Titel:
Asyl Nigeria, Eilrechtsschutz, Offensichtlich unbegründeter Folgeantrag, Behauptete Verfolgung wegen Homosexualität, Gefälschter Zeitungsartikel aus „The, Nigerian Observer“, Zweifelhafte CD mit drei Videos, Völlige Unglaubwürdigkeit
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
AsylG § 36
AsylG § 30 Abs. 3 Nr. 1
Schlagworte:
Asyl Nigeria, Eilrechtsschutz, Offensichtlich unbegründeter Folgeantrag, Behauptete Verfolgung wegen Homosexualität, Gefälschter Zeitungsartikel aus „The, Nigerian Observer“, Zweifelhafte CD mit drei Videos, Völlige Unglaubwürdigkeit
Fundstelle:
BeckRS 2021, 59110
Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Bevollmächtigten des Antragstellers wird abgelehnt.
Gründe
1
Der Antragsteller, dessen Identität nicht geklärt ist, ist nach seinen Angaben nigerianischer Staatsangehöriger, vom Volk der Esan und christlichen Glaubens. Nach seinen Angaben hat er Nigeria am 24. Juni 2015 verlassen, weil er sich wegen seiner Homosexualität in seinem Heimatland starker Verfolgung ausgesetzt sah. Er stellte in Italien Asylantrag, welcher von den italienischen Behörden am 25. März 2016 abgelehnt wurde.
2
Der Antragsteller reiste am 8. August 2016 nach Deutschland ein und stellte am 21. September 2016 Asylantrag. Der Antrag wurde vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) nach Durchführung einer Anhörung vom 20. Oktober 2016 mit Bescheid vom 20. Mai 2017 abgelehnt und die Abschiebung nach Nigeria angedroht. Hiergegen erhob der Antragsteller am 6. Juni 2017 Klage zum Verwaltungsgericht München (Az. M 21 K 17.43995). Im Klageverfahren wurde dem Gericht mitgeteilt, dass der Antragsteller unbekannt verzogen sei. Das Gericht forderte den mittlerweile anwaltlich vertretenen Antragsteller gemäß § 81 AsylG auf, innerhalb eines Monats seine derzeitige Adresse mitzuteilen, was nicht geschah. Mit Beschluss vom 19. Februar 2019 stellte das Gericht das Verfahren wegen eingetretener Fiktion der Klagerücknahme ein. Am 16. November 2019 ließ der Antragsteller dem Gericht mitteilen, dass er sich seit Juni 2018 in der JVA L. befinde. Er beantragte die Fortsetzung des Verfahrens. Mit Urteil vom 15. Mai 2020 (Az. M 21a K 19.33780) stellte das Gericht fest, dass die Klage als zurückgenommen gilt. Den gegen das Urteil gerichteten Antrag auf Zulassung der Berufung lehnte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 26. Juni 2020 rechtskräftig ab (Az. 10 ZB 20.31260).
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Mit Schreiben vom 5. August 2020 stellte der Antragsteller einen Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens (Folgeantrag). In diesem Schreiben und in der vom Bundesamt durchgeführten informatorischen Anhörung vom 13. Oktober 2020 trug der Antragsteller vor, dass es gesetzliche Wiederaufgreifensgründe des unanfechtbar abgeschlossenen Asylerstverfahrens gebe. Er sei wegen seiner Homosexualität in Nigeria im hohem Maße gefährdet. Zum Beweis legte er eine CD vor, die er erst Ende Juli bzw. Anfang August 2020 habe zugesandt erhalten. Auf der CD befänden sich drei Videos. Video Nr. 1 zeige, wie Bewaffnete das Haus seiner Mutter aufsuchten und sie aufforderten mitzuteilen, wo sich ihr Sohn befinde. Weil sich die Mutter weigerte, sei sie aus dem Haus gezerrt und an einen unbekannten Ort verbracht worden. Seitdem habe er keinen Kontakt mehr zu seiner Mutter. Video Nr. 2 zeige, wie zwei mit Macheten bewaffnete Personen vor einem Plakat, auf dem das Gesicht des Antragstellers abgedruckt sei, herumschreien würden, dass sie „die Schwuchtel (es folgt der Name des Antragstellers) töten“ würden. Video Nr. 3 zeige, wie der Partner des Antragstellers in einem Waldstück entblößt durch einen gezielten Kopfschuss niedergestreckt werde. Danach werde mit einer Axt auf den Kopf des Partners eingehauen. Wegen der näheren Einzelheiten der Inhalte der Videos wird auf die entsprechenden Angaben im Asylfolgebescheid vom 2. September 2021 (zu diesem siehe unten) verwiesen.
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Weiter legte der Antragsteller dem Bundesamt die Ausgabe der nigerianischen Zeitschrift „The Nigerian Observer“ vom 30. Juni 2015 vor und wies auf einen auf Seite fünf abgedruckten Artikel hin. Der Artikel, der ein großes Foto des Antragstellers mit dessen voller Namensnennung zeigt, hat die Überschrift „Gay Activities: Police Launch Manhunt For (es folgt der Nachname des Antragstellers), Arrest Accomplice“. Im Text wird darüber berichtet, dass die Polizeibehörden von Benin City, Edo State, Haftbefehl gegen den Antragsteller wegen seiner Verwicklungen in schwule Aktivitäten erlassen hätten. Die Polizei bestätige auch, dass der Partner des Antragstellers (dessen voller Name genannt wird) in einem Hotel in Benin City verhaftet worden sei. Dem Antragsteller sei es gelungen, durch die Hintertür zu entkommen. Der Antragsteller sei notorisch für schwule Aktivitäten bekannt und stehe im Verdacht, Mitglied eines schwulen Syndikats zu sein.
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Zum Beweis seiner Veranlagung legte der Antragsteller eine Bescheinigung einer deutschen Organisation für Homosexuelle vom 15. Mai 2020 und eine Stellungnahme der Organisation vom 8. Oktober 2020 vor.
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Nach einer vom Bundesamt angeforderten Auskunft aus dem Bundeszentralregister des Bundesamts für Justiz vom 25. November 2020 wurde der Kläger mit Urteil des Amtsgerichts München vom 2. Mai 2019, rechtskräftig seit dem 4. Juli 2019, wegen Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in vier tatmehrheitlichen Fällen jeweils in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (Anlage 1 zum BtMG) zu zwei Jahren Jugendstrafe verurteilt. Das Datum der (letzten) Tat war der 19. Juli 2018.
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Mit Schreiben vom 27. November 2020 bat das Bundesamt das Auswärtige Amt u.a. um Überprüfung der Angaben des Antragstellers zu dem Zeitungsartikel. Das Auswärtige Amt teilte mit Schreiben vom 25. August 2021 mit, dass der benannte Zeitungsartikel nach den angestellten Recherchen vor Ort nicht echt sei. Zum Vergleich wurde ein Scan der authentischen Ausgabe des „The Nigerian Observer“ vom 30. Juni 2015 (Seiten 1 bis 7), in der sich der behauptetet Artikel nicht befindet, übersandt. Weiter teilte das Auswärtige Amt mit, dass Recherchen im Bereich der Polizeibehörden von Benin City ergeben hätten, dass dort nicht nach dem Antragsteller polizeilich gesucht oder gefahndet werde bzw. ein Such- oder Haftbefehl vorliege. Dementsprechend sei auch kein Strafurteil gegen den Antragsteller ergangen bzw. anhängig. Das Auswärtige Amt teilte schließlich mit, dass dem Auswärtigen Amt bisher keine Fälle bekannt geworden seien, bei denen abgelehnte Asylbewerber nach ihrer Rückkehr nach Nigeria allein wegen der illegalen Ausreise und/oder der Asylantragstellung in Deutschland strafrechtlich verfolgt oder sonstigen Repressalien ausgesetzt würden (Bl. 154 und 155 der Bundesamtsakte).
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Mit Bescheid vom 2. September 2021 (Folgebescheid), zugestellt am 15. September 2021, lehnte das Bundesamt den Asylantrag als offensichtlich unbegründet ab und stellte auch fest, dass nationale Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Der Antragsteller wurde aufgefordert, Deutschland innerhalb einer Woche zu verlassen, ansonsten er nach Nigeria oder einen anderen Staat, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei, abgeschoben werde. In der Begründung des Folgebescheids wird ausgeführt, dass das unanfechtbar abgeschlossene Asylerstverfahren wiederaufzugreifen gewesen sei, weil der Antragsteller neue Beweismittel vorgelegt habe, die nicht von Vornherein nach jeder Betrachtungsweise ungeeignet gewesen seien, einen Asylanspruch oder Abschiebungsverbote zu begründen. Das durchzuführende weitere Asylverfahren bleibe aber ohne Erfolg. Die mit Einbindung des Auswärtigen Amts vorgenommene Prüfung des Asylbegehrens habe klar ergeben, dass der Antragsteller keine Verfolgung in Nigeria zu befürchten habe. Der Zeitungsartikel, aus dem der Antragsteller Verfolgungsfurcht hergeleitet habe, habe sich als Fälschung erwiesen. Die Inhalte der vorgelegten drei Videos belegten nicht die Aussagen des Antragstellers und die Schlussfolgerungen, die er daraus ziehe. Es gehe aus den Videos keineswegs klar hervor, dass die von den Personen bedrängte Frau wirklich die Mutter des Antragstellers sei, genauso wenig, dass der getötete Mann der Partner des Antragstellers sei. Es gebe auch konkrete Indizien gegen die Authentizität der Videos, dazu noch vor dem Hintergrund, dass der Antragsteller bereits ein anderes Beweismittel gefälscht habe. Wegen der Fälschung sei gemäß § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG der unbegründete Asylantrag sogar als offensichtlich unbegründet abzulehnen gewesen. Nationale Abschiebungsverbote lägen nicht vor.
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Mit Fax vom 21. September 2021 erhob der Bevollmächtigte des Antragstellers gegen den Folgebescheid vom 2. September 2021 Klage (Az. M 32 K 21.32020) und beantragte gleichzeitig,
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die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
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Der Bevollmächtigte beantragte für das Eil- und Klageverfahren die Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter seiner Beiordnung.
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In der am 24. September 2021 gegebenen Begründung von Eilantrag und Klage zog der Bevollmächtigte als Beweismittel die CD mit den drei Videos und den gefälschten Zeitungsartikel heran; auf die Begründung wird verwiesen.
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Wegen der näheren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakte verwiesen.
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Der Antrag bleibt ohne Erfolg.
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1. Der Antrag ist zulässig. Insbesondere ist er innerhalb der einwöchigen Frist des § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG gestellt worden. Auch die Klage, die gemäß § 74 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG ebenfalls in einwöchiger Frist zu erheben ist, wurde fristgerecht erhoben.
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2. Der Antrag ist aber unbegründet.
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Nach dem Willen der Verfassung (Art. 16a Abs. 4 GG) und des einfachen Gesetzes (§ 36 Abs. 4 Satz1 AsylG) darf das Gericht die Aussetzung der Abschiebung im Fall eines als offensichtlich unbegründet abgelehnten Asylantrags nur anordnen, wenn zum maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage, nämlich der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG), ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen, wobei Tatsachen und Beweismittel, die von den Beteiligten nicht angegeben worden sind, unberücksichtigt bleiben, es sei denn, sie sind gerichtsbekannt oder offenkundig (§ 36 Abs. 4 Satz 2 AsylG). Ernstliche Zweifel liegen vor, wenn erhebliche Gründe dafürsprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 - 2 BvR 1516/93 - juris Rn. 99). Gegenstand des Eilverfahrens ist dabei die aufenthaltsbeendende Maßnahme, beschränkt auf die Frage ihrer sofortigen Vollziehbarkeit. Die sofortige Beendigung des Aufenthalts des Antragstellers im Bundesgebiet stützt sich vorliegend auf die qualifizierte Ablehnung seines Asylantrags als offensichtlich unbegründet und ist deren Folge. Anknüpfungspunkt der gerichtlichen Prüfung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ist daher die Frage, ob der Asylantrag zu Recht als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde und ob diese Ablehnung weiterhin Bestand haben kann, ohne dass deshalb der Ablehnungsbescheid selbst zum Verfahrensgegenstand wird (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 - 2 BvR 1516/93 - juris Rn. 93). Die gerichtliche Überprüfung der vom Bundesamt getroffenen Offensichtlichkeitsentscheidung hat mit Blick auf den nach Art. 19 Abs. 4 GG gebotenen effektiven Rechtsschutz aufgrund der als asylerheblich vorgetragenen oder zu erkennenden Tatsachen und in Anwendung des materiellen Asylrechts erschöpfend, nicht nur summarisch, wenngleich mit Verbindlichkeit allein für das Eilverfahren zu erfolgen (vgl. BVerfG, B.v. 19.6.1990 - 2 BvR 369/90 - juris Rn. 20). Die Anforderungen entsprechen insofern denjenigen der Ablehnung einer asylrechtlichen Klage als offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfG, B.v. 19.6.1990 - 2 BvR 369/90 - juris Rn. 21). Das Gericht hat im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes auch die Einschätzung des Bundesamtes nach § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen, zum Gegenstand der Prüfung zu machen. Die Vorschrift des § 34 AsylG regelt nämlich die allgemeinen Voraussetzungen für eine asylrechtliche Abschiebungsandrohung. Diese Voraussetzungen gelten auch für den speziellen Fall einer Abschiebungsandrohung mit einer einwöchigen Ausreisepflicht nach § 36 Abs. 1 AsylG.
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Gemessen an diesen Grundsätzen ist die im Folgebescheid enthaltene Abschiebungsandrohung im Rahmen des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes nicht zu beanstanden. Es bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Androhung.
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Der Antragsteller hat seinen Verfolgungsvortrag im Wesentlichen mit einem nigerianischen Zeitungsartikel begründet. Dieses Beweismittel hat sich als Totalfälschung erwiesen. Es überrascht, dass der anwaltliche Bevollmächtigte des Antragstellers dieses Dokument, dessen Fälschung im angefochtenen Bescheid beschrieben ist - was der Bevollmächtigte in seiner Klagebegründung selber referiert -, erneut als Beweismittel präsentiert, ohne auch nur mit einem Wort auf den Fälschungscharakter des Papiers einzugehen. Ein solches Vorgehen ist mit der Stellung eines Rechtsanwalts als unabhängigem Organ der Rechtspflege nicht vereinbar, verletzt die anwaltlichen Berufspflichten und stellt überdies einen versuchten Prozessbetrug dar.
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Der Antragsteller ist schon vor dem Hintergrund des gefälschten Zeitungsartikels völlig unglaubwürdig; seine strafrechtliche Verurteilung wegen eines Verbrechens des Rauschgifthandels rundet das Bild ab. Da der Antragsteller zur Verfolgung seiner Interessen auf Verbleib in Deutschland bereit war, zu lügen und zu täuschen, muss das Gericht auch erhebliche Zweifel am Wahrheitsgehalt seiner Behauptung hegen, er sei homosexuell. Die Behauptung dürfte ein bloßes taktisches Manöver zur Erlangung asylrechtlicher Vorteile sein.
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Der Antragsteller kann nicht im Entfernten erwarten, dass seinem auf Homosexualität gestützten Asyl- und Schutzantrag entsprochen wird. Auch zu der im Rahmen der nationalen Abschiebungsverbote zu prüfenden allgemeinen Rückkehrgefährdung hat das Bundesamt das Nötige gesagt. Lediglich ergänzend führt das Gericht hierzu Folgendes aus:
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a. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Im Falle einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK dann begründet, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall der Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein. Eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung kann sich aus einer allgemeinen Situation der Gewalt im Zielstaat ergeben, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beiden (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2018 - 13a B 18.30632 - juris Rn. 26; BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - juris Rn. 25).
23
Unter dem Begriff der unmenschlichen Behandlung ist die vorsätzliche und beständige Verursachung körperlicher Verletzungen oder physischen oder psychischen Leids zu verstehen, während bei einer erniedrigenden Behandlung nicht die Zufügung von Schmerzen, sondern die Demütigung im Vordergrund steht.
24
Auch schlechte humanitäre Verhältnisse können in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen eine unmenschliche Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen. Dieses ist immer dann anzunehmen, wenn diese Verhältnisse ganz oder überwiegend auf staatlichem Handeln, auf Handlungen von Parteien eines innerstaatlichen Konflikts oder auf Handlungen sonstiger nichtstaatlicher Akteure, die dem Staat zurechenbar sind, beruhen, weil er der Zivilbevölkerung keinen ausreichenden Schutz bieten kann oder will (EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 und vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681). Aber auch dann, wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, weil es an einem verantwortlichen Akteur fehlt und „nichtstaatliche“ Gefahren für Leib und Leben im Zielgebiet aufgrund prekärer Lebensbedingungen vorliegen, können schlechte humanitäre Bedingungen im Zielgebiet dennoch in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK als unmenschliche Behandlung zu qualifizieren sein (BVerwG, U.v. 13.06.2013 - 10 C 13.12 - Rn. 24 f.; VGH BW, U.v. 24.07.2013 - A 11 S 697/13 - juris Rn. 79 ff.).
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Außergewöhnliche individuelle Umstände bzw. Merkmale können auch solche sein, die eine Person mit anderen Personen teilt, die Träger des gleichen Merkmals sind bzw. sich in einer im Wesentlichen vergleichbaren Lage befinden.
26
Für das Vorliegen eines Abschiebungsverbots aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK aufgrund der allgemeinen Lebensverhältnisse im Zielstaat ist - wie im Rahmen von §§ 3 ff. AsylG und § 4 AsylG - der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen; Auch im Rahmen des Art. 3 EMRK ist nach der Rechtsprechung des EGMR eine tatsächliche Gefahr („real risk“) erforderlich aber auch ausreichend, d.h. es muss eine ausreichende reale, nicht nur auf bloßen Spekulationen gegründete Gefahr bestehen. Es ist allerdings keine Extremgefahr wie im Rahmen der verfassungskonformen Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderlich (vgl. BVerwG, B.v. 23.8.2018 - 1 B 42.18 - juris Rn. 13). Die Rechtsprechung sowohl des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als auch des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - juris Rn. 23 ff.) macht letztlich deutlich, dass bei „nichtstaatlichen“ Gefahren für Leib und Leben ein sehr hohes Gefahrenniveau erforderlich ist; nur dann liegt ein „ganz außergewöhnlicher Fall“ vor, in dem die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind (BayVGH, U.v. 21.11.2018 - 13a B 18.30632 - juris Rn. 27 m.w.N.). Des Weiteren ist für die Beurteilung, ob außerordentliche Umstände vorliegen, die - wie hier - nicht in die unmittelbare Verantwortung des Abschiebungszielstaates fallen und die dem abschiebenden Staat nach Art. 3 EMRK eine Abschiebung des Ausländers verbieten, grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen Für die Annahme einer solchen internen Fluchtalternative im Rahmen des Art. 3 EMRK müssen jedoch gewisse (dem internen Schutz nach § 3e AsylG durchaus ähnliche) - vgl. zu den Überschneidungen des Art. 3 EMRK mit dem internen Schutz nach § 3e AsylG (aber auch zu den Unterschieden) ausführlich Marx, ZAR 2017, 304) - Voraussetzungen erfüllt sein: Die abzuschiebende Person muss in der Lage sein, sicher in das betroffene Gebiet zu reisen, Zutritt zu diesem zu erhalten und sich dort niederzulassen. Ein anderer Ort im Zielstaat kann dem Betroffenen nicht zugemutet werden, wenn dort keine hinreichenden sozialen Bedingungen herrschen, die ein menschenwürdiges Dasein einschließlich des Zugangs zu einer Grundversorgung sowie der erforderlichen sanitären Einrichtungen für die individuell betroffene Person ermöglichen.
27
Ausgangspunkt für die Gefahrenprognose ist eine möglichst realitätsnahe, wenngleich notwendig hypothetische Rückkehrsituation. Erforderlich ist eine Gesamtschau und auf den konkreten Einzelfall bezogene Prüfung unter Berücksichtigung objektiver Gesichtspunkte (darunter insbesondere die wirtschaftlichen und humanitären Verhältnisse einschließlich der Gesundheitsversorgung sowie die Sicherheitslage am Ankunftsort sowie an dem Ort, an den der Betroffene letztlich dauerhaft zurückkehren soll) und persönlicher und familiärer Umstände. Relevant kann dabei sein, ob die Person in der fraglichen Region eine familiäre Anbindung hat (zum Ganzen vgl. VG München, B.v. 29.5.2019 - M 32 S 18.30208 - Rn. 20 ff, noch nicht veröffentlicht). Bei der Prüfung, ob der Abschiebung eines erfolglosen Asylbewerbers Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG entgegenstehen, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bei der Prognose, welche Gefahren dem Asylbewerber im Falle einer Abschiebung in den Heimatstaat drohen, bei realitätsnaher Betrachtung der Rückkehrsituation im Regelfall davon auszugehen, dass eine im Bundesgebiet in familiärer Gemeinschaft lebende Kernfamilie (Eltern und minderjährige Kinder) im Familienverband in ihr Herkunftsland zurückkehrt (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 45/18 - juris Rn. 16). Von einer gemeinsamen Rückkehr im Familienverband ist für die Rückkehrprognose in der Regel auch dann auszugehen, wenn einzelnen Familienmitgliedern bereits bestandskräftig ein Schutzstatus zuerkannt oder für sie ein nationales Abschiebungsverbot festgestellt worden ist (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 45/18 - juris Rn. 19).
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Zwar sind die allgemeinen Lebensbedingungen in Nigeria, dem bevölkerungsreichsten Staat Afrikas mit ca. 200 Millionen Einwohnern, schwierig. Es besteht aber dennoch für Rückkehrer in Nigeria die Möglichkeit, ökonomisch eigenständig zu leben und ohne Hilfe Dritter zu überleben. Das Gericht verkennt nicht, dass nach der derzeitigen Erkenntnislage die allgemeine wirtschaftliche und soziale Lage für die Mehrheit der Bevölkerung in Nigeria problematisch ist. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung, nach den vorliegenden Erkenntnissen ca. 70% der Bevölkerung, lebt am Existenzminimum (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, Stand: September 2019, S. 8, 21), der größte Teil der Bevölkerung hat nur unter erschwerten Bedingungen Zugang zu Wasser und Strom, es existiert kein staatlich organisiertes Hilfsnetz für Bedürftige und Leistungen der allgemeinen Kranken- und Rentenversicherung kommen nur Beschäftigen im formellen Sektor und damit schätzungsweise nur 10% der Bevölkerung zugute. Die medizinische Versorgung ist zudem gerade auf dem Land mangelhaft und liegt auch in den Großstädten in der Regel unter europäischem Standard (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, Stand: September 2019, S. 22). Darüber hinaus werden die Rechte des Kindes in Nigeria nur unzureichend gewährleistet; zwei Drittel der Kinder werden nicht richtig oder unterernährt. Die staatlichen Schulen sind im Allgemeinen in einem schlechten Zustand und Gewalt und sexuelle Übergriffe gegenüber Schülerinnen und Schülern sind an den meisten Schulen Alltag. Schließlich besuchen nur gut 60% der Kinder die Primarschule und nur 40% die Sekundarstufe. Kinderarbeit und -prostitution, Vernachlässigung und Aussetzung von Kindern sind verbreitet (Auswärtiges Amt, Stand: September 2017, S. 15 sowie Stand: September 2019, S. 14). Ferner ist die Situation für alleinstehende Frauen in Nigeria - und damit auch für deren Kinder - nach den vorliegenden Erkenntnismitteln besonders schwierig. So ist davon auszugehen, dass sie trotz der in der Verfassung verankerten Gleichberechtigung von Mann und Frau in vielen Rechts- und Lebensbereichen benachteiligt und diskriminiert werden. Da es in Nigeria keine staatliche finanzielle oder soziale Unterstützung gibt, sind alleinstehende Frauen meist von finanziellen Zuwendungen durch die (Groß-)Familie, Nachbarn oder Freunde abhängig. Jedoch ist es auch für den Personenkreis der alleinstehenden Frauen nicht unmöglich bzw. ausgeschlossen, sich eine wirtschaftliche Grundexistenz zu schaffen und ohne Hilfe Dritter zu überleben, so etwa im Südwesten des Landes und in den Städten, in denen alleinstehende Frauen eher akzeptiert werden (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, Stand: September 2017, S. 16 f. sowie Stand: September 2019, S. 14 f.). Auch insoweit kann nur in besonders gelagerten Einzelfällen ein Abschiebungsverbot bestehen (vgl. VG Aachen, U.v. 24.5.2012 - 2 K 2051/10.A - juris Rn. 32).
29
Vorliegend ist nicht ersichtlich, dass im Fall einer Rückkehr des Antragstellers nach Nigeria die zu erwartende Situation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit einer derartig erheblichen Gefahrensituation verbunden wäre, aufgrund derer ein „ganz außergewöhnlicher Fall“ vorläge, in dem die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ wären. Bei einer Gesamtschau der Lebensverhältnisse des Antragstellers ist auch unter Berücksichtigung der zweifellos schwierigen wirtschaftlichen, sozialen und humanitären Bedingungen, die für den Großteil der Bevölkerung Nigerias bestehen, die Befürchtung nicht gerechtfertigt, dem Antragsteller werde es mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht gelingen, für sich in Nigeria den existentiellen Lebensunterhalt zu sichern, ein Obdach zu finden und Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung zu erhalten. Denn der Antragsteller ist jung und gesund. Für eine mangelnde Erwerbsfähigkeit bestehen keine Anhaltspunkte; nach den Angaben im Antrag auf Prozesskostenhilfe arbeitet der Antragsteller in Deutschland gegen Lohn als Lagerist. Es ist deshalb zu erwarten, dass er in der Lage sein wird, etwa durch eine bereits ausgeübte Tätigkeit, Gelegenheitsjobs oder ungelernte Tätigkeiten das erforderliche Existenzminimum zu erwirtschaften. Im Übrigen kann der Antragsteller möglicherweise auch mit der Unterstützung seiner in Nigeria verbliebenen Familie (siehe dazu die Niederschrift über die informatorische Anhörung am 13.10.2020) rechnen.
30
Die COVID-19 Pandemie und die befürchteten wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie ändern an dieser Beurteilung nichts.
31
Laut den allgemein zugänglichen Quellen gibt es gegenwärtig in Nigeria 67.412 bestätigte Corona-Fälle (Deutschland: 1.042.700), davon 4.357 aktuelle Fälle (Deutschland: 304.300) und 1.173 Todesfälle (Deutschland: 16.123), Stand: 29.11.2020;
32
siehe etwa Nigeria Centre for Disease Control, https://www.ncdc.gov.ng/;
33
https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/2020-07-14-de.pdf? blob=publicationFile),
34
was angesichts einer Gesamtbevölkerung von ca. 200 Millionen (Deutschland: 83 Millionen) einem Prozentsatz von etwa 0,000337 (Deutschland: 0,012563) entspricht).
35
Bei diesen Zahlen fehlen zum jetzigen Entscheidungszeitpunkt greifbare Anhaltspunkte für eine ein Abschiebungsverbot rechtfertigende so erhebliche Verschlechterung der humanitären Lage und der allgemeinen Lebensbedingungen durch die Covid-19 Pandemie, dass von einem ganz außergewöhnlichen Fall und zwingenden humanitären Gründen gesprochen werden könnte. Auch wenn sich die wirtschaftliche Situation in Nigeria aufgrund der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie verschlechtert hat (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderinformation COVID-19-Pandemie, Die Gesundheitssysteme in den Top-10-Herkunftsländern, Stand: 06/2020, S. 28 f.; EASO Special Report: Asylum Trends on COVID-19 vom 11.6.2020, S. 15; BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Kurzinformation der Staatendokumentation Afrika, COVID-19 - aktuelle Lage vom 10.6.2020, S. 3 und 8 f.), hält es das Gericht zum jetzigen maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt nicht für hinreichend beachtlich wahrscheinlich, dass sich die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse derart negativ entwickeln werden, dass von einer grundsätzlich abweichenden Beurteilung der Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ausgegangen werden kann. Hierzu führte bereits das Verwaltungsgericht Würzburg mit Gerichtsbescheid vom 1.7.2020, Az. W 8 K 20.30151 - juris Rn. 35 folgendes aus: „Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass gerade hinsichtlich der wirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Pandemie ein Gegensteuern des nigerianischen Staates erkennbar ist. So wurde ein Notfallfonds für das „Nigeria Centre for Disease Control“ eingerichtet, ebenso wie Konjunkturpakete, um die Auswirkungen für Haushalte und Betriebe zu lindern; außerdem wurden Nahrungsmittel verteilt (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderinformation COVID-19-Pandemie, Die Gesundheitssysteme in den Top-10-Herkunftsländern, Stand: 06/2020, S. 28 f.; BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Kurzinformation der Staatendokumentation Afrika, COVID-19 - aktuelle Lage vom 10.6.2020, S. 3 und 8 f.; https://reliefweb.int/report/nigeria/nigeria-humanitarian-fund-allocation-covid-19-and-humanitarian-response, vom 16.6.2020; https://www.theafricareport.com/26444/coronavirus-recession-in-nigeria-likely-despite-measures-in-place/, vom 20.4.2020). Darüber hinaus hat der internationale Währungsfonds Soforthilfen für Nigeria in Höhe von 3,4 Milliarden US-Dollar gewährt (https://www.imf.org/en/News/Articles/2020/04/28/pr20191-nigeria-imf-executive-board-approves-emergency-support-to-address-covid-19, vom 28.4.2020)“. Diesen Ausführungen schließt sich das Gericht an.
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Dass der Antragsteller an dem Virus erkranken könnte und die Erkrankung einen so schweren Verlauf nehmen könnte, dass insoweit das Existenzminimum des Antragstellers von ihm nicht mehr sichergestellt werden könnte, ist angesichts der derzeitigen Kenntnisse somit nicht beachtlich wahrscheinlich.
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Insgesamt liegen daher die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht vor. Auch die Verletzung anderer Menschenrechte und Grundfreiheiten der EMRK kann angesichts des Vortrags des Antragstellers und der dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel nicht festgestellt werden.
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b. Ebenso wenig sind die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ersichtlich.
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Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für ihn eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Unerheblich ist dabei, von wem die Gefahr ausgeht und auf welchen Umständen sie beruht. Für die Annahme einer „konkreten“ Gefahr im Sinne dieser Vorschrift genügt aber nicht die bloße Möglichkeit, Opfer von Eingriffen in die geschützten Rechtsgüter zu werden. Vielmehr ist insoweit der Maßstab der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ anzuwenden und zwar unabhängig davon, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. „Konkret“ ist die Gefahr, wenn die Verschlechterung „alsbald“ nach der Rückkehr des Betroffenen in den Heimatstaat einträte, weil er dort auf unzureichende Möglichkeiten der Behandlung seiner Leiden träfe und anderswo wirksame Hilfe nicht in Anspruch nehmen könnte (vgl. BVerwG, U.v. 25.11.1997 - 9 C 58/96 - juris Rn. 13; U.v. 22.3.2012 - 1 C 3/11 - juris Rn. 34; OVG Münster, U.v. 18.1.2005 - 8 A 1242/03.A - juris Rn. 53; BayVGH, B.v. 23.5.2017 - 9 ZB 13.30236 - juris Rn. 28). Zudem muss eine auf den Einzelfall bezogene, individuell bestimmte und erhebliche, also auch alsbald nach der Rückkehr eintretende Gefährdungssituation vorliegen und es muss sich um Gefahren handeln, die dem Ausländer landesweit drohen, denen er sich also nicht durch Ausweichen in sichere Gebiete seines Herkunftslandes entziehen kann.
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Gefahren, denen die Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppen allgemein ausgesetzt ist bzw. sind, werden indes allein bei Entscheidungen über eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG berücksichtigt. Allgemeine Gefahren in diesem Sinn unterfallen § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG selbst dann nicht, wenn sie den Einzelnen konkret und individualisierbar zu treffen drohen. Angesichts der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG kann ein Ausländer daher in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG Abschiebungsschutz nur dann beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr in sein Heimatland aufgrund der dortigen Existenzbedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre oder sonst eine individuelle existenzielle Gefahr für ihn besteht. Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 zu gewähren. Die Abschiebung muss somit ausgesetzt werden, wenn der Ausländer ansonsten „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen“ ausgeliefert würde und sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren würden.
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Somit gewährt § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter dem Gesichtspunkt der extremen Gefahrenlage keinen weitergehenden Schutz, als es § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK tut. Liegen also - wie hier - die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevante, extreme Gefahrenlage aus.
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Auch die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot aus gesundheitlichen Gründen liegen nicht vor. Eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen liegt dabei nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfasst also nur einzelfallbezogene, individuell bestimmte Gefährdungssituationen. Eine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes ist also nicht schon bei jeder befürchteten ungünstigen Entwicklung anzunehmen, sondern nur bei außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden und/oder existenzbedrohenden Zuständen, kurz bei existentiellen Gesundheitsgefahren (vgl. BayVGH, B.v. 12.8.2015 - 11 ZB 15.30054 - juris Rn. 10; OVG Münster, B.v. 30.12.2004 - 13 A 1250/04.A - juris Rn. 56). Dabei ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist (§ 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG). Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist (§ 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG).
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Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 i.V.m. § 60a Abs. 2c AufenthG muss der Ausländer eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen (Satz 2). Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung, den lateinischen Namen oder die Klassifizierung der Erkrankung nach ICD 10 sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten (Satz 3). Ergänzend zu den in § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG genannten Anforderungen an eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung sind auch weiterhin die Kriterien heranzuziehen, die das Bundesverwaltungsgericht als Mindestanforderungen an ein qualifiziertes fachärztliches Attest herausgearbeitet hat (vgl. BVerwG, U.v. 11.9.2007 - 10 C 8/07 - BVerwGE 129, 251 ff.). Danach muss sich aus dem fachärztlichen Attest nachvollziehbar ergeben, auf welcher Grundlage der Facharzt seine Diagnose gestellt hat und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt, etwa mit Angaben darüber, seit wann und wie häufig sich der Patient in ärztlicher Behandlung befunden hat und ob die von ihm geschilderten Beschwerden durch die erhobenen Befunde bestätigt werden, deren Behandlungsbedürftigkeit, der bisherige Behandlungsverlauf (Medikation und Therapie) sowie im Fall einer auf traumatisierende Erlebnisse im Heimatland gestützten PTBS, deren Symptome erst längere Zeit nach der Ausreise aus dem Heimatland vorgetragen werden, in der Regel auch eine Begründung dafür, warum die Erkrankung nicht früher geltend gemacht wurde.
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Gemessen hieran liegen dem Gericht keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür vor, dass der Antragsteller an einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung leidet, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde. Der Antragsteller hat lediglich unspezifisch angegeben, an Depressionen zu leiden; er sei nicht in ärztlicher Behandlung (siehe Niederschrift über die informatorische Anhörung vom 13.10.2020).
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Dasselbe gilt unter Berücksichtigung der derzeitigen COVID-19 (sog. Corona-) Pandemie. Die Gefahr, an einer Corona-Infektion zu erkranken, ist auch in Nigeria eine Gefahr, der die dortige Bevölkerung allgemein ausgesetzt ist. Derartige Gefahren werden allein bei Entscheidungen über eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG berücksichtigt. Allgemeine Gefahren in diesem Sinn unterfallen § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG selbst dann nicht, wenn sie den Einzelnen konkret und individualisierbar zu treffen drohen. Angesichts der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG kann ein Ausländer daher in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG Abschiebungsschutz nur dann beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr in sein Heimatland aufgrund der dortigen Existenzbedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre oder sonst eine individuelle existenzielle Gefahr für ihn besteht. Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 zu gewähren. Die Abschiebung muss somit ausgesetzt werden, wenn der Ausländer ansonsten „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen“ ausgeliefert würde und sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren würden.
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Diese Voraussetzungen einer solchen landesweiten Extremgefahr sind in Nigeria auch im Hinblick auf die COVID-19 Pandemie nicht erfüllt. Eine individuelle, außergewöhnliche Gefahrenlage in diesem Sinne, welche die Schwelle der allgemeinen Gefährdung übersteigt, ist für den Antragsteller im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung auch bei Berücksichtigung der oben ausgeführten Verbreitung des Corona-Virus nicht erkennbar. Der Antragsteller müsste sich überdies genauso wie bei anderen Erkrankungen gegebenenfalls mit den Behandlungsmöglichkeiten in Nigeria behelfen (vgl. VG Würzburg, GB.v. 1.7.2020 - W 8 K 20.30151 - juris Rn. 29ff, 36ff m.w.N.).
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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4. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Eil- und Klageverfahren war abzulehnen, da, wie aus obigen Ausführungen ersichtlich, die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet, § 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO.
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5. Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.