Titel:
Abschiebungshaft – Fluchtgefahr
Normenkette:
AufenthG § 62
Leitsatz:
Das Vorliegen einer Fluchtgefahr gem. § 62 AufenthG kann sich aus der Gesamtschau aller bisherigen Anstrengungen eines wiederholt unerlaubt in das Bundesgebiet eingereisten Ausländers ergeben, in Europa bleiben zu wollen. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Abschiebungshaft, Pakistan, Italien, Fluchtgefahr, Schutzbehauptung, wiederholte unerlaubte Einreise, Gesamtschau
Rechtsmittelinstanzen:
LG Traunstein, Beschluss vom 22.04.2021 – 4 T 947/21, 4 T 997/20
BGH Karlsruhe, Beschluss vom 02.08.2022 – XIII ZB 27/22
Fundstelle:
BeckRS 2021, 58572
Tenor
I. Gegen den Betroffenen wird ausländerrechtliche Sicherungshaft in einer Abschiebehafteinrichtung angeordnet.
II. Die Freiheitsentziehung endet spätestens am 05.05.2021.
III. Die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung wird angeordnet.
Gründe
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Der Betroffene ist pakistanischer Staatsangehöriger.
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Ersteineinreise in den Schengenraum erfolgte nach Aktenlage in Italien. Der Betroffene reiste erstmals am 18.11.2015 unerlaubt in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 02.08.20216 beantragte der Betroffenen die Anerkennung als Asylberechtigter. Mit Bescheid vom 03.12.2016 wurde der Asylantrag abgelehnt und die Abschiebung nach Pakistan angeordnet. Die Abschiebungsanordnung ist seit dem 24.03.2018 bestandskräftig. Der Betroffene ist mithin vollziehbar ausreisepflichtig. Sodann war der Aufenthaltsort des Betroffenen für längere Zeit bis zu dessen erneuter unerlaubten Einreise in das Bundesgebiet am 18.10.2020 unbekannt. Der am 19.10.2020 vom Betroffenen erneut gestellte Asylantrag wurde mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 25.11.2020 als unzulässig abgelehnt. Die Abschiebung nach Italien wurde angeordnet. Dieser Bescheid ist seit dem 08.12.2020 bestandskräftig. Mit Verfügung vom 05.02.2021 wurde der Betroffene aus dem Bundesgebiet für vier Jahre ausgewiesen. Grund ist ein Urteil des Amtsgerichts Rosenheim, Aktenzeichen 1 Ds 490 Js 34877/20, vom 20.10.2020 durch welches der Betroffene zu einer Freiheitsstrafe von 5 Monaten verurteilt wurde.
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Der Betroffene gibt an, dass er freiwillig nach Deutschland ausreisen würde, wenn man ihn in Freiheit belassen würde. Er wäre aber auch damit einverstanden nach Italien zu gehen. Soziale Bindungen in Deutschland habe er nur insofern, dass sein Bruder mit seinen Neffen in O. wohnen würde.
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Das im Rahmen des § 106 Abs. 2 S.1 AufenthG i.V.m. § 417 Abs. 1 FamFG als Ausländerbehörde zuständige Landratsamt G.-P. hat gemäß § 417 Abs. 1 FamFG die Freiheitsentziehung des Betroffenen bis längstens 05.05.2021 beantragt.
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Der Betroffene soll nach Italien, dem gemäß Art. 18 der Dublin-III-VO voraussichtlichen zuständigen Mitgliedstaat, abgeschoben werden. Die Abschiebung kann jedoch nicht unmittelbar vollzogen werden. Eine entsprechende Luftabschiebung wurde vom Bayerischen Landesamt für Asyl- und Rückführungssachen für den 05.05.2021 angesetzt.
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Im Rahmen der heutigen Vorführung wurde dem Betroffenen gemäß § 420 Abs. 1 S. 1 FamFG in der gebotenen Weise vor der Entscheidung rechtliches Gehör gewährt.
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Der Haftantrag der beteiligten Ausländerbehörde ist dem Betroffenen übersetzt und damit der gesamte Antragsinhalt bekannt gegeben worden. Ein Abdruck des Antrags ist dem anwaltlich beratenem Betroffenen überlassen worden. Der Betroffene war in der Lage, sich zu sämtlichen Angaben der beteiligten Behörde zu äußern. Es handelt sich vorliegend um einen überschaubaren Sachverhalt, den der Betroffene vor der Anhörung ausreichend erfassen konnte.
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Im Übrigen wird auf das Protokoll Bezug genommen.
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Die beantragte einstweilige Anordnung ist zu erlassen.
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Es bestehen dringende Gründe für die Annahme, dass die Voraussetzungen für die Anordnung der Abschiebungshaft gem. § 62 AufenthG gegeben sind.
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1. Gegen den Betroffenen liegt eine seit dem 24.03.2018 bestandskräftige Abschiebungsanordnung vor.
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Der Betroffene hat nach den vorliegenden Erkenntnissen einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne von Art. 2 lit. b) Dublin-III-VO gestellt, über den in dem Land zu entscheiden ist, wo er gestellt wurde, hier Italien. Gemäß den Bestimmungen der Dublin-III-VO ist dann die Bundesrepublik Deutschland nicht für die Entscheidung über diesen Antrag zuständig. Der Betroffene ist daher nach Italien zu überstellen.
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Die Rechtsmäßigkeit dieser Entscheidung ist durch das Haftgericht nicht zur prüfen (vgl. BGH, Beschluss v. 14.07.2020, Az. XIII ZB 81/19 Rn. 12).
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2. Der Betroffen ist auch aufgrund seiner erneuten unerlaubten Einreise am 18.10.2020 i.S.d. § 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG vollziehbar ausreisepflichtig nach §§ 50, 58 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AufenthG.
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3. Ein zulässiger und ausreichend begründeter Haftantrag der zuständigen Ausländerbehörde im Sinne des § 417 FamFG liegt vor. Der vorliegende Haftantrag des gemäß § 71 Abs. 1 S.1 AufenthG als Ausländerbehörde zuständigen Landratsamt G.-P. genügt insbesondere auch den Darlegungsanforderungen der obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. bspw. BGH vom 15.9.2011, Az. V ZB 123/11, BGH vom 10.5.2012, Az. V ZB 246/11).
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Insbesondere hat die Ausländerbehörde auch die beantragte Dauer der vorläufigen Freiheitsentziehung bis längstens 05.05.2021 schlüssig und nachvollziehbar begründet.
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Das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft Traunstein vorliegend gemäß § 72 Abs. 4 AufenthG nicht erforderlich.
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4. Hindernisse, die der Durchführbarkeit der Abschiebung in das Zielland entgegenstehen würden, sind - über die oben genannten hinaus - derzeit nicht ersichtlich. Unabhängig von der konkreten Dauer der angeordneten Freiheitsentziehung sind keine Gründe ersichtlich, weshalb eine Zurückweisung nicht binnen 3 Monaten - soweit der Betroffene diese Gründe nicht zu vertreten hat (§ 62 Abs. 3 S. 4 AufenthG) - bzw. binnen 6 Monaten (§ 62 Abs. 4 S. 1 AufenthG) vollzogen werden könnte. Es liegt ein gültiges Reisedokument für die Abschiebung nach Italien vor. Der Flug für den 05.05.2021 ist bestätigt.
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5. Es liegen Haftgründe im Sinn von Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO i.V.m. § 2 Abs. 14, 62 Abs. 3a und 3b AufenthG vor.
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Gemäß § 62 Abs. 3a AufenthG wird Fluchtgefahr widerleglich vermutet, wenn
- die Ausreisefrist abgelaufen ist und der Ausländer seinen Aufenthaltsort trotz Hinweises auf die Anzeigepflicht gewechselt hat, ohne der zuständigen Behörde eine Anschrift anzugeben, unter der er erreichbar ist (§ 62 Abs. 3a Nr. 3 AufenthG),
- der Ausländer sich entgegen § 11 Absatz 1 Satz 2 im Bundesgebiet aufhält und er keine Betretenserlaubnis nach § 11 Absatz 8 besitzt (§ 62 Abs. 3a Nr. 4 AufenthG),
- der Ausländer, der erlaubt eingereist und vollziehbar ausreisepflichtig geworden ist, dem behördlichen Zugriff entzogen ist, weil er keinen Aufenthaltsort hat, an dem er sich überwiegend Vorliegend wurde der Betroffene mit Bescheid vom 03.12.2016 schriftlich über die Anzeigepflicht nach § 50 Abs. 4 AufenthG und die Möglichkeit der Anordnung der Abschiebehaft bei Verstoß hiergegen belehrt. Der Betroffene ist somit auf die mit einem Unterlassen der Anzeige des Aufenthaltswechsels verbundenen einschneidenden Folgen hinreichend deutlich hingewiesen worden. Der Betroffene hielt sich spätestens seit dem 12.01.2018 nicht mehr in der ihm zugewiesenen Unterkunft auf.
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Am 18.10.2020 wurde der Betroffene von der Bundespolizei R. aufgegriffen und aufgrund der erneuten illegalen Einreise festgehalten.
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Gegen den Betroffenen besteht weiterhin ein Aufenthaltsverbot aufgrund des Bescheids vom 03.12.2016 deren Wirkungen auf die Dauer von 30 Monaten ab dem Tag der Abschiebung befristet werden. Da der Betroffene vor der ursprünglich beabsichtigten Abschiebung untertauchte, begann die Frist nicht zu laufen. Bei Wiedereinreise im Oktober 2020 bestand ein Aufenthaltsverbot gem. § 11 Abs. 1 AufenthG.
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Der Betroffene ist vollziehbar ausreisepflichtig. Er ist am 18.10.2020 erneut unerlaubt in das Bundesgebiet eingereist. Die Einreise ist gem. § 14 Abs. 1 Nr.1 AufenthG unerlaubt, da der Betroffene einen erforderlichen Pass oder Passersatz gem. § 3 Abs. 1 AufenthG nicht besaß. Weiterhin besaß der Betroffene auch den gem. § 4 Abs. 1 AufenthG erforderlichen Aufenthaltstitel nicht.
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Es ist daher in der Gesamtschau davon auszugehen, dass er sich - entgegen seiner - insbesondere wegen seiner bisherigen Anstrengungen in Europa zu bleiben - als Schutzbehauptung zu qualifizierenden Angaben in der heutigen Einlassung - nicht freiwillig für eine Zurückweisung nach Italien zur Verfügung halten würde und der Verzicht auf eine Freiheitsentziehung die Zurückweisung gefährden würde. Es besteht Fluchtgefahr.
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6. Die Anordnung der Haft ist auch verhältnismäßig. Ein milderes Mittel als die Inhaftierung des Betroffenen zur Sicherung der Zurückweisung ist nicht gegeben. Meldeauflagen, die Verwahrung des Passes oder die Verfügung, sich an einem bestimmten Ort aufzuhalten, sind vor dem Hintergrund der geschilderten Umstände nicht geeignet, die Abschiebung des Betroffenen sicherzustellen. Der Betroffene ist nach Ablehnung seines ersten Asylantrags untergetaucht. Weiterhin hat er durch seine erneute illegale Einreise im Oktober 2020 deutlich zu erkennen gegeben, dass er einer bestehenden Ausreiseverpflichtung nicht freiwillig nachkommen wird.
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Der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne steht vorliegend auch nicht entgegen, dass die Abschiebehaft sich an die am 18.03.2021 endende Strafhaft anschließt. Seitens der Ausländerbehörde wurden entsprechende Anstrengungen unternommenen den Betroffenen bereits am 08.03.2021 aus der Strafhaft heraus nach Italien abzuschieben. Die ursprünglich geplante Abschiebung konnte letztlich wegen fehlenden Routings nicht wie vorgesehen am 08.03.2021 durchgeführt werden.
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Angesichts der relativ kurzen, geplanten Dauer der Freiheitsentziehung geht der Anspruch des Staates auf Einhaltung und Durchsetzung der Rechtsordnung dem Freiheitsinteresse des Betroffenen vor.
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Das Verfahren beruht im Übrigen auf den §§ 416, 418, 419, 420, 421 FamFG.
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Die Anordnung der sofortigen Wirksamkeit der Entscheidung beruht auf § 422 Abs. 2 FamFG und ist erforderlich, da andernfalls der Zweck der Maßnahme nicht erreicht werden könnte.
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Das Verfahren beruht im Übrigen auf den §§ 416, 418, 419, 420, 421 FamFG.
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Bei der JVA E. die eine Aufnahme des Betroffenen zugesichert hat, handelt es sich um eine spezielle Hafteinrichtung im Sinne des § 62a Abs. 1 S.1 und 2. AufenthG i.V.m. Art. 16 der RL 2008/115/EG.