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AG Erding, Endurteil v. 10.12.2021 – 16 C 5611/20
Titel:

Fluggastrecht, Abtretung, Fluggast, Annullierung, Ermessen, Zedent, Schutzniveau, Zahlung, Verordnung, Zeitpunkt, Flug, Verfahren, Ausgleichsanspruch, Anspruch, Flughafen, billigem Ermessen, Frankfurt Main

Schlagworte:
Fluggastrecht, Abtretung, Fluggast, Annullierung, Ermessen, Zedent, Schutzniveau, Zahlung, Verordnung, Zeitpunkt, Flug, Verfahren, Ausgleichsanspruch, Anspruch, Flughafen, billigem Ermessen, Frankfurt Main
Fundstelle:
BeckRS 2021, 59247

Tenor

1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 600,00 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 14.11.2018 zu zahlen.
2. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Beschluss
Der Streitwert wird auf 600,00 € festgesetzt.

Entscheidungsgründe

1
Gemäß § 495a ZPO bestimmt das Gericht das Verfahren nach billigem Ermessen. Innerhalb dieses Entscheidungsrahmens berücksichtigt das Gericht grundsätzlich den gesamten Akteninhalt.
2
Die Klage ist zulässig und begründet. Der Klägerin steht der geltend gemachte Ausgleichsanspruch aus Art. 7 Abs. 1 S. 1 lit. c) der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 aus abgetretenem Recht zu.
3
Der Anwendungsbereich der Verordnung ist gemäß Art. 3 Abs. 1 lit. a) der Verordnung (EG) 261/2004 eröffnet, da der streitgegenständliche Flug vom Flughafen M. und damit einem Flughafen im Gebiet eines Mitgliedstaates, das den Bestimmungen der Verordnung unterliegt, angetreten werden sollte und der Zedent Y. S. über eine bestätigte Buchung für den von der Beklagten durchzuführenden Flug verfügte.
4
Der Fluggast Y. S. sollte am 10.10.2018 von M. über Frankfurt (am Main) nach Shanghai befördert werden. Der Flug von M. nach Frankfurt (am Main) mit der Flugnummer XX...1 sollte planmäßig am 10.10.2018 um 20:00 Uhr Ortszeit starten und am 10.10.2018 um 21:00 Uhr Ortszeit landen. Der Flug von Frankfurt (am Main) nach Shanghai mit der Flugnummer XX...2 sollte planmäßig am 10.10.2018 und 22:05 Uhr Ortszeit starten und am 11.10.2018 um 14:50 Uhr Ortszeit landen.
5
Der Flug XX...1 war jedoch verspätet und erreichte Frankfurt (am Main) erst am 10.10.2018 um 23:10 Uhr Ortszeit. Durch die Verspätung konnte die anschließende Verbindung mit XX..2 nicht erreicht werden.
6
Dem Fluggast wurde eine Ersatzbeförderung mit XX...2 von Frankfurt (am Main) nach Shanghai angeboten. Trotz der angebotenen Ersatzbeförderung erreichte der Fluggast sein Ziel erst am 12.10.2018 um 15:19 Uhr Ortszeit und hatte damit eine Verspätung von 24 Stunden und 29 Minuten.
7
Bei der von dem Fluggast gebuchten Beförderung von M. über Frankfurt (am Main) nach Shanghai handelt es sich um einen einzigen, einheitlich zu bewertenden Flug, siehe hierzu EuGH Rs. Wegener, Urteil vom 31.05.2018, C-537/17.
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Die Distanz zwischen dem Abflug- und Ankunftsort beträgt 8.798 km.
9
Der Fluggast hat den ihm gegen die Beklagte zustehenden Ausgleichsanspruch an die Klägerin abgetreten. Diese hat der Beklagten mit Schreiben vom 30.10.2018 die Abtretung angezeigt und die Beklagte unter Vorlage der Abtretungserklärung und Fristsetzung zum 13.11.2018 erfolglos zur Zahlung des Ausgleichsanspruchs aufgefordert.
10
Fluggäste von Flügen mit einer Verspätung von drei Stunden oder mehr können nicht anders behandelt werden als die Fluggäste, denen eine Ausgleichsleistung nach Art. 5 I lit. c) der Verordnung (EG) 261/2004 zugutekommt, da eine solche Ungleichbehandlung dieser beiden Gruppen angesichts der mit der Verordnung verfolgten Ziele nicht hinreichend gerechtfertigt ist (vgl. EuGH, NJW 2010, 43 Rdnrn. 59 u. 60 - Sturgeon u. a.). Deshalb ist die Verordnung (EG) Nr. 261/2004 dahin auszulegen, dass Fluggäste von Flügen mit großer Verspätung die gleiche Ausgleichsleistung wie Fluggäste annullierter Flüge beanspruchen können, nämlich die in Art. 5 I lit. c) dieser Verordnung vorgesehene Leistung (vgl. EuGH, NJW 2010, 43 Rdnr. 61 - Sturgeon u. a., EuGH (Große Kammer), Urt. v. 23. 10. 2012 - C-581/10, C-629/10 (Emeka Nelson u. a./Deutsche Lufthansa AG und The Queen/Civil Aviation Authority).
11
Der Anspruch ist nicht nach Art. 5 Abs. 3 der Verordnung (EG) 261/2004 ausgeschlossen. Zwar mag ein außergewöhnlicher Umstand vorgelegen haben, der auch ursächlich für die Verspätung des Fluges L...1 war. Letztlich kann dies aber dahinstehen, da die Beklagte nicht nachweisen konnte, dass sie alle zumutbaren Maßnahmen zur Vermeidung der Folgen der großen Verspätung ergriffen hat, Art. 5 Abs. 3 Verordnung (EG) 261/2004.
12
Das ausführende Luftfahrtunternehmen ist von seiner in Art. 5 Abs. 1 lit. c) und Art. 7 der Verordnung (EG) 261/2004 vorgesehenen Verpflichtung zur Ausgleichszahlung an die Fluggäste nur dann befreit, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung des Fluges bzw. dessen um drei Stunden oder mehr verspätete Ankunft auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären, und es bei Eintritt eines solchen Umstands die der Situation angemessenen Maßnahmen ergriffen hat, indem es alle ihm zur Verfügung stehenden personellen, materiellen und finanziellen Mittel eingesetzt hat, um zu vermeiden, dass dieser Umstand zur Annullierung oder zur großen Verspätung des betreffenden Fluges führt, ohne dass jedoch von ihm angesichts der Kapazitäten seines Unternehmens zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht tragbare Opfer verlangt werden können, EuGH, Urteil vom 11.06.2020, C-74/19).
13
In Einklang mit dem im ersten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 261/2004 genannten Ziel, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen, und dem in den Erwägungsgründen 12 und 13 sowie in Art. 8 Abs. 1 der Verordnung genannten Erfordernis einer zumutbaren, zufriedenstellenden und frühestmöglichen anderweitigen Beförderung der von einer Annullierung oder großen Verspätung ihres Fluges betroffenen Fluggäste folgt daraus, dass bei Eintritt eines außergewöhnlichen Umstands das Luftfahrtunternehmen, das sich durch Ergreifen der zumutbaren Maßnahmen von seiner in Art. 5 Abs. 1 lit. c und Art. 7 der Verordnung vorgesehenen Verpflichtung zu Ausgleichszahlungen an die Fluggäste befreien möchte, sich grundsätzlich nicht darauf beschränken darf, den betroffenen Fluggästen eine anderweitige Beförderung zu ihrem Endziel durch den nächsten Flug anzubieten, den es selbst durchführt und der am Tag nach dem ursprünglich vorgesehenen Ankunftstag am Ziel ankommt.
14
Die Sorgfalt, die von dem Luftfahrtunternehmen verlangt wird, damit es sich von seiner Verpflichtung zu Ausgleichszahlungen befreien kann, setzt nämlich voraus, dass es alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel einsetzt, um eine zumutbare, zufriedenstellende und frühestmögliche anderweitige Beförderung sicherzustellen. Dazu gehört die Suche nach anderen direkten oder indirekten Flügen, die gegebenenfalls von anderen Luftfahrtunternehmen, die derselben Fluggesellschaftsallianz angehören oder auch nicht, durchgeführt werden und mit weniger Verspätung als der nächste Flug des betreffenden Luftfahrtunternehmens ankommen.
15
Folglich ist bei dem betreffenden Luftfahrtunternehmen nur dann, wenn kein Platz auf einem anderen direkten oder indirekten Flug verfügbar ist, der es dem betreffenden Fluggast ermöglicht, mit weniger Verspätung als der nächste Flug des betreffenden Luftfahrtunternehmens an seinem Endziel anzukommen, oder wenn die Durchführung einer solchen anderweitigen Beförderung für das Luftfahrtunternehmen angesichts der Kapazitäten seines Unternehmens zum maßgeblichen Zeitpunkt ein nicht tragbares Opfer darstellt, davon auszugehen, dass es alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel eingesetzt hat, indem es den betreffenden Fluggast mit dem nächsten von ihm durchgeführten Flug anderweitig befördert hat (EuGH, Beschluss vom 14.01.2021, C-264/20).
16
Davon ist nach der Beweisaufnahme im konkreten Fall nicht auszugehen.
17
Der Zeuge N.N., angestellter Referent der Verkehrszentrale bei der Beklagten, gab in seiner Vernehmung in der mündlichen Verhandlung am 03.11.2021 im Wesentlichen an, dass der streitgegenständliche Flug mit der Nummer XX...1 pünktlich in M. verfügbar gewesen sei. Um 18.03 Uhr (alle Zeiten in UTC) sei die letzte Kabinentür verschlossen worden. Tatsächlich sei der Flug um 18:07 Uhr off Block gegangen. Er habe eine Verspätung bis dahin von 7 Minuten gehabt, welche vermutlich auf dem Weg nach Frankfurt hätte aufgeholt werden können. Aber auch mit einer Verspätung von 7 Minuten hätte der Fluggast den Weiterflug erreicht.
18
Es sei zu einem Sicherheitsvorfall am Flughafen M. im Terminal 2 gekommen. Um 17:27 Uhr sei ein Alarm durch das Öffnen eines Türnottasters erfolgt. Die Situation sei zunächst unklar gewesen. Um 18:03 Uhr sei ein allgemeiner Abfertigungsstopp von der Bundespolizei für den gesamten Flughafen verhängt worden. Es seien keine Starts mehr möglich gewesen, auch keine weiteren Passagierbewegungen zwischen den Terminals und dem Satelliten. Der Flug XX...1, der sich schon auf dem Weg zur Startbahn befunden habe, habe nicht abheben dürfen. Er sei um 18:43 Uhr wieder an der Parkposition angekommen. Der Abfertigungstopp im Terminal 2 sei um 19:18 Uhr aufgehoben worden. Die Parkposition sei um 20:24 Uhr verlassen worden und der Start sei um 20:35 Uhr erfolgt. Um 21:07 Uhr sei das Flugzeug in Frankfurt gelandet, die Parkposition sei um 21:21 Uhr erreicht worden. Letztlich habe der Flug XX...1 eine Verspätung von 2 Stunden und 24 Minuten gehabt.
19
Der Flug XX...2 sei relativ pünktlich in Frankfurt nach Shanghai abgehoben. Er habe die Parkposition um 20:25 Uhr verlassen. Zu diesem Zeitpunkt sei der Flug XX...1 noch nicht in Frankfurt gewesen. Die frühestmögliche Umbuchung sei am nächsten Tag gewesen. Die Langstreckenflüge nach Asien würden in der Regel am Abend gehen. Er wisse nicht auf welchen Flug der Fluggast hier umgebucht worden sei.
20
Diese Aussage legt nahe, dass die Verspätung des Zubringerfluges von M. nach Frankfurt am Main auf einen außergewöhnlichen Umstand zurückgeht. Denn auf einen sicherheitsbedingten, von der Bundespolizei angeordneten Abfertigungsstopp hat die Beklagte keinen Einfluss. Letztlich muss dies aber nicht entschieden werden und auch nicht weiter darauf eingegangen werden, warum das Flugzeug die Parkposition in M. noch um 18:07 Uhr verlassen konnte, obwohl um 18:03 Uhr bereits ein allgemeiner Abfertigungsstopp verhängt worden war, und ob das Flugzeug auch zurückgerufen worden wäre, wenn es pünktlich um 18:00 Uhr die Parkposition verlassen hätte, denn die Beklagte hat in dieser Situation nicht alle ihr zur Verfügung stehenden und zumutbaren Maßnahmen ergriffen, um die sodann eingetretene große Verspätung zu verhindern.
21
In die Würdigung der Maßnahmen, die in der gegebenen Situation zur Vermeidung einer Annullierung oder Verspätung sowohl zumutbar als auch erfolgversprechend erscheinen, muss der Tatrichter nur solche Umstände einbeziehen, zu denen die Parteien vorgetragen haben oder die sich ihm zumindest als zumutbar und erfolgversprechend aufdrängen, BGH Urteil vom 15.01.2019, Az.: X ZR 15/18.
22
Vorliegend hat die Beklagte vorgetragen, dass der Flughafen Shanghai von M. aus nur von der Beklagten angeflogen werde, und zwar einmal täglich mit der XX...6 mit planmäßigem Start um 22:15 Uhr (Ortszeit). Eine Umbuchung auf diesen Flug sei aber weder aus Zeitgründen noch aus Kapazitätsgründen möglich gewesen. Diese Behauptung wurde in der Beweisaufnahme nicht bestätigt.
23
Der Zeuge N.N. gab hierzu an, dass der Flug XX...6 am 10.10.2018 um 20:32 Uhr (UTC) abgeflogen sei. Hätte der Gast in M. gesagt, dass er umgebucht werden möchte, hätten sie ihn unter Umständen umbuchen können. Auf der Maschine seien noch 11 Plätze frei gewesen. Allerdings hätte das Flugzeug ja erst um 18:43 Uhr wieder die Parkposition erreicht. Der Gast hätte dann erst das Flugzeug verlassen und zum Schalter gehen müssen, das wäre voraussichtlich zeitlich zu knapp geworden, aber sie hätten es versucht.
24
Eine automatische Umbuchung werde erst dann gestartet, wenn der Fluggast aus der geplanten Flugroute herausfalle, das heißt, wenn er zum Anschlussflug erst gar nicht erscheine oder sie den Flug XX...1 annulliert hätten.
25
Von Weiterflügen bei der N.N. wüsste die Beklagte schon, aber sie könne dieses Wissen noch nicht so nutzen, dass bereits proaktive Umbuchungen erfolgen können. Die Komplexität sei dafür zu groß, außerdem sei auch nicht klar gewesen in M., wann der Flug wieder weiter hätte gehen können. In dem Flugzeug seien einige Fluggäste mit Weiterverbindungen, automatische Umbuchungen würden erst erfolgen, wenn der Passagier auf sich aufmerksam machen könne.
26
Die Angaben des Zeugen N.N. sind glaubhaft. Seine Aussage war ruhig, frei von Widersprüchen und frei von Entlastungstendenzen hinsichtlich seiner Arbeitgeberin. Wissenslücken räumte er offen ein. Diese Angaben zugrunde gelegt, hat die Beklagte aber nicht alle zumutbaren Maßnahmen zur Verhinderung der großen Verspätung ergriffen.
27
Als das Flugzeug um 18:43 Uhr zur Parkposition zurückkehrte, war der Abfertigungsstopp noch nicht aufgehoben und es war nicht absehbar, wann der Start erfolgen könne. Unter Berücksichtigung der Flugdauer von 1 Stunde nach Frankfurt am Main, der dort benötigten Umsteigezeit und dem Wissen, dass der Abflug in M. nicht sofort stattfinden kann, lag bereits zu diesem Zeitpunkt auf der Hand, dass der Zedent den Anschlussflug in Frankfurt nicht mehr erreichen kann.
28
Der Beklagten war bekannt, dass der Fluggast in Frankfurt einen ebenfalls von ihr durchgeführten Anschlussflug hatte. In dieser Situation hätte es der Beklagten oblegen, auf den Fluggast zuzugehen und ihm die Umbuchung auf einen der 11 freien Plätze auf dem Flug XX...6 anzubieten. Die Beklagte kann sich nicht erfolgreich damit entlasten, dass sie dem Fluggast die Aufgabe zuschreibt, dass dieser sich melden müsse. Dass in der Zeit zwischen dem Erreichen der Parkposition um 20:43 Uhr (Ortszeit) zum planmäßigen Abflug des Fluges XX...6 um 22:15 Uhr (Ortszeit) bzw. zum tatsächlichen Start um 22:31 Uhr, mithin innerhalb von mindestens anderthalb Stunden, kein Umstieg möglich gewesen wäre, liegt nicht nahe und wurde vom Zeugen auch nicht behauptet. Die pauschale Angabe des Zeugen, dass die Komplexität für proaktive Umbuchungen im Falle der Verspätung von Zubringerflügen zu groß sei, kann im digitalen Zeitalter nicht mehr überzeugen.
29
Die Verurteilung zur Zahlung der Nebenforderung gründet sich auf §§ 280 Abs. 2, 286, 288 BGB.
30
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO.
31
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit hat ihre Rechtsgrundlage in den §§ 708 Nr. 11, 713 ZPO.