Inhalt

OLG Bamberg, Hinweisbeschluss v. 02.03.2021 – 3 U 220/20
Titel:

Erfolgsaussicht, Staatsanwaltschaft, Werbung, Berufung, Fahrzeug, Verletzung, Sittenwidrigkeit, Auslegung, Klageschrift, Rechtsmittel, Form, Ermittlungsverfahren, Grenzwerte, Annahme, hinreichende Erfolgsaussicht, ins Blaue hinein, keine hinreichende Erfolgsaussicht

Schlagworte:
Erfolgsaussicht, Staatsanwaltschaft, Werbung, Berufung, Fahrzeug, Verletzung, Sittenwidrigkeit, Auslegung, Klageschrift, Rechtsmittel, Form, Ermittlungsverfahren, Grenzwerte, Annahme, hinreichende Erfolgsaussicht, ins Blaue hinein, keine hinreichende Erfolgsaussicht
Vorinstanz:
LG Würzburg vom 25.06.2020 – 14 O 89/20
Rechtsmittelinstanzen:
OLG Bamberg, Beschluss vom 23.04.2021 – 3 U 220/20
BGH Karlsruhe, Beschluss vom 21.09.2022 – VII ZR 471/21
Fundstelle:
BeckRS 2021, 57935

Tenor

I. Der Senat beabsichtigt, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Würzburg vom 25.06.2020 im Beschlussverfahren nach § 522 Abs. 2 ZPO
zurückzuweisen.
II. Hierzu besteht Gelegenheit zur Stellungnahme bis längstens 30.03.2021.

Entscheidungsgründe

I.
1
Wegen des Sach- und Streitstands wird gemäß § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO auf die Feststellungen im angefochtenen Urteil Bezug genommen. Lediglich ergänzend oder erläuternd ist noch auszuführen: Der Kläger erwarb am 11.09.2015 von der Beklagten ein gebrauchtes Fahrzeug der Marke X., Typ GLE 350d 4Matic mit einer damaligen Laufleistung von 8.327 km zum Kaufpreis von 60.690,00 € (Anlagen K 1, K 2). Das Fahrzeug ist mit einem von der Beklagten hergestellten Dieselmotor des Typs OM 642 Euro 6 ausgestattet. Für das Fahrzeug wurde zwischenzeitlich vom Kraftfahrtbundesamt (im Folgenden: KBA) ein Rückruf angeordnet (vgl. Anlage K 3).
2
Der Kläger hat erstinstanzlich vorgetragen, sein Fahrzeug sei vom sogenannten Abgasskandal betroffen. Der Motor seines Fahrzeugs vom Typ OM 642 sei von der Beklagten „manipuliert“ worden (Seite 2 Klageschrift). Es sei eine Abschalteinrichtung verbaut (Seite 3 Klageschrift), „ob nun“ in Form der „Prüfstanderkennung“ oder des „sog. Thermofensters“ (Seite 5 Replik). Die Abschalteinrichtung sei unzulässig (Seite 5 Klageschrift), weshalb das KBA einen verpflichtenden Rückruf des streitgegenständlichen Fahrzeugs angeordnet habe (Seite 3 Klageschrift). Zudem führe die Staatsanwaltschaft Stuttgart unter dem Aktenzeichen 260 Js 28161/17 ein Ermittlungsverfahren gegen mehrere Mitarbeiter der Beklagten wegen des Verdachts des Betrugs und der strafbaren Werbung (Seite 4 Klageschrift), in dessen Rahmen die Staatsanwaltschaft eine fahrlässige Verletzung der Aufsichtspflicht festgestellt habe, wobei sich diese Aufsichtspflichverletzung auf die von der Beklagten hergestellten Dieselmotoren des Typs OM 651 und OM 642 beziehe (Seite 8 Replik). Das streitgegenständliche Fahrzeug überschreite mit einem Schadstoffausstoß von 529 mg/km im realen Fahrbetrieb die gesetzlichen Grenzwerte fast um das siebenfache (Seite 7 Replik, Anlage K 8).
3
In dem Fahrzeug sei eine „Prüfstanderkennung“ (Seite 2, 7, 8 Replik) verbaut, die erkenne, wann sich das Fahrzeug auf dem technischen Prüfstand zur Ermittlung der Emissionswerte befinde (Seite 2 Replik). Dies ergebe sich aus der „offiziellen Rückrufliste“ (Anlage K 4).
4
Das „Thermofenster“ führe dazu, dass das Abgasrückführungssystem am Beginn der Warmlaufphase und/oder bei tiefen Außentemperaturen abschalte. Dadurch werde bei niedrigen Temperaturen der Grad der Abgasrückführung reduziert, mit der Folge, dass die Stickoxidemissionen erheblich anstiegen (Seite 3 Klageschrift, Seite 5 Replik). Ferner führe es dazu, dass das Abgasrückführsystem ab einer bestimmten Drehzahl abschalte, insbesondere, wenn mit einer geringeren Last gefahren werde (Seite 3 Klageschrift). Es „stoppe“ die Abgasreinigung „bei rund 15 Grad Celsius“. Eine vollständige Abgasreinigung finde nur bei Außentemperaturen „zwischen rund 15 Grad und 30 Grad Celsius“ statt (Seite 6 Replik).
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Mit seiner Klage hat der Kläger von der Beklagten die Rückerstattung des gezahlten Kaufpreises verlangt und die Feststellung erstrebt, dass sich die Beklagte in Annahmeverzug befinde.
6
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Kaufrechtliche Ansprüche, auf die sich der Kläger ohnehin nicht stützte, seien jedenfalls verjährt. Der Vortrag des Klägers zu einer „Umschaltlogik“ erfolge ins Blaue hinein und sei daher nicht berücksichtigungsfähig. Im Übrigen sei nicht nachgewiesen, dass die Beklagte davon ausgegangen sei, dass es sich bei dem System der Temperaturabhängigkeit der Abgasrückführung um eine unzulässige Abschalteinrichtung gehandelt habe oder sie vor dieser Erkenntnis blind die Augen verschlossen habe. Die Annahme und Auslegung des EU-Rechts, dies sei erlaubt, sei nicht unvertretbar gewesen. Ansprüche aus §§ 823 Abs. 2, 831 BGB bestünden aus diesem Grunde ebenfalls nicht.
7
Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers, mit der er seine Sachanträge weiterverfolgt. Er trägt vor, an das Vorliegen eines Vortrags „ins Blaue hinein“ seien besonders hohe Anforderungen zu stellen (vgl. BGH, vom 28.01.2020, VIII ZR 57/19). Er habe vorgetragen, dass in sein Fahrzeug ein Motor des Typs OM 642 eingebaut und in der Anlage K 4 („Rückrufliste“) aufgeführt sei. Bereits dieses behördliche Einschreiten sei ein gewichtiges Indiz dafür, dass eine „entsprechende Abschalteinrichtung“ verbaut sei. Das KBA habe den Rückruf „wortwörtlich“ begründet mit: „Bedingt durch manipulierte Software werden die Abgasgrenzwerte im Feld nicht eingehalten“. Das Landgericht habe ferner die im Straßenverkehr gemessenen Schadstoffwerte (Anlage K 8) nicht beachtet, ebenso die „umfangreichen staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen betreffend dieses Motortyps“. Die Kenntnis der Repräsentanten der Beklagten und die Sittenwidrigkeit des Vorgehens habe er hinreichend dargelegt.
8
Die Beklagte verteidigt das angegriffene Urteil.
II.
9
Nach der einstimmigen Auffassung des Senats ist die Berufung offensichtlich unbegründet, so dass das Rechtsmittel keine hinreichende Erfolgsaussicht im Sinn des § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO bietet. Zu Recht und mit zutreffender Begründung ist das Landgericht zu dem Ergebnis gelangt, dass der Kläger keine Ansprüche gegen die Beklagte dargetan hat.
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1. Nicht zu beanstanden ist die Auffassung des Landgerichts, der Vortrag des Klägers zu einer in seinem Fahrzeug verbauten „Prüfstanderkennung“ erfolge ins Blaue hinein.
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Der Senat verkennt dabei nicht, dass die Annahme eines willkürlichen Sachvortrags „ins Blaue hinein“ oder „aufs Geratewohl“, der eine angebotene Beweiserhebung zur reinen Ausforschung machen würde, nur in Ausnahmefällen in Betracht kommt. Ein solcher ist allerdings dann anzunehmen, wenn eine Behauptung ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich aufgestellt worden ist (BGH, Beschluss vom 28.01.2020 - VIII ZR 57/19, NJW 2020, 1740 Rn. 8; Urteil vom 27.05.2003 - IX ZR 283/99, NJW-RR 2004, 337 Rn. 13; Senat, Beschluss vom 31.03.2020 - 3 U 57/19).
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Die vom Kläger insoweit in Bezug genommenen Anlagen (Anlagen K 3, K 4), insbesondere die „Rückrufliste“ (Anlage K 4) verhalten sich nicht zu der vom Kläger behaupteten „Prüfstanderkennung“. Es ist vom Kläger auch nicht vorgetragen oder sonst ersichtlich, dass die Staatsanwaltschaft Stuttgart oder das KBA der Beklagten die Verwendung einer „Prüfstanderkennung“ vorwerfen würden. Der Kläger behauptet nur, die Ermittlungen hätten den bei ihm verbauten Motortyp zum Gegenstand. Es sind zahllose Gründe denkbar, warum dies der Fall seien könnte. Soweit der Kläger auf die Begründung des Rückrufs durch das KBA verweist, bleibt er einen Beleg für den von ihm zitierten Wortlaut schuldig. Aber auch das KBA spricht - den Wortlaut wie vom Kläger unterstellt - nur allgemein von manipulierter Software, nicht von einer „Prüfstanderkennung“. Schließlich ergibt sich auch aus dem angeblichen Schadstoffausstoß im realen Fahrbetrieb, wie er durch Anlage K 8 belegt sein soll, nichts für eine „Prüfstanderkennung“. In dem Pressebericht wird lediglich mitgeteilt, dass die Fahrzeuge zahlreicher Hersteller - also nicht nur der Beklagten - die gesetzlichen Grenzwerte im Straßenverkehr nicht einhalten. Wieso dies der Fall ist, wird dort nicht erläutert. Auch insoweit sind zahllose Fallgestaltungen denkbar.
13
Somit hat der Kläger nicht einen einzigen greifbaren Anhaltspunkt für das Vorliegen eine „Prüfstanderkennung“ vorgetragen, weshalb das Landgericht zu Recht von einem Vortrag ins Blaue hinein ausgehen durfte.
14
2. Das Landgericht hat ferner zutreffend angenommen, dass die vom Kläger behauptete Verwendung eines „Thermofensters“ nicht geeignet ist, Schadensersatzansprüche gegen die Beklagte zu begründen.
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a) Das Verhalten der für einen Kraftfahrzeughersteller handelnden Personen ist nicht bereits deshalb als sittenwidrig zu qualifizieren, weil sie einen Fahrzeugtyp aufgrund einer grundlegenden unternehmerischen Entscheidung mit einer temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems („Thermofenster“) ausgestattet und in den Verkehr gebracht haben. Dies gilt auch dann, wenn mit der Entwicklung und dem Einsatz dieser Steuerung eine Kostensenkung und die Erzielung von Gewinn erstrebt wird. Der objektive Tatbestand der Sittenwidrigkeit ist nur gegeben, wenn weitere Umstände hinzutreten, die das Verhalten der handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen lassen (BGH, Beschluss vom 19. Januar 2021 - VI ZR 433/19 -, juris).
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b) Bei Abschalteinrichtungen, die vom Grundsatz her im normalen Fahrbetrieb in gleicher Weise arbeiten wie auf dem Prüfstand, kann ohne konkrete Anhaltspunkte nicht ohne Weiteres angenommen werden, dass die Beklagte bzw. deren Verantwortliche in dem Bewusstsein gehandelt haben, möglicherweise eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden. Jedenfalls solange Gesichtspunkte des Motor- bzw. Bauteilschutzes als Rechtfertigung ernsthaft angeführt werden können, scheidet dies aus (OLG Stuttgart, Urteil v. 30.07.2019, Az. 10 U 134/19; OLG Frankfurt, Urteil v. 13.112019, Az. 13 U 274/18; Brandenburgisches Oberlandesgericht, Urteil v. 19.12.2019, Az. 5 U 103/18). Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Kriterien, aus denen sich eine aus Bauteilschutzgesichtspunkten zulässige Abschaltvorrichtung ergibt, nicht eindeutig bestimmt und in Rechtsprechung wie Literatur umstritten sind (vgl. dazu umfassend Brandenburgisches Oberlandesgericht a.a.O.; OLG Nürnberg, Urteil v. 19.07.2019, Az. 5 U 1670/18). Zu dieser Einschätzung ist auch die vom Bundesverkehrsministerium eingesetzte „Untersuchungskommission Volkswagen“ gelangt (BMVI, Bericht der Untersuchungskommission Volkswagen, Stand April 2016, S. 123). So heißt es im vorerwähnten Bericht der Untersuchungskommission ausdrücklich: „Zudem verstößt eine weite Interpretation durch die Fahrzeughersteller und die Verwendung von Abschalteinrichtungen mit der Begründung, dass eine Abschaltung erforderlich ist, um den Motor vor Beschädigung zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten, angesichts der Unschärfe der Bestimmung, die auch weite Interpretationen zulässt, möglicherweise nicht gegen die VO (EG) Nr. 715/2007. Konsequenz dieser Unschärfe der europäischen Regelung könnte sein, dass unter Berufung auf den Motorschutz die Verwendung von Abschalteinrichtungen letztlich stets dann gerechtfertigt werden könnte, wenn von Seiten des Fahrzeugherstellers nachvollziehbar dargestellt wird, dass ohne die Verwendung einer solchen Einrichtung dem Motor Schaden droht, sei dieser auch noch so klein.“ Schließlich zeigt auch der in der Literatur (etwa Führ, NWVZ 2017, 265) betriebene erhebliche Begründungsaufwand, um das „Thermofenster“ als unzulässige Abschalteinrichtung einzustufen, dass keine klare und eindeutige Rechtslage gegeben war, gegen welche die Beklagte seinerzeit bewusst verstoßen hätte.
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c) Deshalb kommt ein sittenwidriges Handeln der Beklagten vorliegend nur unter der Voraussetzung in Betracht, dass sie vorsätzlich und in einer besonders verwerflichen Art und Weise diese rechtliche Grauzone ausgenutzt hat (OLG Stuttgart a.a.O.; OLG Frankfurt a.a.O.), wozu der Kläger nichts vorgetragen hat.
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Insoweit kann der Kläger auch nicht mit Erfolg auf die hinsichtlich des von der Volkswagen AG entwickelten Motors Typ EA 189 ergangene Rechtsprechung (grundlegend insoweit BGH, Urteil v. 25.05.2020, Az. VI ZR 252/19) verweisen. Die Implementierung einer zum Zwecke der Erkennung der Prüfstandssituation entwickelten Software, die ausschließlich in diesen Fällen das Emissionsverhalten des Fahrzeugs verändert, stellt sich als qualitativ vollständig anders dar als ein temperaturabhängiges Abgasrückführungssystem, welches vom Grundsatz her im normalen Fahrbetrieb in gleicher Weise wie auf dem Prüfstand arbeitet und wofür sich zudem betriebstechnische Vorgaben des Motor- bzw. Bauteilschutzes als plausible und nachvollziehbare Begründung anführen lassen. Hiernach kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass die verantwortlichen Organe der Beklagten von einer - möglicherweise - letztlich unzutreffenden, aber dennoch vertretbaren und im Übrigen auch von den im Überprüfungsverfahren involvierten staatlichen Stellen geteilten Gesetzesauslegung und -anwendung ausgegangen sind (vgl. etwa OLG Köln, Beschluss v. 04.07.2019, Az. 3 U 148/18 und OLG München, Beschluss v. 10.02.2020, Az. 3 U 7524/19).
19
Der Senat schließt sich deshalb der auch in der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte ganz überwiegenden Auffassung an, wonach bereits die kontrovers geführte Diskussion über Inhalt und Reichweite der Ausnahmevorschrift des Art. 5 Abs. 2 Satz 2 a VO (EG) 2007/715 hinreichend belegt, dass die Gesetzeslage in dieser Frage nicht unzweifelhaft und eindeutig ist (vgl. OLG Köln und OLG München jeweils a.a.O. sowie OLG Stuttgart, Urteil v. 30.07.2019, Az. 10 U 134/19). Im Übrigen ist in diesem Zusammenhang abschließend darauf hinzuweisen, dass auch die Staatsanwaltschaft Stuttgart der Beklagten nach dem eigenen Vortrag des Klägers nur Fahrlässigkeit zur Last legt.
III.
20
Die aussichtslosen Berufungsangriffe erfordern keine Erörterung in mündlicher Verhandlung.
21
Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision nach § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 oder Nr. 3 ZPO liegen nicht vor, weil es entscheidungserheblich nur auf die konkreten Umstände des Einzelfalls, namentlich den konkreten Sachvortrag des Klägers, ankommt.
22
Der Senat regt daher - unbeschadet der Möglichkeit zur Stellungnahme - die kostengünstigere Rücknahme der aussichtslosen Berufung an, die zwei Gerichtsgebühren spart (vgl. Nr. 1220, 1222 Kostenverzeichnis GKG).