Titel:
Kein unrichtiges Gesundheitszeugnis
Normenkette:
StGB § 278, § 279
Leitsätze:
1. Ein Gesundheitszeugnis iSd § 278 StGB kann unabhängig von dessen konkreten Inhalt bereits dann „unrichtig“ sein, wenn die für die Beurteilung des Gesundheitszustandes erforderliche Untersuchung nicht durchgeführt wurde. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein ärztliches Attest enthält nicht nur deshalb eine unwahre Aussage über den Gesundheitszustand, weil darin weder eine konkrete Diagnose noch ein ICD 10-Code enthalten ist, sondern lediglich pauschale allgemeine ärztliche Einschätzungen, die dem weiten Ermessensspielraum eines Arztes und seiner hieraus folgenden Therapiefreiheit unterliegen. (Rn. 26 – 27) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
ärztliches Attest, Gesundheitszustand, Diagnose, Behandlungsmethode, unrichtige Angaben, medizinisch notwendig, freie Therapiewahl
Vorinstanz:
AG Neumarkt, Urteil vom 11.05.2021 – 20 Cs 409 Js 50380/21
Rechtsmittelinstanz:
BayObLG, Urteil vom 18.07.2022 – 203 StRR 179/22
Fundstelle:
BeckRS 2021, 58027
Tenor
1. Die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Amtsgerichts Neumarkt i.d.OPf. Vom 11.05.2021 wird als unbegründet verworfen.
2. Die Staatskasse trägt die Kosten des Berufungsverfahrens und die notwendigen Auslagen der Angeklagten.
Entscheidungsgründe
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Das Amtsgericht Neumarkt hat die Angeklagte mit Urteil vom 11.5.2021 vom Vorwurf des Gebrauchs unrichtiger Gesundheitszeugnisse gemäß § 279 StGB freigesprochen. Gegen dieses Urteil hat die Staatsanwaltschaft mit Schriftsatz vom 12.5.2021 ein „Rechtsmittel“ eingelegt, das beim Amtsgericht am selben Tag eingegangen ist. Dieses Rechtsmittel wurde als Berufung weitergeführt und nach einem entsprechenden Hinweis der Berufungskammer auf Nr. 156 RiStBV schließlich mit Schreiben vom 28.7.2021 begründet.
2. Zulässigkeit und Begründetheit der Berufung
2
Die Berufung der Staatsanwaltschaft ist statthaft, ferner form- und fristgerecht eingelegt und erweist sich mithin als zulässig (§§ 312, 314 StPO).
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In der Sache selbst hatte die Berufung der Staatsanwaltschaft jedoch keinen Erfolg. Die Angeklagte war teils aus rechtlichen, teils aus tatsächlichen Gründen freizusprechen.
II. Ursprünglicher Tatvorwurf
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Nach dem von der Staatsanwaltschaft beantragten Strafbefehl wurde der Angeklagten vorgeworfen, am 6.11.2020 einer Polizeikontrolle unterzogen worden zu sein, weil sie trotz der Corona-Pandemie keine nach dem Bay IfSG vorgeschriebene Mund-Nasen-Bedeckung getragen habe. Die Angeklagte habe erklärt, sie sei hiervon durch ein Attest befreit. Sie habe den Polizeibeamten ein „vermeintliches ärztliches Attest“ vorgezeigt, das sie im Internet von einem in Österreich ansässigen … gegen Zahlung eines Betrages in Höhe von 20 Euro erworben hatte, ohne von diesem untersucht worden zu sein. Sie habe dabei gewusst oder jedenfalls billigend in Kauf genommen dass es sich hierbei nicht „um ein in der Bundesrepublik Deutschland anerkanntes ärztliches Attest“ gehandelt habe. Sie habe das Attest verwendet, um bei Kontrollen „den Eindruck zu erwecken, aufgrund ihres Gesundheitszustandes von der Pflicht, einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen, befreit zu sein“.
1. Zur Person der Angeklagten
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Die im Zeitpunkt der Berufungshauptverhandlung 51-jährige Angeklagte ist von Beruf Disponentin und verfügt über ein monatliches Nettoeinkommen in Höhe von ca. 2000 Euro. Sie hat keine Unterhaltsverpflichtungen.
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Der Auszug aus dem Bundeszentralregister enthält für die Angeklagte keinen Eintrag.
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Die Angeklagte wurde am 6.11.2020 gegen 15:30 Uhr in der … einer Polizeikontrolle unterzogen, weil sie trotz der Corona-Pandemie keine nach dem Bay IfSG vorgeschriebene Mund-Nasen-Bedeckung trug. Im Rahmen der Polizeikontrolle erklärte die Angeklagte gegenüber den Polizeibeamten, sie sei aufgrund eines Attestes von der Pflicht, eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen befreit. Als Nachweis zeigte sie den Beamten ein Schriftstück vor, das mit „Ärztliches Attest Sars-CoV-2-Eindämmungsverordnung“ überschrieben ist und als Aussteller einen Dr. … Arzt für psychosomatische und psychotherapeutische Arbeits- und Allgemeinmedizin … ausweist. Das Attest enthält nach Aufführung der Personalien der Angeklagten folgende Bestätigung: „Hiermit bestätige ich, dass das Tragen von einer den Mund- und Nasenbereich abdeckenden mechanischen Schutzvorrichtung für die oben genannte Person aus gesundheitlichen Gründen kontraindiziert, wissenschaftlich belegbar gesundheitsschädlich und im Sinne der Psychohygiene traumatisierend und damit unzumutbar ist.“
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Die Angeklagte ist auf den ausstellenden Arzt im Internet gestoßen und hat ihn am 17.9.2020 mit folgender E-Mail kontaktiert: „Sehr geehrter Herr Dr. …“, ich bitte Sie um ein Attest für Maskenbefreiung. Ich werde beim Tragen der Maske schnell kurzatmig und mein Puls schnellt hoch. Dadurch bekomme ich Kreislaufprobleme und hyperventiliere und laufe Gefahr ohnmächtig zu werden. Auf Abstand zu achten ist für mich selbstverständlich, das Tragen der Maske ist jedoch für mich nicht möglich. Vielen Dank im Voraus. Schöne Grüße … (es folgen die Personalien der Angeklagten).
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Der Angeklagten wurde das Attest gegen Zahlung einer Gebühr in Höhe von 20 Euro ausgestellt.
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Es konnte in der Beweisaufnahme nicht festgestellt werden, dass die Angeklagte in der E-Mail unzutreffende Angaben gemacht hat. Auch kann nicht festgestellt werden, dass das von Dr. … ausgestellte Attest unrichtige Angaben enthält. Soweit in dem Attest dennoch objektiv unrichtige Angaben enthalten sein sollten, kann der Angeklagten nicht nachgewiesen werden, dass sie dies erkannt hat und das Attest vorgelegt hat, um über ihren Gesundheitszustand zu täuschen.
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Die Angeklagte befindet sich zwischenzeitlich im Besitz zweier weiterer ärztlicher Atteste, die bestätigen, dass es ihr unzumutbar sei, im Alltag eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen. Das Attest vom 8.6.2021 ist von einem Facharzt für Allgemeinmedizin … ausgestellt und nennt folgende ICD 10 Codes: F 41. 8G, R06.4G, R06.0 G und R 51G (Angststörungen, Atemnot). In einem weiteren Attest vom 15.09.2021 eines Dr. … sind verschiedene handschriftlich eingetragene - schlecht leserliche - ICD-Codes genannt.
IV. Beweiswürdigung/rechtliche Würdigung
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Die obigen Feststellungen zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen beruhen auf den insoweit glaubhaften Angaben der Angeklagten. Die Feststellungen zum strafrechtlichen Vorleben beruhen auf dem in der Berufungshauptverhandlung verlesenen und von der Angeklagten als richtig anerkannten Auszug aus dem Bundeszentralregister.
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a) Die Angeklagte hat sich dahingehend eingelassen, sie sei im Internet auf den Arzt Dr. … gestoßen, dem sie in einer E-Mail wahrheitsgemäß ihre physischen und psychischen Beschwerden unterbreitet habe und um die Ausstellung eines ärztlichen Attestes gebeten habe. Sie habe dieses Attest dann gegen eine Gebühr in Höhe von 20 Euro erhalten. Sie sei davon ausgegangen, dass eine persönliche Untersuchung nicht erforderlich sei. Außerdem habe man aufgrund der Coronasituation zur Tatzeit die Ausstellung von ärztlichen Attesten und Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen aufgrund schriftlicher oder telefonischer Schilderungen ohne weitere ärztliche Untersuchungen erhalten können.
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Im Übrigen habe ihre damalige Hausärztin ihr auch ein ärztliches Attest über die Erforderlichkeit einer fußpflegerischen Behandlung erstellt, ohne sie zuvor untersucht zu haben. Sie verstehe daher nicht, weshalb dies möglich sei, nicht jedoch die Ausstellung eines Attestes hinsichtlich der Maskenpflicht.
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b) Die Feststellungen zur Polizeikontrolle am 6.11.2020 und zur Vorlage des Attestes durch die Angeklagte beruhen auf deren glaubwürdigen Geständnis, welches die Anklage insoweit bestätigt.
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Der Inhalt des vorgelegten Attestes wurde durch Verlesen dieses Attestes in die Hauptbehandlung eingeführt.
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Die Feststellungen zu den Umständen, wie die Angeklagte an das Attest gelangt ist, beruhen auf den glaubwürdigen eigenen Angaben der Angeklagten und der verlesenen E-Mail vom 17.9.2020.
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Die Feststellungen zu den aktuellen, in der Berufungshauptverhandlung von der Angeklagten vorgelegten ärztlichen Attesten beruhen auf den verlesenen Attesten.
c) Beweiswürdigung im engeren Sinne/rechtliche Würdigung
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Die Angeklagte ist teilweise aus rechtlichen Gründen freizusprechen.
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Soweit ihr im Strafbefehl der Vorwurf gemacht wird, das Attest sei in der Bundesrepublik nicht anerkannt, handelt es sich um keinen Vorwurf, der einen strafrechtlichen Tatbestand erfüllt. Im Übrigen bleibt die Staatsanwaltschaft eine Begründung dafür schuldig, weshalb dieses Attest grundsätzlich in der Bundesrepublik nicht anerkannt werden kann, bzw. (wenn dies der Fall sein sollte), dass der Angeklagten dies bekannt sein müsste.
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Im Übrigen ist die Angeklagte aus tatsächlichen Gründen freizusprechen.
22
aa) Soweit im Strafbefehl der Vorwurf erhoben wird, das Attest stamme von einem „vermeintlichen Arzt“, bleibt die Staatsanwaltschaft jeglichen Beweis dafür schuldig, dass Dr. … möglicherweise kein Arzt sein könnte. Auch die gesamten Ermittlungsakten geben hierfür keinen Anhaltspunkt und keine Ermittlungsansätze für das Gericht. Selbst wenn Dr. … kein Arzt wäre, ist nichts dafür ersichtlich, dass die Angeklagte dies gewusst hätte oder hätte erkennen können.
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bb) Es ist nicht nachweisbar, dass das fragliche Attest vom 1.9.2020 in objektiver Sicht unrichtig ist.
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Zwar kann ein Gesundheitszeugnis i.S. des § 278 StGB - dieser ist für die Strafbarkeit des ausstellenden Arztes maßgeblich - unabhängig von dessen konkreten Inhalt bereits dann „unrichtig“ sein, wenn die für die Beurteilung des Gesundheitszustandes erforderliche Untersuchung nicht durchgeführt wurde. Ein derartiges Gesundheitszeugnis enthält nämlich stillschweigend die Erklärung des Arztes mit, dass das Gesundheitszeugnis aufgrund der etwa erforderlichen Untersuchung erstellt wurde.
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Für den Bereich des § 279 StGB - der für die Strafbarkeit des Verwenders eines Gesundheitszeugnis maßgeblich ist - wird allerdings nach h.M. wegen der überschießenden Innentendenz des Tatbestandes zusätzlich gefordert, dass das Gesundheitszeugnis eine unwahre Aussage über den Gesundheitszustand als solchen enthält (vgl. MüKo StGB/Erb, 3. Aufl. 2019 § 279 Rn. 2).
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Derartige unwahre Angaben i.S. von falschen Tatsachen sind im Attest vom 1.9.2020 allerdings nicht erkennbar. Das Attest enthält weder eine konkrete Diagnose noch einen ICD 10-Code. Vielmehr enthält es lediglich pauschale allgemeine ärztliche Einschätzungen, die dem weiten Ermessensspielraum eines Arztes und seiner hieraus folgenden Therapiefreiheit unterliegen. Die Therapiefreiheit bezeichnet einen Grundsatz in der medizinischen Behandlung, nach dem einem Arzt aufgrund seiner fachlichen Kompetenz grundsätzlich die freie Wahl der Behandlungsmethode zusteht, die er dem Patienten vorschlagen will. Hierzu hatte einen breiten Ermessensspielraum bei der Wahl derjenigen Therapie, die medizinisch notwendig erscheint. Hierzu zählt sicherlich auch die Empfehlung, aus gesundheitlichen Gründen auf das Tragen einer Maske zu verzichten. Soweit in dem Attest drauf verwiesen ist, dass das Tragen einer Maske „im Sinne der Psychohygiene unzumutbar“ sei, nimmt dieses Attest Bezug auf die von der Angeklagten in der E-Mail geschilderten subjektiven Beschwerden. Zur Psychohygiene zählen alle Maßnahmen, die dem Schutz und dem Erhalt der psychischen Gesundheit dienen. Dazu gehören Lebensgewohnheiten und Verhaltensweisen, die Personen unterstützen, mit Belastungen (z.B. Stress) umzugehen, sowie tägliche „Pflegemaßnahmen“ für die Seele. Aufgrund der von der Angeklagten geschilderten subjektiven Beschwerden kann die in dem Attest empfohlene Therapie, auf das Tragen einer Maske zu verzichten, nicht in die Kategorie von richtig oder falsch eingeordnet werden, sondern bewegt sich im Rahmen der ärztlichen Therapiefreiheit.
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Der Angeklagten kann ferner nicht nachgewiesen werden, dass die von ihr in Ihrer E-Mail vom 17.9.2020 an Dr. … geschilderten subjektiven Beschwerden nicht vorlagen. Zwar erweckt der Umstand, dass die Angeklagte sich mit diesen Beschwerden nicht an ihren Hausarzt, sondern an einen ihr bis dahin unbekannten Arzt im Internet gewandt hat, durchaus Misstrauen. Dies allein reicht jedoch nicht aus, der Angeklagten bewusst unrichtige Angaben über ihren physischen oder psychischen Gesundheitszustand zu unterstellen. Die von der Staatsanwaltschaft beantragte amtsärztliche Untersuchung ist ein ungeeignetes Mittel, die damals behaupteten Beschwerden der Angeklagten zu falsifizieren. Soweit psychische Beschwerden beim Maskentragen behauptet werden, erfordert eine amtsärztliche Untersuchung eine Mitwirkung der Angeklagten, zu welcher diese nicht bereit und auch nicht verpflichtet ist. Aber auch physische Beschwerden, wie zum Beispiel Kreislaufprobleme beim Maskentragen, können ohne aktive Mitwirkung der Angeklagten bei einer Untersuchung nicht überprüft werden. Der Umstand, dass die Angeklagte nunmehr über ein Attest eines Allgemeinmediziners aus … verfügt, welches ebenfalls die Unzumutbarkeit des Tragens einer Maske bestätigt, ist zumindest ein Indiz dafür, dass diese Beschwerden schon damals vorgelegen haben können.
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cc) Selbst wenn feststünde, dass das Attest objektive Fehler bei der Beurteilung des Gesundheitszustandes der Angeklagten enthält, wäre nicht nachweisbar, dass die Angeklagte bei der Vorlage des Attestes in der Absicht gehandelt hat, über ihren Gesundheitszustand zu täuschen. Die von der Angeklagten subjektiv geschilderten physischen und psychischen Probleme mögen objektiv die Erteilung eines ärztlichen Attestes nicht rechtfertigen. Es kann jedoch auch in diesem Fall nicht davon ausgegangen werden, dass der Angeklagten dies bekannt war oder dass sie dies zumindest billigend in Kauf genommen hat. Nach alledem war die Angeklagte freizusprechen.