Titel:
Rückführung von Kindern in die Ukraine bei einseitigem Sorgerecht
Normenketten:
IntFamRVG § 14
FamFG § 16
ZPO § 222 Abs. 1
BGB § 187 Abs. 1
HKÜ Art. 3, Art. 12
Leitsätze:
1. Die Antragsgegnerin hat das dem Antragsteller zustehende Sorgerecht für die Kinder iSd Art. 3 HKÜ durch das Verbringen der Kinder nach Deutschland gegen den Willen des Antragstellers und ohne Genehmigung der ukrainischen Behörden verletzt. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das HKÜ stellt in seinem Anwendungsbereich hinsichtlich des Zeitpunkts der widerrechtlichen Verbringung auf den Grenzübertritt ab, da es darauf ankommt, dass ein Kind von dem Vertragsstaat seines gewöhnlichen Aufenthalts in einen anderen Vertragsstaat wechselt. Ob hingegen innerhalb des Vertragsstaats des gewöhnlichen Aufenthalts bereits Sorgerechtsverletzungen stattgefunden haben, ist in Hinblick auf die Frage der Rückführung nach dem HKÜ unerheblich. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
3. Der Ablehnungsgrund nach Art. 13 Abs. 1 lit. b HKÜ ist nicht erfüllt. Hierzu müsste die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für die Kinder verbunden sein oder die Kinder auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringen. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Sorgerecht, Sorgerechtsverletzung, Ukraine, Kinder, Herausgabe, Rückgabe, Zustimmung, unzumutbare Lage, Ablehnungsgrund
Rechtsmittelinstanz:
OLG München, Beschluss vom 23.02.2022 – 12 UF 1132/21
Fundstelle:
BeckRS 2021, 58488
Tenor
Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, die Kinder, geboren am ... , geboren am ... und geboren am ..., derzeitige Anschrift: ..., bis spätestens 2 Wochen nach Rechtskraft dieses Beschlusses in die Ukraine zurückzuführen.
2. Sofern die Antragsgegnerin der Verpflichtung zu 1. nicht nachkommt, wird die Herausgabe der Kinder geboren am ..., geboren am geboren am ..., und ..., an den Antragsteller zum Zwecke der sofortigen Rückführung in die Ukraine angeordnet.
3. Die Antragsgegnerin wird darauf hingewiesen, dass im Falle der Zuwiderhandlung gegen die Anordnung zu 2. ein Ordnungsgeld in Höhe bis zu 25.000,00 EUR und für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden kann, Ordnungshaft bis zu sechs Monaten angeordnet werden kann. Verspricht die Anordnung eines Ordnungsgeldes keinen Erfolg, kann das Gericht Ordnungshaft bis zu sechs Monaten anordnen.
4. Der Gerichtsvollzieher wird zur Durchsetzung der Anordnung zu 2. ermächtigt und beauftragt, die Kinder der Antragsgegnerin oder jeder anderen Person, bei der sie sich aufhalten, wegzunehmen, und dem Antragsteller oder einer anderen von ihm beauftragten Person zu übergeben.
5. Der Gerichtsvollzieher wird ermächtigt, zur Durchsetzung der Anordnung zu 2. unmittelbaren Zwang gegen die Antragsgegnerin oder jede andere aufgrund dieses Beschlusses herausgabepflichtige Person und erforderlichenfalls auch gegen die Kinder anzuwenden. Dies schließt das Betreten und das Durchsuchen der Wohnung der Antragsgegnerin sowie die Wohnung jeder anderen Person ein, bei der sich ein Kind oder die Kinder aufhalten.
6. Der Gerichtsvollzieher wird ermächtigt, die vorgenannten Vollstreckungsmaßnahmen auch zur Nachtzeit und an Sonn- und Feiertagen vorzunehmen.
7. Der Gerichtsvollzieher wird ermächtigt, zur Durchsetzung der Anordnung zu 2. im Bedarfsfall die Unterstützung der Polizei in Anspruch zu nehmen.
8. Das Kreisjugendamt wird angewiesen,
1. Vorkehrungen zur Gewährleistung der sicheren Herausgabe der Kinder an den Antragsteller zu treffen,
2. die Kinder nach Vollstreckung der Herausgabe gegebenenfalls vorläufig bis zur Rückführung in die Obhut einer für geeignet befundenen Einrichtung oder Person zu geben,
3. Kontakt zu den ukrainischen Jugendbehörden aufzunehmen, um dort geeignete Schutzmaßnahmen für die Kinder in die Wege zu leiten.
9. Eine Vollstreckungsklausel ist für die Vollstreckung nicht erforderlich.
10. Die Kosten des Verfahrens einschließlich der Kosten erforderlich werdender Zwangsvollstreckung und der Rückführung werden der Antragsgegnerin auferlegt.
11. Die Entscheidung wird erst mit Rechtskraft wirksam.
12. Der Verfahrenswert wird auf 4.000,00 EUR festgesetzt.
Gründe
1
Antragsteller und Antragsgegnerin haben am 11.02.2006 in der Ukraine geheiratet. Sie sind die Eltern der im Rubrum und im Tenor genannten Kinder. Die Kinder lebten bis zum Zeitpunkt des Verbringens nach Deutschland im August 2020 in der ... . Nach ukrainischem Recht steht beiden Eltern das Sorgerecht für die gemeinsamen Kinder zu.
2
Die Antragsgegnerin reiste ohne Wissen und gegen den Willen des Antragstellers zusammen mit den gemeinsamen Kindern die Ukraine über den Grenzübergang Krakiwez aus der Ukraine aus ... . Sie lebt zusammen mit ihrem neuen Lebensgefährten eine freiwillige Rückführung der Kinder lehnt sie ab.
3
Der Antragsteller beantragt
die Rückführung der Kinder in die Ukraine.
4
Der Antrag des Bundesamtes für Justiz vom 30.07.2021 ging per Telefax beim Amtsgericht München am 03.08.2021 ein.
5
Die Antragsgegnerin beantragt den Antrag des Antragstellers abzulehnen. Sie bringt vor, dass sich die Kinder in ihrer Umgebung in Deutschland bestens eingelebt und integriert hätten. Sie habe bereits mit Zustimmung des Antragstellers von September 2016 bis Juni 2018 mit den Kindern in Deutschland gelebt. Der Antragsteller sei ein Straftäter, der sich derzeit in der Ukraine in Haft befindet. Dies sei der Grund, warum sie mit den Kindern die Ukraine verlassen habe. Alle drei Kinder wollten nicht zurück in die Ukraine. Sie würden zwischenzeitlich sehr gut deutsch sprechen und gingen hier zur Schule. Sie könne nicht in die Ukraine zurückkehren, weil sie ihre jüngste Tochter nicht in Deutschland zurücklassen wolle. Für die drei Kinder bestünden in der Ukraine keine Betreuungsmöglichkeit. Der Antragsteller zahle keinen Unterhalt. Er werde voraussichtlich bis 2030 inhaftiert bleiben. Nach ihren Angaben sei sie am 02.08.2021 von Winnyzija mit den Kindern losgefahren.
6
Die Antragsgegnerin und die Kinder wurden vom Gericht persönlich angehört. Das Jugendamt hatte Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Verfahrensbeiständin gab mündlich und schriftlich Stellungnahmen ab. Auf die Vermerke über die mündliche Verhandlung vom 23.09.2021 und die Kindesanhörung vom 23.09.2021 wird Bezug genommen.
7
Der Rückführungsantrag ist zulässig.
8
Der Antrag auf Herausgabe und Rückführung der Kinder in die Ukraine gründet sich auf Artikel 12 Abs. 1 des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung vom 25.10.1980 (HKÜ), ergänzt durch Vorschriften der Brüssel II a Verordnung.
9
Sowohl die Bundesrepublik Deutschland als auch die Ukraine sind Mitgliedsländer des HKÜ.
10
Das Übereinkommen ist anwendbar, die Kinder sind noch keine 16 Jahre alt.
11
Das angerufene Gericht ist gemäß § 11 Nr. 1, § 12 Abs. 1 IntFamRVG zuständig.
12
Der Rückführungsantrag ist begründet.
13
Die Antragsgegnerin hat das dem Antragsteller zustehende Sorgerecht für die Kinder im Sinne des Artikel 3 HKÜ durch das Verbringen der Kinder nach Deutschland gegen den Willen des Antragstellers und ohne Genehmigung der ukrainischen Behörden verletzt.
14
Soweit der Antragsteller in seiner Erklärung vom 02.09.2021 angibt, dass „ … vorbehaltlich des urkundlichen Einverständnisses der Mutter der Kinder zur ungehinderten Kommunikation zwischen Vater und Kindern sowie zur Teilnahme an deren Erziehung und Kommunikation werde ich vielleicht keine Einwände gegen den vorübergehenden Aufenthalt der Kinder in Deutschland haben“, kommt darin keine Genehmigung i.S.v. Art. 13 Abs. 1 lit. A) HKÜ zum Ausdruck. Vielmehr bringt der Antragsteller in dieser Erklärung vom 02.09.2021 seinen entgegenstehenden Willen dadurch zum Ausdruck, dass er von einer Täuschung des Grenzschutzdienstes durch die Antragsgegnerin mittels einer Entscheidung des Bezirksgerichts Winnyzia vom 23.08.2013 in der Sache Nr. 128/3983/13, mit der der Antragsteller als vermisst bezeichnet werde, spricht.
15
Die Jahresfrist des Art. 12 Sz. 1 HKÜ ist eingehalten. Ausweislich der Bescheinigung des staatlichen Grenzdienstes der Ukraine vom 11.01.2021 haben die Kinder erst am 03.08.2020 um 02:50 Uhr das Staatsgebiet der Ukraine verlassen. Das HKÜ stellt in seinem Anwendungsbereich hinsichtlich des Zeitpunkts der widerrechtlichen Verbringung auf den Grenzübertritt ab, da es darauf ankommt, dass ein Kind von dem Vertragsstaat seines gewöhnlichen Aufenthalts in einen anderen Vertragsstaat wechselt. Ob hingegen innerhalb des Vertragsstaats des gewöhnlichen Aufenthalts bereits Sorgerechtsverletzungen stattgefunden haben, ist in Hinblick auf die Frage der Rückführung nach dem HKÜ unerheblich (vgl. Gsell/Krüger/Lorenz/Reymann, Rn. 9 zu Art. 12 HKÜ).
16
Vorliegend fällt das fristauslösende Ereignis ausweislich der Grenzübertrittsbescheinigung auf den 03.08.2020. Gemäß § 222 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 187 Abs. 1 BGB und § 14 IntFamRVG sowie § 16 Abs. 2 FamFG endete die Frist i.S.v. Art. 12 Sz. 1 HKÜ am 03.08.2021. An diesem Tag ging der Antrag des Bundesamtes für Justiz beim Amtsgericht München ein. Auf die Frage des Einlebens nach Art. 12 Sz. 2 HKÜ kann deshalb hier nicht abgestellt werden.
17
Der Ablehnungsgrund nach Artikel 13 Abs. 1 Buchstabe b HKÜ ist nicht erfüllt. Hierzu müsste die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für die Kinder verbunden sein oder die Kinder auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringen. Beides ist nicht gegeben.
18
Nur ungewöhnlich schwerwiegende Beeinträchtigungen des Kindeswohls, die sich als besonders erheblich, konkret und aktuell darstellen, stehen einer Rückführung der Kinder entgegen (BVerfGE 99, 145). Mit der Rückführung typischerweise verbundene Beeinträchtigungen wie Wegfall der Umgebung und ggf. sogar Trennung von der Hauptbezugsperson reichen nicht aus. Denn sie sind die typischen Folgen der Entführung und grundsätzlich als unvermeidbar hinzunehmen. Es steht dem Entführer frei und ist ihm grundsätzlich zumutbar, mit den Kindern in das Herkunftsland zurückzukehren und dort entsprechende gerichtliche Sorgerechtsverfahren zu führen.
19
Die Kinder haben sich zwar sowohl gegenüber der Verfahrenspflegerin und dem Jugendamt, als auch in der gerichtlichen Anhörung vom 23.09.2021 gegen eine Rückkehr in die Ukraine ausgesprochen. Die Kinder sind seit August 2020 wieder in Deutschland. Deutsche Sprachkenntnisse sind unzweifelhaft vorhanden - nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund früherer Aufenthalte in Deutschland -, so dass von einer gewissen Eingewöhnung hier auszugehen ist.
20
Zielsetzung des HKÜ ist letztendlich die Rückführung der Kinder in den ursprünglichen Vertragsstaat. Die konkrete Ausgestaltung der Ausübung des Sorgerechts durch den Antragsteller - auch unter Berücksichtigung der Haft - ist hingegen alleine nach dem innerstaatlichen Recht zu entscheiden. Der Umstand, dass sich der Antragsteller in Untersuchungs- bzw. Strafhaft befindet, führt per se nicht dazu, dass er das Sorgerecht für die gemeinsamen Kinder verliert. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf den Vortrag der Antragsgegnerin im Schriftsatz vom 18.08.2021, wonach der Antragsteller bereits am 27.04.2017 festgenommen wurde und anschließend zu einer Haftstrafe von 9 Jahren und 6 Monaten verurteilt wurde. Bis zur Ausreise der Kinder am 03.08.2020 hinderte die Inhaftierung des Antragstellers schon damals nicht die Ausübung seines Sorgerechts.
21
Als Ergebnis der Anhörung der Kinder ist festzustellen, dass die Kinder dort Kontakt zu den Großeltern hatten und diese wiederum - wenn auch nur telefonisch, bedingt durch die Inhaftierung - den Kontakt zum Vater aufrecht erhielten.
22
Anhaltspunkte für die Annahme einer schwerwiegenden Gefahr oder einer unzumutbaren Lage, die die Rückführung hindern würden, waren insgesamt nach Ansicht des Gerichts den Äußerungen und den Stellungnahmen des Jugendamtes und der Verfahrensbeiständin nicht zu entnehmen.
23
Die Vollstreckungsentscheidungen beruhen auf § 44 IntFamRVG, §§ 88 ff. FamFG. Die Vollstreckung der Kindesherausgabe erfolgt nach § 156 GVGA.
24
Die Kostenentscheidung beruht auf § 20 Absatz 2 IntFamRVG, § 81, § 92 Absatz 2 FamFG, Artikel 26 Absatz 4 HKÜ. Die Festsetzung des Verfahrenswerts folgt § 45 FamGKG.
25
Die Entscheidung wird erst mit Rechtskraft wirksam, § 40 Absatz 1 IntFamRVG.