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OLG München, Beschluss v. 16.04.2021 – 2 Ws 267/21 H
Titel:

Haftbefehl, Untersuchungshaft, Fluchtgefahr, Beschwerde, Haftgrund, Verteidiger, Freiheitsstrafe, Vergewaltigung, Tatverdacht, Wiederholungsgefahr, Verfahren, Haftverschonung, Beschuldigte, Annahme, sexuelle Handlung, Fortdauer der Untersuchungshaft, dringende Tatverdacht

Schlagworte:
Haftbefehl, Untersuchungshaft, Fluchtgefahr, Beschwerde, Haftgrund, Verteidiger, Freiheitsstrafe, Vergewaltigung, Tatverdacht, Wiederholungsgefahr, Verfahren, Haftverschonung, Beschuldigte, Annahme, sexuelle Handlung, Fortdauer der Untersuchungshaft, dringende Tatverdacht
Vorinstanz:
AG München vom -- – 853 Gs 379/21
Fundstelle:
BeckRS 2021, 58718

Tenor

I. Die Fortdauer der Untersuchungshaft des Beschuldigten G. P. wird mit der Maßgabe angeordnet, dass der Beschuldigte in dem unter Ziffer 1 des Haftbefehls geschilderten Fall lediglich des sexuellen Übergriffs dringend verdächtig ist und der Haftgrund der Fluchtgefahr besteht, während der Haftgrund der Wiederholungsgefahr zurücktritt.
II. Die Haftprüfung wird für die nächsten drei Monate dem Amtsgericht München - Ermittlungsrichter - übertragen.
III. Die Haftbeschwerde vom 22.03.2021 ist durch die Haftfortdauerentscheidung des Senats erledigt.

Gründe

1
Der am 30.09.2020 vorläufig festgenommene Beschuldigte P. befindet sich in dieser Sache aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts München vom 01.10.2020 (Az.: ER VIII Gs 2656/20), eröffnet am selben Tage, seit 01.10.2020 ununterbrochen in Untersuchungshaft. Mit Schriftsatz vom 22.03.2021 hat der Verteidiger des Beschuldigten Haftbeschwerde eingelegt und beantragt, den Haftbefehl aufzuheben; über die Beschwerde wurde noch nicht entschieden.
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Ein Urteil ist in der Sache noch nicht ergangen. Dies macht die Haftprüfung durch das Oberlandesgericht erforderlich.
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Sie hat ergeben, dass zu Recht Untersuchungshaft angeordnet ist, eine Haftverschonung nicht in Betracht gezogen werden kann und das Verfahren wegen der besonderen Schwierigkeiten und des Umfangs der Ermittlungen noch nicht durch ein Urteil abgeschlossen werden konnte.
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1. Hinsichtlich des dringenden Tatverdachts und der Beweislage wird auf den Haftbefehl vom 01.10.2020 sowie den Vorlagebericht der Staatsanwaltschaft München I vom 29.03.2021 verwiesen.
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a) Der dringende Tatverdacht wird auch nicht durch das Vorbringen im Beschwerdeschriftsatz des Verteidigers vom 22.03.2021 erschüttert.
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b) Aus dem Haftbefehl ergibt sich allerdings, dass im Fall 1 (Tat zum Nachteil der Geschädigten D.) derzeit lediglich der dringende Verdacht eines sexuellen Übergriffs nach § 177 Abs. 2 Nr. 3 StGB erkennbar ist; für die Annahme eines sexuellen Übergriffs mit Gewalt (§ 177 Abs. 5 Nr. 1 StGB) bestehen hingegen keine zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte. Denn ausweislich der Sachverhaltsschilderung im Haftbefehl näherte sich der Beschuldigte der Geschädigten von hinten und fasste ihr, „für die Geschädigte völlig unvorhersehbar über der Hose von hinten an das Gesäß und in ihren Intimbereich. … Als die Geschädigte sich umdrehte, zog der Beschuldigte seine Hand weg und flüchtete …“. Diese Darstellung entspricht auch den Angaben der Geschädigten bei ihren Vernehmungen.
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Daraus lässt sich die Anwendung von Gewalt nicht ableiten.
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Zwar genügt nach der Rechtsprechung für die Annahme einer Gewaltanwendung bereits eine gewisse körperliche Kraftentfaltung, die von der Person, gegen die sie gerichtet ist, als körperlich wirkender Zwang empfunden wird. Nicht ausreichend ist es hingegen, wenn die körperliche Kraftentfaltung allein in der Vornahme der sexuellen Handlung als solcher besteht (BGH NStZ-RR 2015/172; BGH NStZ-RR 2017/371). Denn insoweit erschöpft sich der Unrechtsgehalt der bloßen körperlichen Wirkung der Tat in den Grundtatbeständen der Abs. 1 und 2 des § 177 StGB (Eisele in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, Rn. 75 zu § 177). Im vorliegenden Fall stellte der Griff ans Gesäß und in den Intimbereich der Geschädigten die sexuelle Handlung dar. Eine darüber hinaus gehende körperliche Kraftentfaltung mit einer entsprechenden Zwangswirkung ist nicht ersichtlich.
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2. Bei dem Beschuldigten liegt der Haftgrund der Fluchtgefahr vor, § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Der ebenfalls vorliegende Haftgrund der Wiederholungsgefahr tritt daher nach § 112 a Abs. 2 StPO zurück.
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a) Der Senat ist - auch im Haftprüfungsverfahren nach den §§ 121, 122 StPO - befugt, die Fortdauer der Untersuchungshaft erstmals auf den Haftgrund der Fluchtgefahr zu stützen und den dem vorliegenden Haftbefehl zugrunde liegenden Haftgrund der Wiederholungsgefahr zurücktreten zu lassen.
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Zwar ist Gegenstand der Haftprüfung allein der vorgelegte vollzogene Haftbefehl und damit grundsätzlich auch ausschließlich der darin gegenüber dem Beschuldigten erhobene Vorwurf (BGH in NStZ-RR 2018/53). Dies hat indes zunächst nur die Folge, dass der Senat nicht anhand der Ermittlungsergebnisse die im Haftbefehl enthaltene prozessuale Tat austauschen oder sie über den Haftbefehl hinaus erweitern darf (BGH aaO.).
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Mehrere Oberlandesgerichte führen zwar allgemeiner aus, der Senat sei im Rahmen des Haftprüfungsverfahrens nach den §§ 121, 122 StPO zu einer Nachbesserung oder Erweiterung eines bestehenden Haftbefehls nicht befugt (OLG Koblenz in NStZ-RR 2006/143), der Senat könne den Haftbefehl nicht selbst neu fassen (OLG Oldenburg in NStZ 2005/342) und dem Oberlandesgericht fehle die Kompetenz, eine Haftanordnung zu ergänzen oder zu erweitern (OLG Celle in StV 2005/513). All diese vorgenannten Entscheidungen bezogen sich jedoch auf die der Haft zugrunde liegende (prozessuale) Tat und Mängel bei deren Darstellung im Haftbefehl.
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Jenseits dessen hält die überwiegende Meinung den Senat durchaus für befugt, Anpassungen an dem zu überprüfenden Haftbefehl vorzunehmen. So wurde es etwa für zulässig erachtet, einen Unterbringungsbefehl in einen Haftbefehl umzuwandeln (OLG Jena in BeckRS 2013, 14413), die bislang unterbliebene Prüfung der besonderen Voraussetzungen des § 72 Abs. 1 JGG erst durch das Oberlandesgericht vorzunehmen (OLG Zweibrücken in NStZ-RR 2001/55) oder die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus durch eine solche in einer Entziehungsanstalt zu ersetzen (OLG Saarbrücken in NStZ 2015/660). Die Kommentarliteratur hält auch den Austausch von Haftgründen für möglich (so etwa Wankel in KMR, Bd. 2, 76. EL Aug. 2015, § 122 StPO Rn 156).
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Dieser Auffassung schließt sich der Senat jedenfalls für den vorliegenden Fall an.
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Dem Haftbefehl liegt der Haftgrund der Wiederholungsgefahr zugrunde. Die Voraussetzungen hierfür liegen auch unzweifelhaft vor.
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Darüber hinaus aber besteht auch der Haftgrund der Fluchtgefahr. Zu diesem Haftgrund indessen verhält sich der Haftbefehl nicht. Nach § 112 a Abs. 2 StPO findet Abs. 1 (also der Haftgrund der Wiederholungsgefahr) keine Anwendung, wenn die Haftgründe des § 112 vorliegen. Wäre es dem Senat versagt, seine Haftentscheidung auf den Haftgrund der Fluchtgefahr zu stützen, weil Gegenstand der Überprüfungsentscheidung ausschließlich der Haftbefehl ist und in diesem der Haftgrund der Fluchtgefahr nicht enthalten ist, müsste er den Haftbefehl aufheben. Denn weil der Haftgrund der Fluchtgefahr vorliegt, darf der Haftgrund der Wiederholungsgefahr nicht zur Anwendung kommen, den Haftgrund der Fluchtgefahr indessen dürfte der Senat nicht berücksichtigen. Dies überzeugt nicht. Denn es ist nicht einzusehen, dass ein Haftbefehl deswegen keinen Bestand haben soll, weil tatsächlich mehr Haftgründe bestehen, als zunächst angenommen.
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Um die Haftfortdauerentscheidung auf den Haftgrund der Fluchtgefahr stützen zu können, war dem Beschuldigten und seinen Verteidigern rechtliches Gehör zu gewähren. Hierzu reichte es nach Meinung des Senats aus, den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme zu den für die Annahme von Fluchtgefahr maßgeblichen Umständen zu geben. Der Senat schließt sich insoweit der Auffassung des OLG Saarbrücken (aaO.) an.
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b) Der Beschuldigte ist zweier tatmehrheitlicher Fälle des sexuellen Übergriffs, in einem Fall davon des sexuellen Übergriffs mit Gewalt sowie der Vergewaltigung dringend verdächtig. Die Taten wurden am 13.09., am 15.09. und am 22.09.2020 und damit in kurzer zeitlicher Abfolge begangenen.
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Für den Tatvorwurf der Vergewaltigung sieht das Gesetz Freiheitsstrafe von nicht unter zwei Jahren vor (§ 177 Abs. 6 S.2 Nr. 1 StGB), für den sexuellen Übergriff mit Gewalt eine solche von nicht unter einem Jahr und für den sexuellen Übergriff Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. Der Beschuldigte hat deshalb eine mehrjährige Freiheitsstrafe und mithin längerfristigen Freiheitsentzug zu gewärtigen, von dem erfahrungsgemäß ein gesteigerter Fluchtanreiz ausgeht. Dieser wird durch tragfähige soziale Bindungen nicht entscheidend herabgemindert. Der Beschuldigte verfügt zwar über einen festen Wohnsitz. Auch geht er einer Tätigkeit als Verkäufer der Zeitschrift „BISS“ nach. Darüber hinaus bestehen jedoch keine belastbaren Bindungen im Inland. Der Beschuldigte ist geschieden. Er ist rumänischer Staatsangehöriger, seine drei Kinder leben in Rumänien. Ausweislich eines Schreibens des Kreisverwaltungsreferats vom 15.10.2020 hat der Beschuldigte über eine strafrechtliche Verurteilung hinaus mit ausländerrechtlichen Maßnahmen zu rechnen. Eine Gesamtwürdigung dieser Umstände lässt es daher wesentlich wahrscheinlicher erscheinen, dass sich der Beschuldigte, in Freiheit entlassen, dem weiteren Verfahren durch Flucht entziehen wird, als sich ihm zuverlässig zur Verfügung zu halten.
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3. Angesichts der Bedeutung der Sache und der inmitten stehenden Straferwartung ist die Untersuchungshaft nicht unverhältnismäßig, § 120 Abs. 1 Satz 1 StPO. Die Fortdauer der Untersuchungshaft auch über sechs Monate hinaus steht zu der zu erwartenden mehrjährigen Freiheitsstrafe weiterhin in einem angemessenen Verhältnis.
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Der Senat hat insoweit den grundsätzlichen Freiheitsanspruch des Beschuldigten mit den aufgrund der Strafverfolgung gebotenen Freiheitsbeschränkungen abgewogen. Weniger einschneidende Maßnahmen nach § 116 StPO kommen bei einer Gesamtschau und Würdigung der bereits erwähnten Umstände nicht in Betracht. Anders als durch den weiteren Vollzug der Untersuchungshaft lässt sich der staatliche Strafanspruch nicht sichern.
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4. Dem in Haftsachen zu beachtenden Beschleunigungsgebot (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 MRK, § 121 Abs. 1 StPO) wurde entsprochen. Vermeidbare, den Strafverfolgungsorganen anzulastende Verzögerungen liegen nicht vor. Insoweit wird Bezug genommen auf den Zuleitungsbericht der Generalstaatsanwaltschaft München vom 29.03.2021 und den umfassenden und erschöpfenden Vorlagebericht der Staatsanwaltschaft München I vom selben Tage, die den Beteiligten bekannt gemacht wurden.
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Von einem zügigen Fortgang des Verfahrens und dessen zeitnahem Abschluss kann daher ausgegangen werden.
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5. Die Übertragung der weiteren Haftprüfung beruht auf § 122 Abs. 3 Satz 3 StPO.
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6. Durch die Entscheidung des Senats nach den §§ 121, 122 StPO war die Haftbeschwerde vom 22.03.2021 für erledigt zu erklären (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Auf. 2020, Rn. 18 zu § 122 mwN.).