Inhalt

LG Ansbach, Beschluss v. 30.11.2021 – 4 T 1368/21
Titel:

Freiheitsentziehende Unterbringung bei nicht vorhandener Krankheitseinsicht

Normenkette:
BGB § 1906 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2
Leitsätze:
1. Nach § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB ist die freiheitsentziehende Unterbringung durch den Betreuer nur zulässig, wenn auf Grund der psychischen Krankheit bzw. geistigen oder seelischen Behinderung des Betroffenen die Gefahr besteht, dass er sich selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt. In diesem Zusammenhang müssen objektivierbare, konkrete Anhaltspunkte für eine akute Suizidgefahr oder den Eintritt eines erheblichen Gesundheitsschadens bestehen. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
2. Nach § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB ist die Unterbringung auch zulässig, wenn zur Abwendung eines drohenden erheblichen gesundheitlichen Schadens eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder ein ärztlicher Eingriff notwendig ist, die Maßnahme ohne die Unterbringung des Betreuten nicht durchgeführt werden kann und der Betreute auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der Unterbringung nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ohne Unterbringung besteht die Gefahr, dass der nicht krankheitseinsichtige Betroffene sich erneut erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt. Soweit der Betroffene in seiner Beschwerde ausführt, das Gutachten sei falsch, ist dies mit der ärztlichen Beurteilung nicht vereinbar und bestätigt die fehlende Krankheitseinsicht des Betroffenen mit den sich daraus ergebenden Gefahren. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Beschwerdeverfahren, Unterbringung, Freiheitsentziehung, Behinderung, Krankheit, fehlende Krankheitseinsicht, Heilbehandlung, Medikation, Therapie, gesundheitlicher Schaden
Vorinstanz:
AG Ansbach, Beschluss vom 26.10.2021 – 19 XVII 567/19
Rechtsmittelinstanz:
BGH Karlsruhe, Beschluss vom 14.09.2022 – XII ZB 554/21
Fundstelle:
BeckRS 2021, 57830

Tenor

1. Die Beschwerde des Betreuten gegen den Beschluss des Amtsgerichts Ansbach vom 26.10.2021, Az. 19 XVII 567/19, wird zurückgewiesen.
2. Von der Erhebung der Kosten wird abgesehen.

Gründe

I.
1
Mit Beschluss vom 26.10.2021 hat das Amtsgericht Ansbach die Unterbringung des Betroffenen in der geschlossenen Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses bzw. der beschützenden Abteilung einer Pflegeeinrichtung weiterhin bis längstens 25.04.2022 angeordnet. Die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung wurde angeordnet. Rechtsanwältin … war bereits mit Beschluss vom 15.09.2021 zur Verfahrenspflegerin bestellt worden.
2
Gegen den Beschluss vom 26.10.2021 hat der Betroffene mit Schreiben vom 30.10.2020, eingegangen am 03.11.2021, „sofortige“ Beschwerde eingelegt mit der Begründung, das Gutachten, auf dem der Richter sein „Urteil“ gebildet habe, sei schlichtweg falsch. Er sei auch nicht schizophren.
3
Das Amtsgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen und diese dem Beschwerdegericht zur Entscheidung vorgelegt.
4
Die Verfahrenspflegerin hat mit Schreiben vom 15.11.2021, eingegangen am selben Tag, zur Beschwerde Stellung genommen und ausgeführt, die betreuungsgerichtliche Genehmigung der Unterbringung für den angeordneten Zeitraum sei auf jeden Fall dringend erforderlich.
II.
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1. Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet.
6
a) Nach § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB ist die freiheitsentziehende Unterbringung durch den Betreuer nur zulässig, wenn auf Grund der psychischen Krankheit bzw. geistigen oder seelischen Behinderung des Betroffenen die Gefahr besteht, dass er sich selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt. In diesem Zusammenhang müssen objektivierbare, konkrete Anhaltspunkte für eine akute Suizidgefahr oder den Eintritt eines erheblichen Gesundheitsschadens bestehen (BGH NJW-RR 2010, 291; 2010, 1370 (1370, 1371); OLG München BeckRS 2005, 11854). Nicht erfasst sind dagegen grundsätzlich Schäden oder Gefährdungen anderer Rechtsgüter als Leben und Gesundheit des Betroffenen, wie z.B. Vermögensschäden. Ferner muss die Ursache für die bestehende Selbstschädigungsgefahr in der psychischen Krankheit bzw. geistigen oder seelischen Behinderung des Betroffenen liegen. Hiermit soll klargestellt werden, dass Gesundheitsgefährdungen oder -schädigungen, die auch bei Nichtbetreuten üblich sind, keine freiheitsentziehende Unterbringung des Betroffenen rechtfertigen (BT-Drucks. 11/4528, S. 146). Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung setzt die Unterbringung zur Verhinderung einer Selbstschädigung infolge psychischer Erkrankung in verfassungskonformer Auslegung des Gesetzes weiterhin voraus, dass der Betroffene auf Grund der Krankheit seinen Willen nicht frei bestimmen kann (BayObLG, FamRZ 1993, 600; NJW-RR 1998, 1014 (1015); NJWE-FER 2001, 150 (150)).
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Nach § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB ist die Unterbringung auch zulässig, wenn zur Abwendung eines drohenden erheblichen gesundheitlichen Schadens eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder ein ärztlicher Eingriff notwendig ist, die Maßnahme ohne die Unterbringung des Betreuten nicht durchgeführt werden kann und der Betreute auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der Unterbringung nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann.
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2. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
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a) Der Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Geriatrie Dr. … hat in seinem Gutachten vom 15.09.2021 festgestellt, dass bei dem Betroffenen paranoide Schizophrenie sowie eine Residualsymptomatik vorliege.
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Bei erhaltener Orientierung zeige der Betroffene überwiegend Minussymptome im Sinne eines Residuums. Sein Antrieb und sein Durchhaltevermögen seien reduziert, er sei kaum belastbar, seine affektive Schwingungsfähigkeit sei vermindert. Krankheitseinsicht habe zum Zeitpunkt der Begutachtung zumindest ansatzweise bestanden. Die Notwendigkeit einer Rezidivprophylaxe habe der Betroffene noch angezweifelt, die Einsicht in den Zusammenhang zwischen neuroleptischer Medikation und Rezidivfreiheit respektive dem Absetzen der Therapie und dem Wiederauftreten von Krankheitssymptomen bestünden beim Betroffenen bedingt. Er sei allerdings trotzdem bereit gewesen, sich sein Depotneuroleptikum verabreichen zu lassen. Realitätsbezug, Urteilsvermögen und Kritikfähigkeit seien reduziert.
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Die medizinischen Voraussetzungen für eine freiheitsentziehende Unterbringung lägen weiterhin vor. Ohne beschützende Unterbringung mit strukturiertem Tagesablauf und Unterstützung durch geschultes Fachpersonal wäre ein umgehendes Absetzen der neuroleptischen Medikation mit der Folge einer erneuten massiven Exazerbation der bekannten Psychose zu rechnen. Eine erneute langwierige Behandlung in der Akutklinik, wahrscheinlich auch mit Zwangsmedikation, wäre die Folge. Im Rahmen der Psychose wäre durch Verwahrlosung und aggressive Auseinandersetzungen eine erhebliche Gesundheitsgefahr gegeben. Der Betroffene könne seinen Willen bezüglich der freiheitsentziehenden Maßnahmen aufgrund seiner psychischen Erkrankung nicht frei bestimmen. Weniger einschneidende, Maßnahmen als die geschlossene Unterbringung seien derzeit nicht ausreichend. Die freiheitsentziehende Unterbringung werde für zumindest 12 Monate erforderlich sein. Da sich allerdings zum Zeitpunkt der Exploration das Befinden des Betroffenen unter neuroleptischer Rezidivprophylaxe erfreulich gut stabilisiert habe, könne mittelfristig bei anhaltender Therapiecompliance auch eine andere Wohnform wie z.B. eine betreute Wohngemeinschaft als Alternative zur beschützenden Unterbringung diskutiert werden.
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c) Die Kammer schließt sich der nachvollziehbaren, schlüssigen und überzeugenden ärztlichen Beurteilung nach eigener kritischer Prüfung an. Aus dem ärztlichen Zeugnis ist eindeutig erkennbar, dass der Betroffene seinen Willen in Bezug auf die Unterbringung nicht frei bestimmen und danach handeln kann und weiterhin dringend einer ärztlichen Behandlung bedarf, zumal davon auszugehen ist, dass der Betroffene ohne die Unterbringung die neuroleptische Medikation sofort wieder absetzen würde bzw. diese mittlerweile schon jetzt abgesetzt hat.
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Dies deckt sich auch mit den Feststellungen des anhörenden Richters vom 20.10.2021, der ausführte, der Betroffene habe ihm gegenüber schon während der Anhörung angekündigt, die neuroleptische Medikation absetzen zu wollen. Ebenso schildert die, Verfahrenspflegerin in ihrer Stellungnahme vom 15.11.2021, der Betroffene verweigere nach Angaben der Pflegekraft mittlerweile die Depotspritze. Man könne beobachten, dass sein Zustand sich Schritt für Schritt erneut verschlechtere. Setze diese Entwicklung sich fort, werde er im soziotherapeutischen Wohnheim nicht mehr führbar sein. Der Betroffene sei zum Zeitpunkt des Gesprächs mit dem Sachverständigen noch unter der Wirkung der Depotspritze gestanden. Mittlerweile sei diesbezüglich eine neue und leider weniger günstige Situation eingetreten. Die betreuungsgerichtliche Genehmigung sei für den angeordneten Zeitraum auf jeden Fall dringend erforderlich. Nach den gegenwärtigen Erfahrungen müsse auch davon ausgegangen werden, dass der Zeitraum von sechs Monaten nicht ausreichen werde, denn die Hoffnung, dass der Betroffene durch die Depotspritzen für einen längeren Zeitraum wieder so stabil werden könne, dass er in eine offene Einrichtung oder eine offene Wohngruppe wechsele, habe sich überhaupt nicht realisiert. Wenn die gegenwärtige Entwicklung sich fortsetze, werde die Verlegung des Betroffenen auf eine geschlossene Akutstation des BKH … unumgänglich sein.
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Die Kammer ist nach alledem davon überzeugt, dass die Unterbringung zum Wohle des Betroffenen unabdingbar ist. Insbesondere kann der drohende gesundheitliche Schaden durch keine andere den Betroffenen weniger belastende Maßnahme abgewendet werden. Auch überwiegt der zu erwartende Nutzen der Unterbringung die zu erwartende Beeinträchtigung insbesondere im Hinblick auf die sonst drohende Verschlechterung des psychischen Zustandes und der damit einhergehenden Gefährdung des Betroffenen deutlich.
15
Ohne Unterbringung besteht die Gefahr, dass der nicht krankheitseinsichtige Betroffene sich erneut erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt. Soweit der Betroffene in seiner Beschwerde ausführt, das Gutachten sei falsch, ist dies mit der ärztlichen Beurteilung nicht vereinbar und bestätigt die fehlende Krankheitseinsicht des Betroffenen mit den sich daraus ergebenden Gefahren.
16
d) Die Dauer der Unterbringung ist nicht zu beanstanden. Insbesondere wurde die durch den Sachverständigen für erforderlich gehaltene Frist von 12 Monaten sogar deutlich unterschritten und die Unterbringung lediglich für die Dauer von 6 Monaten angeordnet, um den Betroffenen weiter zu animieren, die Medikamente einzunehmen und sich so die Möglichkeit zu verschaffen, in eine offene(re) Einrichtung zu wechseln.
III.
17
Von einer erneuten Anhörung des Betroffenen im Beschwerdeverfahren hat die Kammer abgesehen, weil dieser am 20.10.2021 durch das Amtsgericht angehört wurde und von einer erneuten Anhörung durch die Kammer keine weiteren Erkenntnisse zu erwarten sind (§ 68 Abs. 3 S. 2 FamFG).
IV.
18
Nach § 84 FamFG soll das Gericht die Kosten eines wie hier ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels dem Beteiligten auferlegen, der es eingelegt hat. Die Fassung als Sollvorschrift ermöglicht es jedoch, bei Vorliegen besonderer Umstände ausnahmsweise ganz oder teilweise von der Kostenbelastung des Rechtsmittelführers abzuweichen. Ein besonderer Umstand ist - wie vorliegend - dadurch gegeben, dass das Rechtsmittel eine Angelegenheit der staatlichen Fürsorge (Betreuung/Unterbringung) betrifft und das Rechtsmittel vom Fürsorgebedürftigen selbst oder in dessen Interesse eingelegt wurde (Schulte-Bunert/Weinrich/Keske, FamFG, § 84, Rn. 5; MükoFamFG/Schindler, § 84 Rn. 15; LG Meiningen Beschluss vom 09.01.2015 - 4 T 283/14, BeckRS 2015, 15461).