Inhalt

Truppendienstgericht Süd München, Beschluss v. 25.11.2021 – S 8 GL 07/21
Titel:

(Keine) Verletzung der Verfassungstreuepflicht durch Oberfeldarzt im Ruhestand

Normenketten:
WDO § 126 Abs. 3, Abs. 5 S. 3
SG § 8, § 23 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1, Alt. 2
Leitsätze:
1. Der Gesetzgeber hat in § 23 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 SG für  ausgeschiedene Offiziere und Unteroffiziere die Betätigung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung dem Dienstvergehen gleichgestellt. Aber nur, wer vorsätzlich aktiv Bestrebungen unterstützt, die sich gegen Kernelemente der Verfassungsordnung richten, die die Bundeswehr zu verteidigen hätte, zerstört das in ihn auch noch im Ruhestand zwingend zu setzende Vertrauen. Auf eine Wiederverwendung, etwa im Rahmen einer Reservedienstleistung, kommt es dabei nicht an. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein als Dienstvergehen geltendes Verhalten gemäß § 23 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 SG setzt voraus, dass eine Wiederverwendung des Offiziers im bisherigen Dienstgrad möglich ist. Überschreitet ein früherer Offizier die Altersgrenze von 65 Jahren und kann darum nicht mehr als Vorgesetzter verwendet werden, entfällt diese fortwirkende Vorgesetztenpflicht als Tatbestandsvoraussetzung der Norm. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
ausgeschiedener Offizier, Ruhestand, Dienstvergehen, Ruhegehalt, Kürzung, soldatische Pflichten, freiheitliche demokratische Grundordnung, Disziplinarverfahren, verfassungsfeindliche Gesinnung, Existenz der Bundesrepublik
Rechtsmittelinstanz:
BVerwG Leipzig, Beschluss vom 29.06.2022 – 2 WDB 3.22
Fundstelle:
BeckRS 2021, 57964

Tenor

Auf den Antrag der früheren Soldatin vom 5. Oktober 2021 werden der Bescheid des Beauftragten für die Angelegenheiten des militärischen Personals der Leitung des Bundesamtes für das Personalmanagement der Bundeswehr vom 9. September 2021 sowie die mit der Einleitungsverfügung vom 11. August 2021 gemäß § 126 Absatz 3 Wehrdisziplinarordnung (WDO) getroffene Anordnung aufgehoben.

Gründe

I.
1
Die heute 65 Jahre alte Antragstellerin trat nach über 24 Dienstjahren in der Bundeswehr am ... im Dienstgrad Oberfeldarzt in den Ruhestand. Sie war ....
2
Am 13. April 2021 nahm die Wehrdisziplinaranwaltschaft für den Bereich des Bundesamtes für das Personalmanagement der Bundeswehr disziplinare Vorermittlungen gegen die frühere Soldatin wegen des Verdachts eines als Dienstvergehen geltenden Verhaltens auf. Der Verdacht beruht auf einer Mitteilung des Bundesamtes für den Militärischen Abschirmdienst vom 12. April 2021, mit der auf zwei Schreiben der Antragstellerin hingewiesen wurde, die diese im März 2021 an das Finanzamt in ... und den Oberbürgermeister der Stadt ... geschickt hatte. Gegenüber der Polizei hatte sie anschließend bekundet, dass die Bundesrepublik Deutschland seit der Wiedervereinigung nicht mehr existiere. Ihren Eid bei der Bundeswehr, an den sie sich heute nicht mehr gebunden sehe, habe sie in Unkenntnis dessen abgelegt. Das Nachrichtendienstliche Informationssystem und Wissensnetz (NADIS), an dem die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder beteiligt sind, wies keine die Antragstellerin betreffenden Eintragungen auf.
3
Mit Verfügung vom 11. August 2021, der Antragstellerin zugestellt am 17. August 2021, leitete der Beauftragte für die Angelegenheiten des militärischen Personals der Leitung des Bundesamtes für das Personalmanagement deswegen das gerichtliche Disziplinarverfahren ein. Zuvor hatte sich die frühere Soldatin zu der beabsichtigten Einleitung geäußert.
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Der Einleitung liegt folgender Verdacht zu Grunde:
"Sie schrieben dem Oberbürgermeister der Stadt ..., Herrn R, am 3. März 2021 (Ziffern 1 bis 7) und dem Leiter des Finanzamts ..., Herrn S, am 26. März 2021 (Ziffern 8 bis 13), womit Sie wissentlich und willentlich zum Ausdruck bringen, dass Sie die Legitimität und Souveränität der Bundesrepublik Deutschland nicht anerkennen und sich unmittelbar gegen den Bestand der Bundesrepublik wenden und ablehnen, wörtlich:
1. „Ich bin Al.[…], Besitzer alloidaler Länder sind souverän“,
2. „Mein Wille ist die bedingungslose Anerkennung meiner und die meiner Abkömmlinge vollständigen Souveränität durch das Handels-, Finanz-, und Verwaltungskonstrukt des im Auftrag weltweit agierenden Treuhandsystems, in Europa „Bund“ und „EU“ genannt […] und deren Dokumentation gegenüber jedem Vertreter der scheinbaren Legislative, Judikative und Exekutive“, wodurch Sie außerdem wissentlich und willentlich zum Ausdruck bringen, dass Sie die Bundesrepublik Deutschland durch ein eigenes geschaffenes Konstrukt ersetzen möchten,
3. „Meine Abkömmlinge, die Enkelsöhne, werden sofort von Schul-, Impfund Testpflicht freigestellt, meine Tochter und ich von der verdeckten Impf- und Testpflicht, vermerkt auf der Maskenbefreiung“,
4. „Wir und unsere Eltern/Vorfahren wurden vorsätzlich und arglistig getäuscht mit der Absicht, uns ohne unser Wissen in das Treuhandsystem zu integrieren bzw. uns gegen unseren Willen und ohne unsere bewusste Zustimmung im Vatikansystem zu halten“,
5. „Gemeinsam bauen wir dort eine intakte möglichst autarke Gemeinde nach dem Vorbild unserer Vorfahren ohne Vormundschaft in Selbstverwaltung auf“,
6. „Das Areal ist meine und das der Beteiligten Stiftung, eine Exklave, ein Staat im „Staate“ im Handels-, Finanz-, und Verwaltungskonstrukt“,
7. „Mich dafür willkürlich zu strafen mit Hilfe von Angehörigen einer POLIZEI und/ oder anderer Uniformträger, Geheimdiensten bzw. mit Hilfe von Schiedsgerichten, die allesamt auf Grundlage nicht gültiger Gesetze ohne hoheitliche Befugnisse agieren“,
8. „Das Finanzamt M., […], dem Sie vorstehen, firmiert u.a. unter der D-U-N-S-Nr. 34-161-1478 und ff. und ist damit eindeutig als privatwirtschaftliches Unternehmen identifizierbar“,
9. „Der „Bund“/ die „Bundesrepublik Deutschland“/ „Germany“ unter D-UN-S-Nr. 34-161-1478 und ff. finanziert sich u.a. aus unfreiwilligen Schenkungen, die er/ sie/ es sich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen und vorsätzlicher Täuschung und arglistig, getarnt unter dem Begriff „Steuerpflicht“, nach Gesetzen von 1934 erpresst“,
10. „Der „Bund“/ die „Bundesrepublik Deutschland“ bzw. „Deutschland“ mit „Länderkennung“ bei der UN täuscht hoheitliche Rechte vor, die er/ sie/ es nicht hat“,
11. „[…] da es seit mindestens 1956 keinen ordnungsgemäß gewählten Gesetz„geber“ gibt“, „Wie das Unternehmen „Bundesverfassungsgericht“ mitteilte, ist das „Deutsche Reich“ nicht untergegangen. Es existiert fort, ist nur mangels Organisation nicht handlungsfähig.“,
12. „Sie als Funktionsträger des Unternehmens „Bund“/ „Bundesrepublik Deutschland“/ „Germany“ sind nicht berechtigt, gültige Gesetze des nicht handlungsfähigen Deutschen Reiches anzuwenden“."
5
Zugleich ordnete der Beauftragte für die Angelegenheiten des militärischen Personals der Leitung des Bundesamtes für das Personalmanagement gemäß § 126 Absatz 2 Satz 1 WDO an, dass 30% des Ruhegehalts der früheren Soldatin einbehalten werden. Zur Begründung führte er nur aus, dass nach Art und Schwere des vorgeworfenen Dienstvergehens im gerichtlichen Disziplinarverfahren mit der Höchstmaßnahme - hier: die Aberkennung des Ruhegehalts - zu rechnen sei. Gründe, die das Einbehalten von 30% des Ruhegehalts als unverhältnismäßig erscheinen lassen, hätte die frühere Soldatin nicht vorgetragen.
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Mit Schreiben vom 24. August 2021 beantragte die frühere Soldatin, die Einbehaltung von 30% ihres Ruhegehalts aufzuheben, da diese auf rechtsunwirksamen Normen des Soldatengesetzes (SG) und der WDO beruhe. Nicht ein einziges Gesetz oder eine Verordnung der Bundesrepublik Deutschland habe Rechtskraft, zumal es keinen legal gewählten Gesetzgeber gebe.
7
Der Beauftragte für die Angelegenheiten des militärischen Personals der Leitung des Bundesamtes für das Personalmanagement holte eine Auskunft über die Höhe der ruhegehaltsfähigen Dienstbezüge ein (Eingang am 3. September 2021) und wies den Antrag auf Aufhebung der Anordnung gemäß § 126 Absatz 5 WDO mit Bescheid vom 9. September 2021 zurück. Eine über die Einleitungsverfügung hinausgehende Begründung erfolgte nicht. Die Entscheidung wurde am 15. September 2021 zugestellt. Daraufhin wandte sich die Antragstellerin an die Einleitungsbehörde, Herrn G. S. persönlich, und stellte unter anderem dar, dass sie sich nun noch mehr einschränken müsse, da Geld sehr knapp werde. Mit Aktenvermerk vom 23. September 2021 hielt die die Ermittlungen führende Wehrdisziplinaranwältin fest, dass die Antragstellerin angebe, Geldprobleme zu haben. In einer Antwort an die Antragstellerin wurde diese auf die Möglichkeit hingewiesen, Antrag an das Truppendienstgericht zu stellen.
8
Mit Schreiben vom 5. Oktober 2021, bei dem Truppendienstgericht Süd anderntags eingegangen, beantragt die frühere Soldatin nunmehr die gerichtliche Entscheidung, „die vorliegende Entscheidung des Personalamts vom 09.09.2021“ zurückzuweisen. Unter anderem führt sie aus, ihr seien 30% ihrer Versorgungsbezüge im Monat Oktober abgezogen worden. Das Bundesverfassungsgericht habe am 25. Juli 2012 geurteilt, dass die Bundesrepublik Deutschland mindestens seit 1956 kein gültiges Wahlgesetz habe. Daraus leite sich die Schlussfolgerung ab, dass es keinen legitimierten Gesetzgeber gebe. Mit anderen anliegenden Urteilen des Bundesverfassungsgerichts unternimmt die Antragstellerin den Versuch einer Begründung, warum alle Verwaltungsakte nichtig und verfassungswidrig seien. Sinngemäß fährt sie fort, auch Bundesgesetze seien verfassungswidrig und bezieht sich im Weiteren u.a. auf Artikel 116 Grundgesetz (GG) und die Haager Landkriegsordnung. Sie erwarte, dass die „nichtige/ ungültige Entscheidung (Verwaltungsakt) des Herrn G.[s] SCH mit sofortiger Wirkung aufgehoben wird, die einbehaltenen 30% des Ruhegehalts für Oktober rückwirkend erstattet werden und ab November 2021 wieder das volle Ruhegehalt ausgezahlt wird“. Dazu seien „die §§ 153a sowie 125 BGB“ nutzbar, um „die Ehre und das Ansehen des Personalamts der Bundeswehr zu wahren“.
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Zu dem Antrag hat die Wehrdisziplinaranwaltschaft am 11. Oktober 2021 Stellung genommen. Die frühere Soldatin sei eine sogenannte „Reichsbürgerin“ und lehne die Bundesrepublik Deutschland nicht etwa ab, sondern negiere deren Existenz. Daher sei die disziplinargerichtliche Höchstmaßnahme zu erwarten. Die frühere Soldatin habe in ihren Anträgen nichts vorgetragen, was zu einer anderen Bewertung führe. Ebenso wenig habe sie Argumente vorgetragen, die den Einbehalt von 30% des Ruhegehalts als unangemessene wirtschaftliche Härte erscheinen ließen.
10
Mit E-Mail vom 9. November 2021 hat die Antragstellerin hierauf erwidert. Sie verbitte sich die Bezeichnung als „Reichsbürger“. Zu ihrer finanziellen Lage führt sie aus, dass ihr nach Abzug aller Kosten und einer Miete von 1.104,95 € noch 400 € zum Leben blieben.
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Die Antragstellerin bezieht ausweislich der Auskunft der Generalzolldirektion, ServiceCenter Stuttgart, vom 30. August 2021 Ruhegehalt aus der Besoldungsgruppe A 15, Stufe 8, in Höhe von monatlich brutto 3.838,84 €, von denen ihr derzeit nach Abzug des angeordneten Kürzungsbetrags netto 2.333,62 € ausgezahlt werden. Nach eigenen Angaben der Antragstellerin stehen dem Mietkosten (in ...) und weitere Auslagen gegenüber, so dass ihr monatlich ca. 400,00 € verbleiben.
12
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der Ermittlungsakte Bezug genommen, die der Kammer bei der Beratung vorlag.
II.
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1. Der Antrag der früheren Soldatin ist auszulegen als ein solcher gemäß § 126 Absatz 5 Satz 3 WDO.
14
Der Antrag auf Entscheidung des Truppendienstgerichts ist zulässig.
15
Gemäß § 126 Absatz 5 Satz 3 WDO kann innerhalb eines Monats nach Zustellung der ablehnenden Entscheidung der Einleitungsbehörde die Entscheidung des Truppendienstgerichts beantragt werden. Ausgehend vom Datum der Zustellung des Bescheides des Beauftragten für die Angelegenheiten des militärischen Personals der Leitung des Bundesamtes für das Personalmanagement an die Antragstellerin am 15. September 2021 ist der am 6. Oktober 2021 bei Gericht eingegangene Antrag fristgerecht erhoben.
16
2. Der Antrag im vorläufigen Verfahren gemäß § 126 Absatz 5 Satz 3 WDO erweist sich als begründet. Die mit der Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens angeordnete Maßnahme hält einer gerichtlichen Überprüfung nach dem Ergebnis der bisherigen Ermittlungen nicht stand.
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Nach § 126 Absatz 3 WDO kann die Einleitungsbehörde gleichzeitig mit der Einleitung oder später anordnen, dass ein Teil, höchstens 30 vom Hundert des Ruhegehalts einbehalten wird, wenn im gerichtlichen Disziplinarverfahren voraussichtlich auf Entfernung aus dem Dienstverhältnis erkannt werden wird.
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a) Eine rechtswirksame Einleitungsverfügung liegt vor. Der Beauftragte für die Angelegenheiten des militärischen Personals der Leitung des Bundesamtes für das Personalmanagement als zuständige Einleitungsbehörde hat der Antragstellerin vorab Gelegenheit gegeben, zum vorgeworfenen Sachverhalt, zur beabsichtigten Einleitung und zu der beabsichtigten Anordnung nach § 126 Absatz 3 WDO Stellung zu nehmen. Hiervon hat die Antragstellerin auch Gebrauch gemacht.
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b) Die Einleitungsverfügung ordnet unter II. den Einbehalt von 30% des Ruhegehalts der früheren Soldatin an (§ 126 Absatz 3 WDO). Diese Anordnung beruht auf einer wirksamen Ermächtigungsgrundlage, genügt aber formell nicht den Anforderungen. Es fehlt an einer ordnungsgemäßen Begründung. Die Verfügung vom 11. August 2021 legt nicht dar, warum das vorgeworfene Verhalten nach Ansicht der Einleitungsbehörde in besonders schwerwiegender Weise gegen die nachwirkenden soldatischen Pflichten verstößt, sodass höchstwahrscheinlich auf die vollständige Aberkennung des Ruhegehalts erkannt werden müsse. Es verbleibt ebenso wie im zurückweisenden Bescheid vom 9. September 2021 bei der bloßen Behauptung, dass nach Art und Schwere des vorgeworfenen Dienstvergehens im gerichtlichen Verfahren auf die Höchstmaßnahme erkannt werden wird. Es finden sich keine Ausführungen dazu, inwieweit das Verhalten der Antragstellerin überhaupt geeignet ist, den ordnungsgemäßen militärischen Dienstbetrieb zu beeinträchtigen.
20
Gründe, die das höchstmögliche Einbehalten vom monatlichen Ruhegehalt als unverhältnismäßig erscheinen lassen, hat die Einleitungsbehörde nicht erkannt. Sie verweist darauf, dass die Antragstellerin auch keine derartigen Gründe vorgetragen habe. Eigene Erkenntnisquellen wurden vor Einleitung nicht erschlossen. Der Akte ist zu entnehmen, dass sich die Wehrdisziplinaranwaltschaft, welche die Einleitungsbehörde gemäß § 81 Absatz 2 Satz 2 WDO vertritt, erst nach erfolgter Einleitung mit der Generalzolldirektion in Verbindung gesetzt hat, um sich ein Bild von den finanziellen Verhältnissen der früheren Soldatin zu verschaffen. Eine Abwägung, aus welchen Gründen und in welcher Höhe eine Ruhegehaltskürzung angemessen sein könnte, konnte folglich gar nicht stattfinden. Eine entsprechende Prüfung wurde auch nicht nachgeholt. Später hat die Wehrdisziplinaranwaltschaft dann zwar die vorgetragenen Geldsorgen der früheren Soldatin zur Kenntnis genommen, aber weder hinterfragt noch entsprechende Schlüsse daraus gezogen.
21
c) Für die betroffene Anordnung bedarf es eines besonderen rechtlichen Grundes. Dieses Erfordernis beruht auf dem Umstand, dass das Gesetz nicht stets bei Einleitung eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens die in § 126 Absatz 1 bis 3 WDO vorgesehenen Maßnahmen anordnet, sondern dafür eine zusätzliche behördliche Einzelfallprüfung vorsieht. § 126 Absatz 3 WDO verlangt insofern, ebenso wie Absatz 2, dass im gerichtlichen Disziplinarverfahren voraussichtlich auf Aberkennung des Ruhegehalts erkannt werden wird (s.a. Dau/ Schütz, WDO, § 126, Rn. 23). Bei der hierfür erforderlichen Prognose hat die Wehrdisziplinaranwaltschaft nicht alle Umstände eingehend abzuwägen. Allerdings ergibt sich weder aus der angegriffenen Verfügung, dem angegriffenen Bescheid noch aus der Akte, warum die Wehrdisziplinaranwaltschaft von einem Dienstvergehen ausgeht, das höchstwahrscheinlich die Höchstmaßnahme nach sich ziehen wird. Erwägungen zur Maßnahmebemessung werden nicht mitgeteilt. Über den Ausgangspunkt der (eigenen) Zumessungserwägungen schweigt die Wehrdisziplinaranwaltschaft, mögliche Milderungsgründe werden nicht erwogen. Auf diese Art wird etwa versäumt, wenigstens am Rande die Person und die früheren dienstlichen Leistungen der Antragstellerin zu würdigen. Auch der aus Sicht der Kammer naheliegenden Frage, ob ein Eingangsmerkmal des § 20 Strafgesetzbuch vorliegt, wurde nicht nachgegangen. Das Bemessungskriterium „Persönlichkeit der früheren Soldatin“ erfordert aber eine Prüfung, ob das mutmaßliche Dienstvergehen mit dem bisher gezeigten Persönlichkeitsbild übereinstimmt oder ob es etwa als persönlichkeitsfremdes Verhalten in einer Notlage oder psychischen Ausnahmesituation davon abweicht.
22
d) Der der Einleitung zugrundeliegende Sachverhalt begegnet in tatsächlicher Hinsicht keinen Bedenken, auch wenn das Datum des Schreibens an das Finanzamt der Überprüfung bedarf. Der Akte sind die Schreiben der früheren Soldatin mit den aufgeführten Zitaten zu entnehmen; sie hat diese Äußerungen gegenüber dem Oberbürgermeister und dem Finanzamt auch nicht abgestritten. Auch wenn es vorliegend wegen der formellen Fehlerhaftigkeit der Verfügung nicht mehr darauf ankommt, weist die Kammer vorsorglich darauf hin, dass in rechtlicher Hinsicht allerdings Bedenken bestehen könnten, ob der Einleitungssatz in der erforderlichen Bestimmtheit ein Dienstvergehen gemäß § 23 Absatz 2 Nr. 2 Alternativen 1 und 2 SG beschreibt.
23
aa) Aus dem Wehrdienst ausgeschiedene Offiziere dürfen sich nicht aktiv gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes betätigen. Auch wenn nach der Rechtsprechung ein vorsätzliches Verhalten, das nach § 23 Absatz 2 Nr. 2 Alternative 1 SG als Dienstvergehen gilt, bemessungsrechtlich regelmäßig genauso schwer wiegt wie ein Verstoß gegen die politische Treuepflicht (§ 8 SG) im aktiven Dienst, sind die beiden Normen schon vom Wortlaut her nicht deckungsgleich. Aus der Summe des Pflichtenkreises des § 8 SG hat der Gesetzgeber nur die besonders schwerwiegenden Pflichtverletzungen herausgegriffen. Nur wer vorsätzlich aktiv Bestrebungen unterstützt, die sich gegen Kernelemente der Verfassungsordnung richten, die die Bundeswehr zu verteidigen hätte, zerstört das in ihn bzw. sie auch noch im Ruhestand zwingend zu setzende Vertrauen. Auf eine Wiederverwendung, etwa im Rahmen einer Reservedienstleistung, kommt es nicht an.
24
In diesem Zusammenhang wird die Wehrdisziplinaranwaltschaft zu prüfen haben, inwieweit die nach nachrichtendienstlichen Erkenntnissen unauffällige Antragstellerin tatsächlich einer vom Verfassungsschutz beobachteten Gruppierung nahesteht oder angehört und einer verfassungsfeindlichen Gesinnung nachhängt. Es erscheint zumindest möglich, dass sie lediglich im Internet aufgefundene Versatzstücke kopiert und weitergegeben hat. So könnte die frühere Soldatin insbesondere dem selbsternannten „Commander Thorsten Gerhard Jansen“ aufgesessen sein, der wohl Verschwörungstheoretiker und der sog. Querdenker-Szene zuzurechnen sein dürfte. Die übernommenen Äußerungen sind zum Teil relativ einfach zu widerlegende Tatsachenbehauptungen, die unabhängig von einem möglichen Schutz durch Art. 5 Absatz 1 Satz 1 GG wohl kaum geeignet sind, der freiheitlichen demokratischen Grundordnung Schaden zuzufügen.
25
Die Achtung vor der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ist für einen Reservisten gleichsam das fortwirkende Band, das ihn mit der Bundeswehr als den Streitkräften eines demokratischen Rechtsstaats innerlich verbindet. Viele der von der Wehrdisziplinaranwaltschaft von 1.-13. aufgeführten Zitate stehen dem aber gar nicht entgegen. Hier hätte es einer tiefergehenden Auseinandersetzung bedurft, mit welcher Aussage konkret und warum sich die frühere Soldatin aktiv gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung betätigen soll. Zwar teilt diese ihre Ansicht mit, es gebe die Bundesrepublik Deutschland nicht und ihre Gesetze könnten keine Geltung beanspruchen, an den Grundprinzipien der Verfassung aber äußert die frühere Soldatin im Übrigen keine Kritik. Insbesondere an der Demokratie und der Republik als Staatsstrukturprinzipien scheint sie nicht zu zweifeln, geschweige denn dagegen zu agitieren. An manchen Stellen bezieht sie sich ausdrücklich auf das Grundgesetz, was vermuten lässt, dass sie die Verfassung (auch wenn sie das Grundgesetz nicht als eine solche bezeichnet) und die ihr innewohnenden Werte überwiegend eben doch anerkennt. Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch, dass sie das Bundesverfassungsgericht vereinzelt als Unternehmen bezeichnet (siehe Punkt 12 der Einleitungsverfügung), um dann aber doch wieder dessen rechtsprechende Autorität anzuerkennen (ebenfalls Punkt 12, aber auch Schreiben vom 24. August 2021 an Generalmajor Sch). Unter Punkt 9 würde die Kammer eine pflichtwidrige Aussage erkennen können, wenn das systemkritische Zitat umfassender wiedergegeben wäre; der anschließende Absatz des Schreibens könnte so verstanden werden, dass die Antragstellerin die Steuerpflicht für „Hochverrat, Raub und Plünderung“ hält.
26
Aus heutiger Sicht lässt sich aus den in der Einleitungsverfügung aufgeführten Zitaten der Antragstellerin der Ausdruck einer tatsächlich verfassungsfeindlichen Gesinnung nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit nachweisen.
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Ein „Betätigen“ i.S.d. § 23 Absatz 2 Nr. 2 Alternative 1 SG allein in dem Umstand zu sehen, dass sich die Antragstellerin an das Finanzamt gewendet hat mit dem Anliegen, von der Steuerpflicht befreit zu werden, überzeugt die Kammer vorläufig nicht. Anders wäre es wohl einzuschätzen, wenn ein weiteres Tätigwerden hinzuträte, etwa eine Agitation im Kameradenkreis oder auch in der Öffentlichkeit. Dies deckt sich mit der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte in vergleichbaren Fällen des Beamtendisziplinarrechts (etwa VG Magdeburg, Beschluss vom 16. März 2015, 8 B 5/ 15; VG Münster, Urteil vom 26. Februar 2018, 13 K 768/ 17.O). Stets zeigt sich auch, dass ein strengerer Maßstab anzulegen ist bei aktiven Bediensteten des öffentlichen Dienstes. Im vorliegenden Fall dürfte aber letztlich entscheidend sein, ob Beweis über eine tatsächlich verfassungsfeindliche Gesinnung angetreten werden kann oder nicht.
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bb) Zu beachten ist ferner, dass die Verfügung der Einleitungsbehörde vom 11. August 2021 auch ein als Dienstvergehen geltendes Verhalten gemäß § 23 Absatz 2 Nr. 2 Alternative 2 SG zum Gegenstand des Verfahrens macht. Aufbauend auf § 17 Absatz 3 SG fordert diese Bestimmung, dass aus dem Wehrdienst ausgeschiedene Offiziere der Achtung und dem Vertrauen gerecht werden, die für ihre Wiederverwendung im bisherigen Dienstgrad erforderlich sind. Überschreitet ein früherer Offizier die Altersgrenze von 65 Jahren und kann darum nicht mehr als Vorgesetzter verwendet werden (§ 51 Absatz 1 SG), entfällt diese fortwirkende Vorgesetztenpflicht. So verhält es sich vorliegend. Die Verfolgung dieser vermeintlichen Pflichtverletzung ist somit vom Gesetzeszweck nicht mehr gedeckt.
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e) Nach alledem kann auch dahinstehen, ob die Einleitungsbehörde ihr Ermessen rechtsfehlerfrei ausgeübt und insbesondere den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt hat. Dies setzte voraus, dass der Antragstellerin keine Nachteile zugefügt werden, die außer Verhältnis zu dem Interesse des Dienstherrn stehen. Der angefochtene Bescheid beschränkt sich, wie oben bereits dargelegt, auf die Aussage, dass die Antragstellerin nichts vorgetragen habe, was das Einbehalten von 30% ihres Ruhegehalts als unverhältnismäßig erscheinen lasse, was nicht zwingend auf eine eigene Entscheidung der Einleitungsbehörde nach pflichtgemäßem Ermessen schließen lässt.
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3. Somit war dem Antrag insgesamt stattzugeben.
III.
31
Einer Entscheidung über die Kosten des Verfahrens bedurfte es nicht, diese werden von der in der Hauptsache ergehenden Kostenentscheidung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens miterfasst.