel verwendet habe, um ihnen den Eindruck zu verleihen, sie seien von Behörden Kameruns ausgestellt und von einem stellvertretenden Bürgermeister oder Standesbeamten aus Kamerun unterschrieben, Urkundenfälschung begangen. Auch Krankenhausrechnungen und Überweisungsträger seien als Nachweise gefälscht worden. Ebenso habe er seinen eigenen Steuererklärungen gefälschte Unterhaltserklärungen und Zahlungsnachweise beigefügt. Er habe insgesamt 1.889 gefälschte Belege eingereicht, davon 1.836 für andere Personen und 53 Belege für sich selbst.
Durch die große Anzahl der verwendeten gefälschten Belege und deren Missbrauch bei zahlreichen Finanzämtern im gesamten Bundesgebiet sei die Sicherheit des Rechtsverkehrs erheblich gefährdet worden. Der Kläger habe gehandelt, um sich aus der wiederholten Tatbegehung eine fortlaufende Einnahmequelle von einigem Umfang und nicht unerheblicher Dauer zu verschaffen.
Eine Mittäterin sei als Vermittlerin für neue „Steuerkunden“ tätig geworden, sie habe jeweils 10% seiner Provision als eigene Provision hierfür erhalten.
Im Rahmen seines Geständnisses habe der Kläger angegeben, die vereinnahmten Gelder zum einen in einem jährlichen Umfang von 6.000 Euro bis 9.000 Euro für Operationen seiner Mutter in einem Krankenhaus in Y. verwendet zu haben und sie zum anderen in gemeinnützige Projekte, die er in Kamerun ins Leben gerufen habe, investiert zu haben, so in eine Schule für Straßenkinder, den Bau eines Trinkwasserbrunnens oder Renovierungsarbeiten einer Kirchengemeinde. Teilweise habe er diese Kosten auch von seinen Einnahmen aus nichtselbstständiger Tätigkeit bestritten, wobei diese irgendwann nicht mehr ausgereicht hätten und er deshalb mit der Begehung der Taten begonnen habe. Eine zu den beim Kläger beschlagnahmten Computern und der Telekommunikationsüberwachung einvernommene Zeugin habe keine Erkenntnisse liefern können, wofür der Kläger die vereinnahmten Provisionen und Steuererstattungen tatsächlich verwendet habe. Sie habe lediglich aus der Computerauswertung, den beschlagnahmten Unterlagen und der Auswertung der Bankunterlagen feststellen können, dass der Kläger auch zahlreiche weitere Geschäfte gemacht habe, bei denen viel Geld hin- und her überwiesen worden sei, wobei unklar geblieben sei, wohin genau das Geld gegangen sei. Sie habe bestätigen können, dass der Kläger allein in der Wohnung in B. gewohnt habe, er habe seiner getrenntlebenden Frau und den Kindern Unterhalt zahlen müssen und der Pkw sei finanziert gewesen. Anhaltspunkte für Immobilienbesitz in Kamerun habe es gegeben, zu dem jedoch keine näheren Erkenntnisse hätten erlangt werden können.
Bei der Strafzumessung ging das Strafgericht von besonders schweren Fällen der Steuerhinterziehung aus angesichts der wiederholten Begehung der Taten, des Ziels einer fortgesetzten Einnahmequelle von erheblicher Dauer und des erheblichen Umfangs der gewerbsmäßigen Steuerhinterziehung. Gleiches gelte für die Urkundenfälschungen angesichts der Vielzahl unechter Urkunden, wobei der Kläger ein System ins Leben gerufen habe, mit dem eine Vielzahl von Finanzbeamten getäuscht worden sei. Mit hoher krimineller Energie habe er systematisch unechte Urkunden hergestellt, die für die jeweiligen Finanzbeamten als Fälschungen nicht zu erkennen gewesen seien, auch weil er akribisch darauf geachtet habe, bei kleineren Finanzämtern nur einen „Steuerkunden“ zu betreuen, um die Entdeckung zu verhindern, zudem die Fälschungen besonders professionell gefertigt worden seien. Ein Absehen von der Regelwirkung eines besonders schweren Falles anhand von Tat oder Täterpersönlichkeit sei nicht geboten, Milderungsgründe lägen nicht vor.
Zugunsten des Klägers wurde sein auch noch ohne Aussicht auf eine Verständigung abgelegtes Geständnis berücksichtigt; allerdings seien die Ermittlungen zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschlossen gewesen und hätte ein Tatnachweis auch aufgrund anderer Erkenntnisse mit hoher Wahrscheinlichkeit geführt werden können. Zu seinen Gunsten sei auch eine Schadenswiedergutmachung in der Hauptverhandlung in Höhe von 3.250 Euro an Barmitteln gewertet worden und seine Aufklärungshilfe bezüglich der anderweitig verfolgten Mittäterin. Weiter habe er sich schließlich mit der Einziehung des Pkw einverstanden erklärt, der für ihn und seine Familie von hoher Wichtigkeit sei. Weiter habe er infolge der Verhaftung seinen Arbeitsplatz verloren und mit ausländerrechtlichen Konsequenzen zu rechnen, wobei ihn im Fall einer Ausweisung oder Abschiebung von seiner Frau und seinen Kindern die Trennung besonders schwer träfe, da er mit Ausnahme seines ältesten Sohnes keine Bindungen nach Kamerun habe. Schließlich habe er trotz hoher Einnahmen selbst in bescheidenen Verhältnissen gelebt und die vereinnahmten Gelder offensichtlich nicht für einen ausschweifenden Lebensstil verwendet, sondern nicht ausschließbar jedenfalls teilweise in wohltätige Zwecke investiert.
Zulasten des Klägers seien seine hohe kriminelle Energie und der hohe Planungs- und Arbeitsaufwand zu sehen für die Vorbereitung der Taten durch das Erstellen und Beschaffen entsprechender Vorlagen und Stempel sowie das Aneignen eines entsprechenden Wissens und die Tatausführung. Er habe seine
„Steuerkunden“ akribisch nach ihrem Wohnsitz und dem jeweils zuständigen Finanzamt ausgewählt, um eine Tatentdeckung zu verhindern. Gezielt habe er den Umstand ausgenutzt, dass eine Überprüfung der Echtheit seiner Angaben angesichts des Auslandsbezugs nach Kamerun und der sehr raffiniert nicht nur durch einzelne Zahlungsbestätigungen von Familienangehörigen, sondern auch durch ein Konglomerat verschiedener vorgeblich amtlicher Bestätigungen untermauerten Angaben praktisch nicht möglich gewesen sei. Er habe mit besonderer Raffinesse nicht existente Angehörige der jeweiligen Steuerschuldner und völlig andere Lebensumstände in Kamerun erfunden, sogar Notsituationen wie schwere Unfälle der Kinder, um höhere Erstattungen zu erreichen. Zudem habe er für seine „Steuerkunden“ Einspruchsschreiben gefertigt und sich telefonisch mit einzelnen Finanzämtern in Verbindung gesetzt, wobei er sich jeweils als der jeweilige „Steuerkunde“ ausgegeben habe. Er sei insgesamt sehr professionell vorgegangen. Zu seinen Lasten wurde ferner berücksichtigt, dass er dieses eigens von ihm entwickelte Geschäftsmodell, das von Anfang an auf die Schädigung des Steueraufkommens in großem Umfang angelegt gewesen sei, über mehrere Jahre hinweg bei einer Vielzahl von Personen angewandt und schließlich bei Anstieg des Arbeitsanfalls auch weitere Täter als Mitarbeiter für sich gewonnen habe, um das System weiter auszubauen. Zu seinen Lasten seien auch der besonders hohe Schaden und die von ihm vereinnahmten erheblichen Provisionen zu berücksichtigen, sowie die Vorstrafe wegen eines Vermögensdelikts (Diebstahl). Allerdings sei auch die geleistete Entschädigung von 3.250 Euro nur ein Bruchteil des geschuldeten Betrags von mindestens 178.034,26 Euro. Der steuerliche Gesamtschaden unter Berücksichtigung der aus prozessökonomischen Gründen eingestellten Taten belaufe sich auf weit mehr als eine halbe Million Euro. Der Wertersatz betreffe die vereinnahmten Provisionszahlungen des Klägers sowie die steuerlichen Vorteile durch eigene Steuerhinterziehung.
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Der zu seiner geplanten Ausweisung angehörte Kläger ließ im Wesentlichen vorbringen, gegen seine Ausweisung sprächen sein einwandfreies Verhalten in der Haft, sodass davon auszugehen sei, dass der erstmalige Strafvollzug so auf ihn einwirken werde, dass er künftig keine Gefahr mehr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstelle. Mit den Taten habe er vor allem seine kranke Mutter in Y. unterstützt. Er sei im Bundesgebiet aufgrund des langen Aufenthalts hier, seiner beruflichen und familiären Bindungen gut integriert und leide an der Augenkrankheit Keratokonus, wegen der er 2015 in B. operiert worden sei und die in Kamerun oder überhaupt in Afrika nicht adäquat behandelt werden könne. Nach seiner Haftentlassung wolle er mit seiner Frau und den Kindern wieder zusammenleben. Ihr und den Kindern sei ein Umzug nach Kamerun nicht möglich, sie sei auf seine Hilfe in der Bundesrepublik Deutschland angewiesen. Der Kläger wolle auch bald wieder bei seinem früheren Arbeitgeber im offenen Vollzug tätig werden.
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Die Ausländerbehörde der Stadt L. teilte dem Beklagten im April 2020 mit, die Ehefrau und die Kinder seien noch nicht eingebürgert; ihre Einbürgerung sei beabsichtigt, sobald die pandemiebedingten Beschränkungen des Publikumsverkehrs endeten. Die Ehefrau befinde sich in einer Ausbildung und erhalte entsprechend Ausbildungsvergütung; die Familie erhalte zudem Unterhaltsvorschuss, Kindergeld sowie ergänzende Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II.
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Einem Führungsbericht der Justizvollzugsanstalt E. vom 20. April 2020 ist zu entnehmen, im Auftreten gebe sich der Kläger gut gelaunt, jedoch auch uneinsichtig und beharrlich. Zu den Bediensteten suche er das Gespräch, verhalte sich dann jedoch uneinsichtig bei gleichbleibender Freundlichkeit. Über die Strafe spreche er nicht. Im Juli 2019 sei er zur Arbeit in der anstaltseigenen Druckerei eingesetzt worden; im Oktober 2019 habe er jedoch abgelöst werden müssen, da er den Anweisungen der Bediensteten nicht mit der erwarteten Zuverlässigkeit nachgekommen sei. Der Kläger sei zur Wahrnehmung von Besuchen nach X. im Dezember 2019 und im Januar 2020 überstellt worden. Im Heimatland lebten nach Kenntnisstand der Justizvollzugsanstalt die Eltern und ein weiterer Sohn des Klägers, zu diesen halte er regelmäßig telefonisch Kontakt. Eine Strafeinsicht sei bisher nicht erkennbar, was auch die Rückfallgeschwindigkeit belege. Der Kläger habe vielmehr wie in den Gerichtsverfahren bei verschiedenen Bediensteten geäußert, dass er lediglich seinem Vater Geld für seine Waisenhäuser habe zukommen lassen. Disziplinarisch sei der Kläger bisher nicht in Erscheinung getreten.
Das Haftende des Klägers ist für den 9. April 2023 vorgemerkt.
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Laut Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt G. bezüglich einer Aussetzung des Strafrestes nach § 57 Abs. 2 StGB vom 30. Oktober 2020 sowie 13. April 2021 sei der Kläger während seiner Inhaftierung zweimal negativ in Erscheinung getreten: So habe er Ende 2018 noch während seiner Untersuchungshaftzeit bei einem Besuch unerlaubt über Strafverfahrensinhalte gesprochen und im Frühjahr 2019 heimlich einen Brief an seine Schwester übergeben, weshalb die Besuchserlaubnisse entzogen worden seien. Bis August 2019 sei der Kläger nicht besucht worden, die Trennung von seiner Ehefrau aber mittlerweile zurückgenommen. Kontakte pflege der Kläger mittels Telefon und Skype insbesondere zu seiner eigenen Familie, seiner in Y. lebenden Schwester und Mutter sowie zu seinem in Kamerun lebenden ältesten Sohn und Cousin. An Behandlungsmaßnahmen habe der Kläger kein Interesse. Zunächst sei der Kläger in der anstaltseigenen Druckerei tätig gewesen; seit 3. Februar 2021 arbeite er in der Werkhalle bei einem Unternehmensbetrieb in zufriedenstellender Weise und mit Fleiß in der Position eines Vorarbeiters. Daher sei Überbrückungsgeld in Höhe von 752,71 Euro vorhanden. Die Justizvollzugsanstalt G. befürworte daher keine Entlassung nach § 57 Abs. 2 StGB, allerdings nach § 57 Abs. 1 StGB unter zwingender Bestellung eines Bewährungshelfers.
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Ausweislich eines Berichts zur aktuellen Entwicklung des Klägers vom 25. Juni 2021 der Justizvollzugsanstalt N. befinde sich der Kläger aufgrund seines positiven Vollzugsverhaltens sowie der Forcierung seiner anstehenden Entlassung seit dem 12. Mai 2021 probeweise im offenen Vollzug. Der Kläger gliedere sich in die bestehende Hausgemeinschaft ein und halte sich an die bestehenden Regeln im Hafthaus. Zu Mitgefangenen unterhalte er ein freundliches und angemessenes Verhältnis, gegenüber Bediensteten sei er stets freundlich und respektvoll. Jedoch sei der Kläger deutlich auf seine persönlichen Belange bedacht; im Hinblick auf die von ihm begangenen Taten äußere er Reue, bagatellisiere und rechtfertige aber auch seine Delikte. Eine angemessene Auseinandersetzung scheine noch nicht erfolgt; etwaige Behandlungsangebote während der Inhaftierung seien vom Kläger nicht wahrgenommen worden. Es bestünden nach Angaben des Klägers Verbindlichkeiten, die sich wie folgt zusammensetzten: 54.000 Euro aufgrund eines aktuell gestundeten Bankkredits, Anwartschaftskosten der Krankenkasse von ca. 3.000 Euro für die Haftzeit, Verfahrenskosten in Höhe von ca. 176.000 Euro sowie Wertersatz von 140.000 Euro. Diesbezüglich habe der Kläger im Hinblick auf eine Schuldenregulierung Kontakt zum Sozialdienst gesucht und sich beraten lassen. Der Kläger sei am 17. Juni 2021 zu Wahl- und Besuchsausgängen in sukzessiver Steigerung zugelassen worden, was bisher beanstandungslos wahrgenommen worden sei. Als Entlassungs- und Langzeitausgangsadresse stehe ihm die eheliche Wohnung zur Verfügung; seine ihn bereits regelmäßig besuchende Ehefrau diene als Besuchsabholerin. Es liege eine Beschäftigungszusage für den Kläger als Fahrer bei einem Transportunternehmen vor, das aus der Haft heraus wahrgenommen werden könne, obwohl der Kläger angegeben habe, als Ingenieur weiterhin in der ...industrie arbeiten zu wollen. Insgesamt scheine der Kläger beruflich wie privat angemessen in Deutschland integriert zu sein. Das Bleibeinteresse des Klägers sei aufgrund seiner die deutsche Staatsangehörigkeit besitzenden Primärfamilie groß, allerdings habe diese ihn in der Vergangenheit auch nicht von der Begehung von Straftaten abhalten können. Dennoch wirke der Kläger vom Strafvollzug beeindruckt.
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Die Ehefrau äußerte zur beabsichtigten Ausweisung, sie und die Kinder bräuchten den Kläger in Deutschland zur Fortführung ihres intakten Ehe- und Familienlebens, seien deutsche Staatsangehörige und auf die Hilfe des Klägers angewiesen. Umgekehrt leiste sie ihm Unterhalt durch Überweisungen in die Justizvollzugsanstalt. Da sie noch eine dreijährige Ausbildung vor sich habe und die Kinder in L. in die Schule gingen, könne die Hilfe nur in Deutschland erbracht werden. Weder sie noch ihre Kinder hätten soziale Kontakte nach Kamerun und eine Ausweisung mit der Folge einer Rückkehr sei ihnen nicht zumutbar. Auch ihr Mann habe keine sozialen Bindungen mehr in Kamerun. Nach der Haftentlassung wollten sie wieder zusammenleben. Sie besuche ihren Ehemann in der Haft regelmäßig monatlich, sie bringe dabei Geschenke, Bilder und Briefe von den Kindern mit. Sie hätten das gemeinsame Sorgerecht für die Kinder.
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Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 17. Juli 2020 wies der Beklagte den Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland aus (Ziffer 1), ordnete ein Einreise- und Aufenthaltsverbot für die Dauer von sechs Jahren beginnend mit der Ausreise/Abschiebung an (Ziffer 2), ordnete gegen den Kläger die Abschiebung aus der Haft heraus in die Republik Kamerun an und forderte ihn im Fall der Haftentlassung zur Ausreise innerhalb von 14 Tagen ab Haftentlassung auf (Ziffer 3) und drohte ihm widrigenfalls die Abschiebung in sein Herkunftsland oder einen anderen Staat an, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Aufnahme verpflichtet sei (Ziffer 4).
Zur Begründung führte der Beklagte aus, er sei für den zuletzt im Landkreis B. tatsächlich lebenden und nur zu Unrecht zur Vermeidung von Steuern mit Wohnsitz auswärts gemeldeten Kläger zuständig. Beim Kläger liege ein besonders schweres Ausweisungsinteresse angesichts der schwerwiegenden Straftaten und der hierfür verhängten Freiheitsstrafen vor, andererseits liege auch ein besonders schweres Bleibeinteresse vor, da er sich seit dem Jahr 2007 mit einer Niederlassungserlaubnis und bereits zuvor legal im Bundesgebiet aufgehalten habe. Dennoch gehe von seinem weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung aus, da er ein hochkriminelles System aufgebaut, sich hierdurch ein Einkommen von erheblichem Umfang verschafft und einen Schaden von weit über einer halben Million Euro entgangener Steuer verursacht habe. Seine Schadenswiedergutmachung decke nur einen kleinen Bruchteil des Gesamtschadens ab. Hinzu komme der generalpräventive Zweck, andere Ausländer von der Begehung vergleichbarer Delikte abzuhalten. Die Wiederholungsgefahr sei angesichts der Arbeitslosigkeit des Klägers und des Verlusts seiner bisherigen Arbeitsstelle besonders hoch; das Ausweisungsinteresse überwiege daher das Bleibeinteresse. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots von sechs Jahren entspreche der Schwere der von ihm begangenen Delikte; besonders schutzwürdige Interessen lägen bei ihm nicht vor, im Falle einer anderen Sachlage komme eine Verkürzung in der Zukunft in Betracht.
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Gegen diesen seinen Bevollmächtigten am 24. Juli 2020 zugestellten Bescheid ließ der Kläger am 30. Juli 2020 Klage erheben und neben Prozesskostenhilfe beantragen,
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Der Bescheid des Beklagten vom 17. Juli 2020 wird aufgehoben.
19
Zur Begründung wurde ausgeführt, die Ehefrau und die Kinder des Klägers in Deutschland seien mittlerweile eingebürgert und der Kläger teile sich mit ihr das Sorgerecht für die Kinder; die Ehe sei intakt. Daher könne er seiner Meinung nach nicht ausgewiesen werden. Sämtliche Einnahmen aus den Delikten seien für die Behandlung seiner krebskranken Mutter sowie für seine gemeinnützigen Aktivitäten in Deutschland und Afrika genutzt worden. Er habe bis Ende März 2020 26.940,75 Euro Schaden wiedergutgemacht [Auskehrung gesicherter Vermögenswerte durch die Staatsanwaltschaft], dies seien 18% der unerlaubten Einnahmen von 150.848 Euro und damit ein erheblicher Anteil. Sämtliche von ihm steuerlich betreuten Personen („Steuerkunden“) hätten ihre verkürzten Steuern nachbezahlen müssen. Außerdem klage der Kläger gegen die Kündigung seines Arbeitsverhältnisses und habe hohe Chancen auf eine Einstellung nach einer Haftentlassung und könnte den Schaden komplett wiedergutmachen, seine Gerichtskosten abbezahlen und seine privaten Ratenkredite bedienen.
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Der Beklagte beantragte
22
Mit Urkunden vom 17. März 2020 wurde die Einbürgerung der Ehefrau und der Kinder des Klägers nach Auskunft der zuständigen Behörde am 7. August 2020 vollzogen. Der ausländerrechtlich nunmehr zuständige Kreis K. erteilte dem Beklagten am 7. September 2020 die Zustimmung zur Weiterbearbeitung der Ausweisung.
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Im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 11. August 2021 sicherte der Beklagte zu, Ziffer 2 des Bescheides vom 17. Juli 2020 dahin zu ändern, dass die Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots mit Rücksicht auf die Einbürgerung von Ehefrau und Kindern des Klägers auf drei Jahre befristet wird.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf die Gerichts- und die beigezogenen Behördenakten und das Protokoll über die mündliche Verhandlung.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist unbegründet, da der angefochtene Bescheid vom 17. Juli 2020 rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
26
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Ausweisung, der Befristungsentscheidung und der noch nicht vollzogenen Abschiebungsandrohung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – Rn. 18).
27
1. Die vom Kläger angefochtene Ausweisung ist rechtmäßig.
28
a) Die Ausweisung ist formell rechtmäßig, insbesondere bestehen keine Bedenken hinsichtlich der Zuständigkeit des Beklagten.
29
Die sachliche Zuständigkeit der Ausländerbehörde richtet sich nach § 71 Abs. 1 AufenthG i.V.m. § 1 Nr. 1 ZustVAuslR. In örtlicher Hinsicht ergibt sich die Zuständigkeit der Ausländerbehörde aus § 7 Abs. 1 Satz 1 ZustVAuslR aufgrund des gewöhnlichen Aufenthalts des Klägers. Dies folgt sowohl aus dem tatsächlichen Aufenthalt des Klägers als auch aus seiner melderechtlichen Situation: Maßgeblicher Zeitpunkt zur Beurteilung der Zuständigkeit im Rahmen der formellen Rechtmäßigkeit der Ausweisungsentscheidung ist bei einer gegen diese erhobene Anfechtungsklage der Zeitpunkt des Bescheidserlasses.
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Das Bundesverwaltungsgericht stellt im Rahmen der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer angefochtenen Ausweisung aufgrund des materiellen Rechts zwar auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ab (vgl. oben, BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3/16 – juris Rn. 18; BVerwG, U.v. 15.11.2007 – 1 C 45/06 – juris Rn. 13). Nach Auffassung des Gerichts ist aber im Hinblick auf die Überprüfung der Zuständigkeit der Ausländerbehörde als formell-rechtliche Frage ein Abstellen auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung aufgrund materiell-rechtlicher Erwägungen nicht veranlasst. Es widerspräche der Verfahrensökonomie, würde eine Ausweisung allein dadurch (formell) rechtswidrig, dass sich nach Bescheidserlass lediglich der gewöhnliche Aufenthalt des Ausländers verändert.
31
Zum Zeitpunkt des Bescheidserlasses am 17. Juli 2020 hielt sich der Kläger aufgrund seiner Umverlegung in die Justizvollzugsanstalt H. im Landkreis K. seit 2. Juli 2020 auf. Zuvor war der Kläger zunächst seit 10. Juli 2018 in Untersuchungs- und Strafvollstreckungshaft in der Justizvollzugsanstalt B.-C. und anschließend seit 5. Juli 2019 in der Justizvollzugsanstalt E.. Am 11. Juli 2018 wurde der Ausländerbehörde F. die Inhaftierung des Klägers mitgeteilt, die zuständigkeitshalber die Akten über den Kläger am 4. Dezember 2018 an die Ausländerbehörde des Landkreises B. abgegeben hat (Behördenakte Bl. 275 u. 279). Mit Mitteilung vom 7. September 2020 stimmte die Ausländerbehörde des Landkreises K. der Verfahrensfortführung durch die Ausländerbehörde des Landkreises B. aufgrund vorhergehender Anfrage nach § 3 Abs. 3 VwVfG zu (Behördenakte Bl. 780).
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Ausweislich der Feststellungen des LG B. (U.v. 28.9.2019 – ) wohnte der Kläger, der zum Zeitpunkt seiner Straftaten in F. gemeldet war, tatsächlich in B.. Am 1. Oktober 2018 meldete die Ehefrau des Klägers diesen auch im Landkreis B. in einer gemeinsamen Wohnung an, obwohl sich der Kläger zu diesem Zeitpunkt bereits in Haft befand. Seitdem hat sich die melderechtliche Situation des Klägers nicht verändert. Sein gewöhnlicher Aufenthalt war bei Erlass des Bescheids daher im örtlichen Zuständigkeitsbereich des Beklagten (§ 7 Abs. 3 Nr. 1 ZustVAuslR, Art. 3 Abs. 3 BayVwVfG).
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b) Die Ausweisung erweist sich auch in materieller Hinsicht als rechtmäßig.
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Nach § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Bei dieser gebundenen und gerichtlich voll überprüfbaren Abwägungsentscheidung (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 23) sind nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer seines Aufenthalts, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen (vgl. § 53 Abs. 2 AufenthG). Die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit müssen gewahrt sein, wobei sämtliche konkrete Umstände, die für die Situation des Betroffenen kennzeichnend sind, zu berücksichtigen sind (vgl. BayVGH, B.v. 6.11.2019 – 19 CS 19.1183 – juris Rn. 24).
35
Unter Berücksichtigung aller Umstände und nach Abwägung des öffentlichen Ausweisungsinteresses (§ 54 AufenthG) mit seinem privaten Bleibeinteresse (§ 55 AufenthG) ist das Verwaltungsgericht der Überzeugung, dass hier das öffentliche Interesse an der Ausreise des Klägers sein Interesse an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet überwiegt und die Ausweisung auch nicht gegen höherrangige Normen verstößt.
36
aa) Der Kläger stellt auf Grund seines persönlichen Verhaltens eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Sinne von § 53 Abs. 1 AufenthG dar. Erforderlich ist danach die Prognose, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch die weitere Anwesenheit des Ausländers im Bundesgebiet ein Schaden an einem der Schutzgüter des § 53 Abs. 1 AufenthG eintreten wird (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – Rn. 23). Dies ist hier der Fall.
37
(1) Ein hinreichender Ausweisungsanlass ist die Straffälligkeit des Klägers.
38
Der Aufenthalt des Klägers gefährdet die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland schwerwiegend, weil er schwere Straftaten begangen hat und eine Wiederholungsgefahr bis heute besteht.
39
Der Kläger ist zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren elf Monaten wegen 66 Fällen des Computerbetrugs in Tateinheit mit Fälschung beweiserheblicher Daten (AG B., U.v. 6.5.2019 – ... – Behördenakte Bl. 354 ff.) und unter deren Einbeziehung zuletzt zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren neun Monaten wegen Steuerhinterziehung in 44 tatmehrheitlichen Fällen, in 33 Fällen jeweils in Tateinheit mit Urkundenfälschung in Tatmehrheit mit versuchter Steuerhinterziehung in sieben tatmehrheitlichen Fällen, in sechs Fällen jeweils in Tateinheit mit Urkundenfälschung in Tatmehrheit mit Urkundenfälschung in 70 tatmehrheitlichen Fällen (LG B., U.v. 28.9.2019 – ... – Behördenakte Bl. 453 ff.) verurteilt worden, so dass ein hinreichender Ausweisungsanlass nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vorliegt. Jede der beiden Teilstrafen für die Tatkomplexe Computerbetrug und Steuerhinterziehung für sich würde bereits für die Annahme eines besonders schweren Ausweisungsinteresses ausreichen. Durch die große Anzahl der verwendeten gefälschten Belege und deren Missbrauch bei zahlreichen Finanzämtern im gesamten Bundesgebiet ist nach strafgerichtlicher Einschätzung auch die Sicherheit des Rechtsverkehrs erheblich gefährdet worden (LG B., U.v. 28.9.2019 – ... – Behördenakte Bl. 453 ff.). Die insgesamt gewerbsmäßige Begehung von derartigen Vermögensdelikten stellt eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft und damit für die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland dar.
40
Ein Grundinteresse der Gesellschaft wird verletzt, wenn es sich um hochrangige Rechtsgüter handelt, an deren Schutz die Gesellschaft ein besonderes Interesse hat. Dazu zählen bestimmte Individual- und Kollektivschutzgüter. Individualgüter von solcher Bedeutung sind insbesondere grundrechtlich geschützte Rechtsgüter. Kollektivschutzgüter sind insbesondere die durch besonders schwere Kriminalität im Sinne von Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV wie Terrorismus, Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern, illegaler Drogenhandel, illegaler Waffenhandel, Geldwäsche, Korruption, Fälschung von Zahlungsmitteln, Computerkriminalität und organisierte Kriminalität bedrohten Schutzgüter.
41
Wie hier vom Kläger durch sein Handeln systematisch seit 2013 und damit bis zur Aufdeckung fünf Jahre lang begangene Computerdelikte zu Lasten der Deutschen Bahn und Steuerdelikte zu Lasten der Allgemeinheit verletzen das Grundinteresse der Gesellschaft am Schutz von Eigentum und Vermögen (vgl. BVerwG, U.v. 2.9.2009 – 1 C 2.09 – juris Rn. 17), am Schutz und an der Vertrauenswürdigkeit der Zahlungssysteme im Internet und an der Sicherheit des Rechtsverkehrs (LG B., U.v. 28.9.2019 – ... – Behördenakte Bl. 453 ff.) sowie an der gleichmäßigen Besteuerung der Steuerpflichtigen und damit an ihrem leistungsgerechten Beitrag zur Finanzierung des hiesigen staatlichen und sozialen Systems.
42
(2) Die vom Kläger ausgehende Gefahr dauert bis heute an, so dass eine Tatwiederholung konkret zu befürchten ist.
43
Bei der Ausweisungsentscheidung haben die Verwaltungsgerichte auf der Grundlage aller Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung der Tat und der Tatumstände, des Täters und seiner Persönlichkeitsstruktur sowie seines Nachtatverhaltens und ggf. einer therapeutischen Aufarbeitung des Geschehenen eine eigene Beurteilung und Prognoseentscheidung vorzunehmen, ob das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt (vgl. BayVGH, B.v. 29.5.2018 – 10 ZB 17.1739 – Rn. 8; BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277/283 f. Rn. 17). Allein ein positives Verhalten in der Haft oder Unterbringung lässt noch nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung schließen, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen könnte (BayVGH, B.v. 16.2.2018 – 10 ZB 17.2063 – juris Rn. 10). Denn solange sich der Ausländer nicht außerhalb des Straf- bzw. Maßregelvollzugs bewährt hat, kann nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die eine Wiederholungsgefahr entfallen ließe (BayVGH, B.v. 29.5.2018 – 10 ZB 17.1739 – Rn. 9). Wohlverhalten kommt insbesondere dann nur begrenzte Aussagekraft zu, wenn es unter der Kontrolle des Strafvollzugs und unter dem Druck eines Ausweisungsverfahrens gezeigt wird (BayVGH, B.v. 13.10.2017 – 10 ZB 17.1469 – juris Rn. 12).
44
Bei bedrohten Rechtsgütern von hervorgehobener Bedeutung sind im Rahmen der tatrichterlichen Prognose der Wiederholungsgefahr umso geringere Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu stellen, je größer und folgenschwerer der mögliche Schaden ist (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277 Rn. 16; BayVGH, B.v. 16.2.2018 – 10 ZB 17.2063 – juris Rn. 9).
45
Die im Rahmen der eigenständigen ausländerrechtlichen Prognose der Wiederholungsgefahr auf der Grundlage aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Beurteilung, ob das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt, führt unter Berücksichtigung der Tat und der Tatumstände, des Täters und seiner Persönlichkeitsstruktur sowie seines Nachtatverhaltens und ggf. einer therapeutischen Aufarbeitung des Geschehenen (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277/283 f. Rn. 17; BayVGH, B.v. 4.4.2017 – 10 ZB 15.2062 – Rn. 14) hier zur Annahme einer erheblichen Wiederholungsgefahr:
46
(a) Vom Kläger geht eine gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung aus.
47
Der Kläger ist erstens Wiederholungstäter, da er bereits beim verurteilten wiederholten Computerbetrug wegen eines Diebstahls vorgeahndet war (AG B., U.v. 24.5.2016 –, Behördenakte Bl. 571) und dennoch erneut unrechtmäßig auf fremdes Vermögen der Inhaber der belasteten Konten bzw. letztlich des betrogenen Eisenbahnverkehrsunternehmens zugriff (AG B., U.v. 6.5.2019 – ... – Behördenakte Bl. 354 ff.) und bei seiner Steuerhinterziehung in 44 tatmehrheitlichen Fällen u.a. entstandene Steueransprüche der Allgemeinheit so manipulierte, dass sie zu Lasten der Staatskasse in zu geringer Höhe festgesetzt und eingeholt wurden.
48
Zweitens ist die individuelle Tatmotivation beim Kläger völlig im Dunkeln geblieben, so dass mangels therapeutischer Aufarbeitung von ihrem Fortbestand auszugehen ist: Der Kläger beging systematisch seit dem Jahr 2013 bis zur Aufdeckung im Jahr 2018 fünf Jahre lang Computerdelikte und Steuerdelikte nicht aus einer besonderen Situation heraus, insbesondere nicht spontan aus einem äußeren Anlass heraus oder zur Befriedigung einer Suchterkrankung. Im Gegenteil war er äußerlich beruflich, familiär und sozial integriert und litt auch nicht an Geldnot. Die gegenüber dem Strafgericht behaupteten Behandlungskosten für seine Mutter in Y. in einem jährlichen Umfang von 6.000 Euro bis 9.000 Euro hätte der Kläger auch entweder aus seinem ansehnlichen Gehalt oder einer legalen Nebentätigkeit erwirtschaften können. Der begangenen Straftaten bedurfte es dazu nicht. Die Tatmotivation war also keine extrinsische, sondern eine intrinsische aus der Persönlichkeit des Klägers heraus.
49
Umgekehrt folgt daraus auch, dass der Kläger nach seiner Haftentlassung im Wesentlichen voraussichtlich in dieselben Lebensverhältnisse zurückkehren wird, aus denen heraus er die Delikte begangen hat: Er meint, beste Chancen auf eine neue Beschäftigung zu haben, so dass er beruflich möglicherweise wieder wird Fuß fassen können. Mit seiner Ehefrau will er sich versöhnt haben und ein künftiges Zusammenleben anstreben. Seine Kernfamilie in Deutschland hat den Kläger aber bereits in der Vergangenheit nicht von der Begehung der Straftaten abhalten können (vgl. Gerichtsakte Bl. 120).
50
Da die eigentliche Tatmotivation des Klägers im strafgerichtlichen Verfahren im Dunkeln geblieben ist, sie auch in der Haft nicht behandelt wird, wo der Kläger nicht über die Strafe spreche bzw. sich hinsichtlich seiner Taten teils reuig zeige, teils diese bagatellisiere und rechtfertige und eine Strafeinsicht bisher nicht erkennbar sei, was auch die Rückfallgeschwindigkeit belege (JVA E., Führungsbericht vom 20.4.2020 sowie JVA N., Stellungnahme vom 25. Juni 2021), ist derzeit von einer durch nichts geminderten Wiederholungsgefahr auszugehen. Die Einschätzung der Justizvollzugsanstalt ist aus der Vorstrafe des Klägers heraus erst recht nachvollziehbar; die gesamten Umstände von Täter und Tat begründen somit die konkrete Gefahr einer erneuten Rück- und Straffälligkeit nach einer Haftentlassung.
51
Dabei ist auch zu beachten, dass der Kläger ausweislich der Feststellungen des Urteils des LG B. vom 28. September 2019 () selbst angegeben hat, dass er teilweise die Kosten für die gemeinnützigen Projekte und die Operationen seiner Mutter auch von seinen Einnahmen aus nichtselbstständiger Tätigkeit bestritten habe, wobei diese irgendwann nicht mehr ausgereicht hätten und er deshalb mit der Begehung der Taten begonnen habe. Zur weiteren Finanzierung seiner verfolgten Ziele – worin auch immer diese tatsächlich bestanden haben mögen – sah sich der Kläger demnach gehalten, in illegaler Weise weiteres Geld zu vereinnahmen. Mangels bisher erfolgter Aufarbeitung der Ursachen seiner Straffälligkeit ist vor dem Hintergrund des aktuell hinzutretenden Arbeitsplatzverlustes bei seinem alten Arbeitgeber, der derzeitigen Tätigkeit als Fahrer eines Transportunternehmens und den bestehenden Verbindlichkeiten von weit über 300.000 Euro bei gleichzeitig geplanter Unterstützung seiner Familie die Gefahr einer künftigen erneuten Geldeinnahme in nicht legaler Weise gerade nicht auf ein erträgliches Maß gemindert.
52
Es ergibt sich für das Gericht ein Gesamtbild der Persönlichkeit des Klägers, das den Anschein einer starken Selbstüberzeugung hinsichtlich des eigenen Handelns und damit einhergehend auch eine zum Teil mangelnde Bereitschaft zur Befolgung von Rechtsnormen erweckt: Das Verhalten des Klägers während der Haft, in deren Rahmen er sich besonders intensiv mit der Durchsetzung von Rechten beschäftigte, wenig Kontakt zu anderen Inhaftierten pflegte, sich bei Gesprächen mit Bediensteten höflich, aber mitunter uneinsichtig zeigte (vgl. Gerichtsakte Bl. 126, Behördenakte Bl. 575) und der Umstand, dass er auch während des Gerichtsverfahrens in anderen rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren getroffene Sachverhaltsfeststellungen wie seine (melderechtliche) Wohnsituation oder den Umstand der Trennung von seiner Ehefrau bezweifelte, zeugen von einer besonderen Beharrlichkeit des Klägers. Offensichtlich ging der Kläger auch bei den von ihm begangenen – durch großen Aufwand, umfangreiche Planung und Akribie geprägten – Straftaten und den beiden Verstößen während der Inhaftierung, die zu einem Besuchsverbot geführt haben, jeweils davon aus, seine Rechtsverstöße würden nicht entdeckt und bagatellisierte oder rechtfertigte diese noch im Nachhinein, was eine fehlende Einsicht in das begangene Fehlverhalten nahelegt und die starke Selbstüberzeugung des Klägers begründet. Eine Änderung dieser Umstände steht mangels erfolgter Aufarbeitung der tatmotivierenden Ursachen in der Haft nicht zu erwarten.
53
(b) Wegen des hohen Rangs der von ihm verletzten und bei einem Rückfall erneut bedrohten Rechtsgüter, insbesondere auch der bewiesenen hohen kriminellen Energie und des erheblichen Schadens, sowie des Vorliegens eines besonders schweren Falles ohne Milderungsgründe anhand von Tat oder Täterpersönlichkeit (AG B., U.v. 6.5.2019 – ... – Behördenakte Bl. 354 ff.) ist davon auszugehen, dass der Kläger nach wie vor erheblich rückfallgefährdet ist. Sind die Ursachen seiner Straftaten nicht beseitigt, sogar nicht einmal konkret aufgedeckt, ist von einer konkreten Rückfallgefahr auszugehen.
54
bb) Die Ausweisung ist unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls nach § 53 Abs. 1 AufenthG gerechtfertigt, weil das öffentliche Ausweisungsinteresse nach § 54 AufenthG das Bleibeinteresse des Klägers nach § 53 Abs. 2 und Abs. 3 i.V.m. § 55 AufenthG deutlich überwiegt.
55
(1) Das Ausweisungsinteresse wiegt nach § 53 Abs. 1 i.V.m. § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG besonders schwer, weil der Kläger wegen der von ihm begangenen Delikte zunächst zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und elf Monaten (AG B., U.v. 6.5.2019 – ... – Behördenakte Bl. 354 ff.) und anschließend unter deren Einbeziehung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten (LG B., U.v. 28.9.2019 – ... – Behördenakte Bl. 453 ff.) verurteilt worden ist.
56
Zwar können die in § 54 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG typisierten Interessen im Einzelfall bei Vorliegen besonderer Umstände auch weniger oder mehr Gewicht entfalten und kann die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren wegen einer vorsätzlichen Straftat in atypischen Fällen insgesamt weniger schwer erscheinen (vgl. BR-Drs. 642/14 S. 57), doch liegen hierfür unter umfassender Würdigung des Einzelfalles keine Anhaltspunkte vor. Tat, Täter und Nachtatverhalten weichen von vergleichbaren gewerbsmäßig verübten Vermögensdelikten nicht derart ab, dass hier die Annahme eines atypischen Falles in Betracht käme. Dies gilt auch mit Blick auf die zuvor begangenen einschlägigen Delikte. Auch nach strafgerichtlicher Bewertung rechtfertigten die Tatumstände und die Täterpersönlichkeit keine abweichende Gewichtung. Insbesondere eine Minderung der Schuldfähigkeit des Klägers oder sonstige Milderungsgründe wurden nicht festgestellt, aber das Vorliegen von besonders schweren Fällen der Steuerhinterziehung.
57
Der Kläger ist auch nicht unverschuldet in die Tatsituation geraten, sondern hat sie bewusst und planvoll sowie anlasslos selbst herbeigeführt. Die Gesamtwürdigung stützt also die Annahme des gesetzlichen Regel-Schlusses aus einer einschlägigen Verurteilung auf ein entsprechendes öffentliches Ausweisungsinteresse; ein Ausnahmefall ist hier erst recht nicht erkennbar.
58
(2) Das Bleibeinteresse wiegt nach § 53 Abs. 1 und Abs. 3 i.V.m. § 55 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 4 AufenthG ebenfalls besonders schwer, weil der Kläger eine Niederlassungserlaubnis besitzt, seit über fünf Jahren legal im Bundesgebiet lebt und hier die Personensorge für zwei mittlerweile eingebürgerte Kinder ausübt. Dass die zuvor aufgegebene eheliche Lebensgemeinschaft mit seiner Ehefrau erst wieder aufgenommen werden soll, fällt daneben noch ins Gewicht.
59
(3) In die nach § 53 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG gebotene Gesamtabwägung von Ausweisungs- und Bleibeinteresse sind alle Umstände des Einzelfalles wie insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat sowie die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner einzustellen:
60
(a) Der Aufenthalt des Klägers in Deutschland dauert seit dem Jahr 1998 ohne wesentliche Unterbrechung an und fällt als intensive Bindung erheblich ins Gewicht.
Der Kläger hat hier studiert, graduiert und gearbeitet.
61
Der Kläger hat auch seine wesentlichen persönlichen Bindungen im Bundesgebiet, da er vor seiner Inhaftierung bis zur Trennung der Ehegatten jedenfalls noch mit seiner mittlerweile eingebürgerten Ehefrau und den beiden ebenfalls mittlerweile eingebürgerten Kindern im Bundesgebiet lebte (LG B., U.v. 28.9.2019 – ... – Behördenakte Bl. 453 ff.). Allerdings ist zu berücksichtigen, dass sich die Ehegatten bereits vor der Verhaftung getrennt haben und der Entschluss zur Wiederaufnahme der ehelichen Lebensgemeinschaft erst während der Haft getroffen wurde – was unter der haftbedingten Trennungswirkung und der drohenden Ausweisung und Aufenthaltsbeendigung nur beschränkt schutzwürdig ist – und erst seit einigen Wochen im Rahmen des offenen Vollzuges die eheliche Lebensgemeinschaft tatsächlich erst wiederaufgenommen wurde. Weiter ist zu beachten, dass ausweislich der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt N. vom 25. Juni 2021 auch die in Deutschland lebende Kernfamilie den Kläger nicht von der Begehung der Straftaten abhalten konnte (Gerichtsakte Bl. 120).
62
Der Kläger hat berufliche und wirtschaftliche Bindungen im Bundesgebiet, wo er nach dem Studium qualifiziert gearbeitet hat. Dabei hat der Kläger seinen Lebensunterhalt aus eigener Kraft gesichert; die Einnahmen aus den Straftaten will er überwiegend gemeinnützigen Zwecken im Ausland zugeführt haben, wofür im Strafverfahren aber kein belastbarer Nachweis gefunden werden konnte.
63
Sonstige wesentliche Bindungen des Klägers im Bundesgebiet sind weder aus den vorliegenden Behörden- und Strafakten ersichtlich, noch vom Kläger geltend gemacht. Der Kontakt zu seinem langjährigen Schulfreund, mit dem zusammen er einen Teil seiner Straftaten beging, fällt nicht erheblich ins Gewicht.
64
(b) In Kamerun als seinem in der Abschiebungsandrohung bezeichneten Herkunftsstaat hat der Kläger seine (weitere) Familie (AG B., U.v. 6.5.2019 – ... – Behördenakte Bl. 354 ff.) sowie seinen ältesten Sohn (LG B., U.v. 28.9.2019 – ... – Behördenakte Bl. 453 ff.). Ausweislich des Führungsberichts der Justizvollzugsanstalt N. vom 25. Juni 2021 bestand auch während der Inhaftierung des Klägers telefonischer Kontakt zu seinem in Kamerun lebenden Sohn und seinem dort lebenden Cousin. Da der Kläger zudem in Deutschland lebende Kameruner in Steuerangelegenheiten betreut hat und in Kamerun gemeinnützige Projekte finanziert haben will, verfügt er über belastbare Bindungen in seinen und seiner Familie Herkunftsstaat und ist mit den Lebensverhältnissen dort so vertraut, dass er täuschend echte angeblich kamerunische Urkunden in großer Zahl herstellen konnte. Für den Fall einer Aufenthaltsbeendigung ist davon auszugehen, dass der Kläger sich dort zurechtfinden kann.
65
Würde er nach Kamerun abgeschoben, müsste er sich dort ein eigenes neues Leben aufbauen, sich eine Arbeit suchen und bis zur Erwerbstätigkeit notfalls soziale Unterstützung seines Herkunftsstaats in Anspruch nehmen. Er ist wohl auch nach den Erwartungen des Kameruner Arbeitsmarktes – insbesondere vor dem Hintergrund eines bereits dort vor seiner Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland erfolgten Studiums der Wirtschaftswissenschaften (vgl. LG B., U.v. 28.9.2019 –, Behördenakte Bl. 458 f.) – hinreichend für eine Tätigkeit qualifiziert. Dies wird auch belegt durch die Einschätzung der Justizvollzugsanstalt N. vom 25. Juni 2021, wonach sich der Kläger für ein breites Tätigkeitsspektrum offen zeige (Gerichtsakte Bl. 120); bereits während seiner Inhaftierung betätigte sich der Kläger beanstandungslos mit Fleiß in der anstaltseigenen Druckerei und Werkhalle und anschließend als Fahrer bei einem Transportunternehmen. Gleichwohl dürfte ihm zuzumuten sein, notfalls auch niedrig entlohnte Arbeit anzunehmen, um wirtschaftlich Fuß zu fassen und für seinen Lebensunterhalt auf legale Weise aufzukommen.
66
Sonstige wesentliche Bindungen des Klägers nach Kamerun sind weder aus den Behörden- und Strafakten ersichtlich, noch vom Kläger geltend gemacht.
67
(c) Die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner fallen für den verheirateten Kläger und für seine Angehörigen unterschiedlich ins Gewicht und sind bei der Entscheidung über eine Aufenthaltsbeendigung entsprechend zu berücksichtigen.
68
Die in Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach der der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, verpflichtet die Ausländerbehörde, bei ihrer Entscheidung die familiären Bindungen des den weiteren Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen zu berücksichtigen. Allerdings beinhaltet Art. 6 GG keinen unbedingten Anspruch des betroffenen Ehegatten, von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen verschont zu bleiben. Vielmehr ist das Schutzgebot für Ehe und Familie nur in verhältnismäßiger Weise mit den öffentlichen Interessen abzuwägen (BayVGH, B.v. 28.11.2016 – 10 CE 16.226 – juris Rn. 13).
69
Auch nach Völkerrecht ist ein Staat berechtigt, die Einreise von Ausländern in sein Staatsgebiet und ihren Aufenthalt zu regeln. Die Europäische Menschenrechtskonvention garantiert keinem Ausländer das Recht, in ein bestimmtes Land einzureisen und sich dort aufzuhalten (vgl. EGMR, U.v. 11.6.2019 – 42305/18 – NVwZ-RR 2020, 707/710 Rn. 60), und die Mitgliedstaaten sind befugt, in Erfüllung ihrer Aufgabe, die öffentliche Ordnung zu gewährleisten, einen Ausländer auszuweisen, der wegen Straftaten verurteilt worden ist. Der Schutz des Familienlebens eines Ausländers mit seiner Kernfamilie (Ehefrau/Lebenspartner/in und Kindern) sowie seines Privatlebens als Gesamtheit der sozialen Bindungen zwischen niedergelassenen Ausländern und der Gesellschaft, in der sie leben (so EGMR, U.v. 23.10.2018 – 7841/14 – NVwZ 2019, 1427/1428 Rn. 34), fordert lediglich, dass die Aufenthaltsbeendigung gesetzlich vorgesehen, also auf einer dem Betroffenen erkennbaren Rechtsgrundlage beruht (vgl. EGMR, U.v. 11.6.2019 – 42305/18 – NVwZ-RR 2020, 707/710 Rn. 64) und nur zu einem der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen darf. Soweit Entscheidungen in diesem Bereich in die durch Art. 8 Abs. 1 EMRK garantierten Rechte eingreifen können, müssen sie gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein, also durch ein dringendes soziales Bedürfnis gerechtfertigt und insbesondere zu dem verfolgten berechtigten Ziel verhältnismäßig sein (EGMR, U.v. 23.10.2018 – 7841/14 – NVwZ 2019, 1427/1428 Rn. 33; BVerfG, B.v. 29.1.2020 – 2 BvR 690/19 – juris Rn. 19).
70
Zur Ehefrau besteht eine von Art. 6 Abs. 1 GG geschützte formelle Ehe und ist zur Überzeugung des Verwaltungsgerichts der beiderseitige Wille zur Wiederherstellung einer tatsächlichen Lebensgemeinschaft nach der Haftentlassung erkennbar und wird im Rahmen des offenen Vollzugs des Klägers auch durchgeführt. Andererseits wiegt eine erst unter dem Druck der drohenden Aufenthaltsbeendigung vollzogene Versöhnung weniger schwer wie eine ohne diese Einschränkung bis zur Haft aufrechterhaltene eheliche Lebensgemeinschaft und hat auch die familiäre Verbundenheit den Kläger nicht von seinen Straftaten abhalten können (Gerichtsakte Bl. 120).
71
Seine Kinder leben im Bundesgebiet und für sie nimmt er, wenn auch derzeit haftbedingt eingeschränkt, seine Personensorge wahr.
72
Alle drei Personen wurden während seiner Haft eingebürgert und genießen im Bundesgebiet Freizügigkeit nach Art. 11 GG. Es ist folglich nicht davon auszugehen, dass sie dem Kläger im Fall seiner Aufenthaltsbeendigung dauerhaft nach Kamerun folgen würden, zumal seine Ehefrau erst eine mehrjährige Ausbildung in Deutschland aufgenommen hat.
73
Allerdings ist es der Ehefrau und den Kindern des Klägers und ihm selbst möglich, nach seiner Abschiebung nach Kamerun den Kontakt wie bisher in der Haft postalisch und durch moderne Kommunikationsmittel aufzunehmen bzw. aufrechtzuerhalten (als Kriterium bei EGMR, U.v. 20.12.2018 – 18706/16 – NVwZ 2019, 1425/1426 Rn. 49). Zudem kann der Beklagte dem Kläger kurze Familienbesuche im Bundesgebiet durch Betretenserlaubnisse ermöglichen. Dies gilt auch für eine etwaige Behandlung seiner Augenerkrankung bei akutem Behandlungsbedarf. Weiter ist zu berücksichtigen, dass während des Haftaufenthalts seit 10. Juli 2018 eine Mitwirkung des Klägers bei der Erziehung der beiden Kinder aufgrund der durch seine mehrfache Straffälligkeit selbst verschuldeten Inhaftierung ohnehin nur eingeschränkt möglich gewesen ist.
74
(d) In die erforderliche Gesamtabwägung sind die Folgen der Aufenthaltsbeendigung für die Allgemeinheit andererseits einzustellen.
75
Der Aufenthalt des Klägers gefährdet die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland schwerwiegend, weil er schwere Straftaten über einen langen Zeitraum begangen hat und eine erhebliche Wiederholungsgefahr bis heute besteht, da nicht absehbar ist, dass bei ihm nachweislich ein so tiefgreifender Einstellungswandel eingetreten wäre, so dass von ihm keine Straftaten zu befürchten wären. Zur Vermeidung von argumentativen Wiederholungen wird auf die o.g. Ausführungen zum Ausweisungsanlass und zur Wiederholungsgefahr verwiesen, aus denen sich das öffentliche Ausweisungsinteresse in seinem vollen Gewicht ergibt:
76
Das Ausweisungsinteresse begründet sich im Fall des Klägers spezialpräventiv in dem Ziel, durch seine Entfernung aus dem Bundesgebiet weitere Straftaten durch ihn hier auszuschließen und so die Bevölkerung deutscher und ausländischer Staatsangehörigkeit vor weiteren Gefahren durch den Kläger zu schützen. Der Kläger ist wiederholt wegen systematisch über einen längeren Zeitraum begangener Vermögensdelikten bestraft worden und hat sich damit u.a. wegen der Computerkriminalität schwerer Angriffe auf ein hochrangiges Rechtsgut schuldig gemacht. Die (mehrfache) Begehung von derartigen Straftaten stellt eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft am Schutz der Sicherheit und Vertrauenswürdigkeit des Zahlungsverkehrs im Internet, des Rechtsverkehrs wie auch an einer gleichmäßigen Besteuerung der Steuerschuldner und damit für die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland dar.
77
Diese Gefahr besteht aus den o.g. akut fort. Die Einwände des Kläger hiergegen greifen nicht durch:
Soweit er sich darauf beruft, letztlich die Erträge seiner Straftaten weitgehend gemeinnützigen Zwecken im Ausland zugeführt zu haben, was er allerdings im Strafverfahren nicht nachgewiesen hatte, kann dies die Gefahr nicht mindern, denn seine angeblich gemeinnützigen Aktivitäten in Kamerun finanzierte er durch massiv gemeinschädliche Handlungen in Deutschland. Er wäre hierzu auf ein rechtmäßiges Alternativverhalten zu verweisen: Wäre es ihm lediglich um altruistische Hilfe für Menschen seines Heimatstaats gegangen, hätte er sie legal mit Spenden von seinem eigenen Geld oder über einen etwa gemeinnützigen Verein auch mit Spenden Gleichgesinnter unterstützen können. Weder des Missbrauchs von Fahrkartensystemen noch der Steuerhinterziehung hätte es dazu bedurft. Es spricht daher viel dafür, dass der Kläger nicht aus reinem Altruismus aufgetreten ist.
78
Auch sein weiterer Einwand, er habe den Schaden teilweise wiedergutgemacht, verfängt nicht: Er wurde zwar zuletzt im Strafverfahren zur Einziehung von Wertersatz von 150.848,14 Euro (LG B., U.v. 28.9.2019 – ... – Behördenakte Bl. 453 ff.) verurteilt, habe eine Schadenswiedergutmachung in der Hauptverhandlung in Höhe von 3.250 Euro an Barmitteln geleistet und keinen Rechtsbehelf mehr gegen die Notveräußerung seines Pkw aufrechterhalten. Allerdings sei auch die geleistete Entschädigung von 3.250 Euro nur ein Bruchteil des geschuldeten Betrags von mindestens 178.034,26 Euro. Der steuerliche Gesamtschaden unter Berücksichtigung der aus prozessökonomischen Gründen eingestellten Taten belaufe sich aber auf weit mehr als eine halbe Million Euro. Der Wertersatz betreffe nur die vereinnahmten Provisionszahlungen des Klägers sowie die steuerlichen Vorteile durch eigene Steuerhinterziehung. Dass seine „Steuerkunden“ zur Steuernachzahlung herangezogen worden seien, was der Kläger schließlich einwendet, beruht nicht auf seiner, sondern auf deren Leistung. Zudem ist offen, ob die hinterzogenen Beträge sachlich und zeitlich überhaupt vollständig werden vereinnahmt werden können. Das Ausfallrisiko ebenso wie den Zusatzaufwand für die behördliche Geltendmachung trägt auch hier die Allgemeinheit der Steuerzahler und nicht der Kläger. Nichts Anderes ergibt sich daraus, dass nach Angaben des Klägers bis März 2020 von ihm insgesamt 26.940,75 Euro beglichen wurden; insofern sind ausweislich der Angaben des Klägerbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung erst nach der Haftentlassung des Klägers weitere Schritte zur Schadenswiedergutmachung geplant.
79
Für das Verwaltungsgericht ist nicht positiv erkennbar, dass sich die innere Einstellung des Klägers mittlerweile geändert und er seine mehrfach und langjährig tatmotivierenden charakterlichen Mängel zwischenzeitlich erfolgreich behoben hätte. Da die wahren Tatmotive letztlich nicht zu Tage gefördert werden konnten, aber die staatlichen Maßnahmen bisher insoweit erfolglos geblieben sind und auch ein Eindruck der Haft auf den Kläger noch völlig offen ist, bleibt nur die Beendigung seines Aufenthalts, um sicherzugehen, dass von ihm in nächster Zeit nach der Haftentlassung keine weiteren Straftaten mehr begangen werden.
80
2. Die Abschiebungsandrohung ist nicht zu beanstanden. Abschiebungshindernisse, die nach § 59 Abs. 3 AufenthG zwar nicht ihrer Androhung, aber ihrer Vollstreckung entgegenstünden und zu einer Duldung führen könnten, sind weder ersichtlich noch substantiiert vorgetragen worden.
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3. Die in Ziffer 2 des angefochtenen Bescheids verfügte Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots mit – in der mündlichen Verhandlung auf drei statt der ursprünglich sechs Jahre zugesicherten – Befristung der Wirkungen der Ausweisung und Abschiebung, gerechnet ab dem Zeitpunkt der Abschiebung bzw. der nachgewiesenen Ausreise, ist ebenfalls rechtmäßig.
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Die Befristungsdauer steht nach § 11 Abs. 3 AufenthG n.F. im Ermessen der Ausländerbehörde (zur Vorgängerregelung BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – Rn. 65 f.), so dass diese Ermessensentscheidung keiner uneingeschränkten gerichtlichen Überprüfung unterliegt, sondern – soweit wie hier keine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt – eine zu lange Frist lediglich aufgehoben und die Ausländerbehörde zu einer neuen Ermessensentscheidung verpflichtet werden kann (vgl. BayVGH, U.v. 25.8.2015 – 10 B 13.715 – Rn. 54 ff.).
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Bei der Bemessung der Frist sind in einem ersten Schritt das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Es bedarf der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277/298 Rn. 42; BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – Rn. 65 f.). Die Dauer der Frist darf nach § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG fünf Jahre nur in den Fällen des § 11 Abs. 5 bis Abs. 5b AufenthG überschreiten, insbesondere wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277/298 Rn. 42). Selbst wenn die Voraussetzungen für ein Überschreiten der zeitlichen Grenze von fünf Jahren gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG vorliegen, ist davon auszugehen, dass in der Regel ein Zeitraum von maximal zehn Jahren den Zeithorizont darstellt, für den eine Prognose realistischer Weise noch gestellt werden kann, so dass sie nach § 11 Abs. 5 Satz 1 AufenthG n.F. zehn Jahre nicht überschreiten soll. Da der Beklagte in seiner Befristung nunmehr unterhalb der Grenze von fünf Jahren geblieben ist, liegen die genannten Ausnahmen hier nicht vor.
Die auf diese Weise ermittelte Frist muss sich aber an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) sowie den Vorgaben aus Art. 7 GRCh und Art. 8 EMRK messen lassen und ist ggf. in einem zweiten Schritt zu relativieren (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277/298 Rn. 42; BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – Rn. 66), um die einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen sowie ggf. seiner engeren Familienangehörigen zu begrenzen. Dabei sind insbesondere die in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten schutzwürdigen Belange des Ausländers in den Blick zu nehmen.
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Nach diesen Maßstäben und nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung ist die mit dem angefochtenen Bescheid des Beklagten festgesetzte und nochmals – unter Berücksichtigung der Einbürgerung von Ehefrau und Kindern des Klägers – auf drei Jahre verkürzte Frist nicht zu lang und daher rechtmäßig. Durchgreifende Ermessensfehler sind darüber hinaus weder ersichtlich noch vom Kläger geltend gemacht:
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Der Beklagte stützt die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 AufenthG darauf, dass der im Bundesgebiet langjährig aufhältige Kläger über mehrere Jahre Straftaten begangen und sich dabei schwerer Delikte schuldig gemacht hat, ohne dass die Wiederholungsgefahr gebannt wäre. In der mündlichen Verhandlung berücksichtigte der Beklagte zudem die mittlerweile erfolgte Einbürgerung der Ehefrau und beiden Kinder des Klägers. Hiergegen ist nichts zu erinnern.
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4. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.