Inhalt

OLG München, Beschluss v. 09.06.2021 – 2 Ws 417/21 H
Titel:

Austausch des Haftgrundes durch Oberlandesgericht im besonderen Haftprüfungsverfahren

Normenkette:
StPO § 112 Abs. 2 Nr. 2, § 112a Abs. 1, Abs. 2, § 121, § 122
Leitsätze:
1. Das Oberlandesgericht ist – auch im Haftprüfungsverfahren nach den § 121, § 122 StPO - befugt, die Fortdauer der Untersuchungshaft erstmals auf den Haftgrund der Fluchtgefahr zu stützen und den dem Haftbefehl bisher allein zugrunde liegenden Haftgrund der Wiederholungsgefahr zurücktreten zu lassen. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
2. Zwar ist Gegenstand der Haftprüfung grundsätzlich allein der vorgelegte vollzogene Haftbefehl und damit auch ausschließlich der gegen den Beschuldigten erhobene Vorwurf mit der Folge, dass das Oberlandesgericht nicht die im Haftbefehl enthaltene prozessuale Tat austauschen oder sie über den Haftbefehl hinaus erweitern darf. Dies gilt jedoch nicht für den Austausch des Haftgrundes - hier Fluchtgefahr anstatt Wiederholungsgefahr. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Untersuchungshaft, besondere Haftprüfung nach sechs Monaten, Fluchtgefahr, Wiederholungsgefahr, Austausch des Haftgrundes
Vorinstanz:
AG München vom 25.11.2020 – ER VIII Gs 3333/20
Fundstelle:
BeckRS 2021, 58720

Tenor

I. Die Fortdauer der Untersuchungshaft des Angeklagten F. H. wird mit der Maßgabe angeordnet, dass der Haftgrund der Fluchtgefahr besteht, während der Haftgrund der Wiederholungsgefahr zurücktritt.
II. Die Haftprüfung wird für die nächsten drei Monate dem Amtsgericht München - Schöffengericht - übertragen.

Gründe

1
Der am 24.11.2020 vorläufig festgenommene Angeklagte H. befindet sich in dieser Sache aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts München vom 25.11.2020 (Az.: ER VIII Gs 3333/20), eröffnet am selben Tag, seitdem ununterbrochen in Untersuchungshaft.
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Ein Urteil ist noch nicht ergangen. Dies macht die Haftprüfung durch das Oberlandesgericht erforderlich.
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Sie hat ergeben, dass zu Recht Untersuchungshaft angeordnet ist, eine Haftverschonung nicht in Betracht gezogen werden kann und das Verfahren wegen der besonderen Schwierigkeiten und des Umfangs der Ermittlungen noch nicht durch ein Urteil abgeschlossen werden konnte.
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1. Hinsichtlich des dringenden Tatverdachts und der Beweislage wird auf die Anklageschrift vom 31.03.2020 verwiesen.
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2. Bei dem Angeklagten liegt der Haftgrund der Fluchtgefahr vor, § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Dem Angeklagten wird Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln und damit die Begehung eines Verbrechens vorgeworfen. Gegenstand des Handeltreibens waren nach den durchgeführten Ermittlungen die „harten“ Drogen Kokain und Heroin. Der Angeklagte ist vielfach und einschlägig vorbestraft: der Auszug aus dem Bundeszentralregister weist insgesamt 19 Einträge auf, auch musste er bereits mehrere Freiheitsstrafen verbüßen (BZR Nrn. 11, 18 und 19). Der Angeklagte hat insoweit mit einem empfindlichen Freiheitsentzug zu rechnen. Angesichts seiner Kontakte in das Betäubungsmittel-Milieu, deren Intensität sich dadurch auszeichnet, dass der Angeklagte nach den durchgeführten Ermittlungen Zugriff auf eine Vielzahl von verschiedenartigen Betäubungsmitteln hatte (Kokain, Heroin, Subutex, MDMA), ist davon auszugehen, dass der Angeklagte, in Freiheit entlassen, untertauchen und sich dem weiteren Verfahren entziehen würde.
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Der ebenfalls vorliegende Haftgrund der Wiederholungsgefahr tritt insoweit nach § 112a Abs. 2 StPO zurück. Der Senat ist - auch im Haftprüfungsverfahren nach den §§ 121, 122 StPO - befugt, die Fortdauer der Untersuchungshaft erstmals auf den Haftgrund der Fluchtgefahr zu stützen und den dem vorliegenden Haftbefehl zugrunde liegenden Haftgrund der Wiederholungsgefahr zurücktreten zu lassen. Zwar ist Gegenstand der Haftprüfung allein der vorgelegte vollzogene Haftbefehl und damit grundsätzlich auch ausschließlich der darin gegenüber dem Beschuldigten erhobene Vorwurf (BGH NStZ-RR 2018, 53). Dies hat indes zunächst nur die Folge, dass der Senat nicht anhand der Ermittlungsergebnisse die im Haftbefehl enthaltene prozessuale Tat austauschen oder sie über den Haftbefehl hinaus erweitern darf (BGH aaO). Mehrere Oberlandesgerichte führen zwar allgemeiner aus, der Senat sei im Rahmen des Haftprüfungsverfahrens nach den §§ 121, 122 StPO zu einer Nachbesserung oder Erweiterung eines bestehenden Haftbefehls nicht befugt (OLG Koblenz NStZ-RR 2006, 143), der Senat könne den Haftbefehl nicht selbst neu fassen (OLG Oldenburg NStZ 2005, 342) und dem Oberlandesgericht fehle die Kompetenz, eine Haftanordnung zu ergänzen oder zu erweitern (OLG Celle StV 2005, 513). All diese vorgenannten Entscheidungen bezogen sich jedoch auf die der Haft zugrunde liegende (prozessuale) Tat und Mängel bei deren Darstellung im Haftbefehl. Jenseits dessen hält die überwiegende Meinung den Senat durchaus für befugt, Anpassungen an dem zu überprüfenden Haftbefehl vorzunehmen. So wurde es etwa für zulässig erachtet, einen Unterbringungsbefehl in einen Haftbefehl umzuwandeln (OLG Jena in BeckRS 2013, 14413), die bislang unterbliebene Prüfung der besonderen Voraussetzungen des § 72 Abs. 1 JGG erst durch das Oberlandesgericht vorzunehmen (OLG Zweibrücken NStZ-RR 2001, 55) oder die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus durch eine solche in einer Entziehungsanstalt zu ersetzen (OLG Saarbrücken NStZ 2015, 660). Die Kommentarliteratur hält auch den Austausch von Haftgründen für möglich (so etwa Wankel in KMR, Bd. 2, 76. EL Aug. 2015, § 122 StPO Rn 15b). Dieser Auffassung schließt sich der Senat jedenfalls für den vorliegenden Fall an. Dem Haftbefehl liegt der Haftgrund der Wiederholungsgefahr zugrunde. Die Voraussetzungen hierfür liegen auch unzweifelhaft vor.
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Darüber hinaus aber besteht - wie dargelegt - auch der Haftgrund der Fluchtgefahr. Zu diesem Haftgrund indessen verhält sich der Haftbefehl nicht. Nach § 112 a Abs. 2 StPO findet Abs. 1 (also der Haftgrund der Wiederholungsgefahr) keine Anwendung, wenn die Haftgründe des § 112 StPO vorliegen. Wäre es dem Senat versagt, seine Haftentscheidung auf den Haftgrund der Fluchtgefahr zu stützen, weil Gegenstand der Überprüfungsentscheidung ausschließlich der Haftbefehl ist und in diesem der Haftgrund der Fluchtgefahr nicht enthalten ist, müsste er den Haftbefehl aufheben. Da der Haftgrund der Fluchtgefahr vorliegt, darf der Haftgrund der Wiederholungsgefahr nicht zur Anwendung kommen; den Haftgrund der Fluchtgefahr indessen dürfte der Senat nicht berücksichtigen. Dies überzeugt nicht. Denn es ist nicht einzusehen, dass ein Haftbefehl deswegen keinen Bestand haben soll, weil tatsächlich mehr Haftgründe bestehen, als zunächst angenommen.
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3. Angesichts der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe ist die Untersuchungshaft nicht unverhältnismäßig, § 120 Abs. 1 Satz 1 StPO.
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Der Senat hat insoweit den grundsätzlichen Freiheitsanspruch des Angeklagten mit den aufgrund der Strafverfolgung gebotenen Freiheitsbeschränkungen abgewogen. Weniger einschneidende Maßnahmen nach § 116 StPO kommen bei einer Gesamtschau und Würdigung der bereits erwähnten Umstände nicht in Betracht. Anders als durch den weiteren Vollzug der Untersuchungshaft lässt sich der staatliche Strafanspruch nicht sichern.
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4. Dem in Haftsachen zu beachtenden Beschleunigungsgebot (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 MRK, § 121 Abs. 1 StPO) wurde entsprochen. Vermeidbare, den Strafverfolgungsorganen anzulastende Verzögerungen liegen nicht vor.
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Wegen des Ablaufs des Ermittlungsverfahrens wird Bezug genommen auf die Zuleitungsberichte der Generalstaatsanwaltschaft München vom 20.05.2021 und der Staatsanwaltschaft München I vom 14.05.2021, die den Beteiligten bekannt gemacht wurden. Die Staatsanwaltschaft München I hat unter dem 31.03.2021 Anklage zum Amtsgericht München - Schöffengericht - erhoben. Die Anklage wurde mit Beschluss vom 29.04.2021 zur Hauptverhandlung zugelassen und Termin zur Hauptverhandlung wurde auf den 10.06.2021 bestimmt.
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Von einem zügigen Fortgang des Verfahrens und dessen zeitnahem Abschluss kann daher ausgegangen werden.
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5. Die Übertragung der weiteren Haftprüfung beruht auf § 122 Abs. 3 Satz 3 StPO.