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VG Regensburg, Urteil v. 08.11.2021 – RN 14 K 21.30855
Titel:

Widerruf eines Abschiebungsverbots für eine nigerianische Staatsangehörige

Normenketten:
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
AsylG § 73c Abs. 2
Leitsatz:
Eine nigerianische Familie bestehend aus zwei jungen und gesunden Erwachsenen, die über eine gewisse Schulbildung und Arbeitserfahrung verfügen, sowie drei Kindern ist bei einer Rückkehr nach Nigeria voraussichtlich in der Lage, ihren Lebensunterhalt zu sichern. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Rückkehr nach Nigeria, Abschiebungsverbot, Widerruf, Familie mit drei Kindern, Existenzminimum, zeitweilige Trennung vom Lebensgefährten
Fundstelle:
BeckRS 2021, 57610

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1
Die Klägerin wendet sich mit ihrer Klage gegen den Widerruf eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sowie die Feststellung, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG nicht vorliegt, in einem Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt).
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Bei der Klägerin handelt es sich um eine am … geborene nigerianische Staatsangehörige vom Stamm der Ibo. Die Klägerin ist Mutter dreier Töchter. Vater ist … (Az. …-232), der jeweils die Vaterschaft anerkannt und eine gemeinsame Sorgerechtserklärung abgegeben hat.
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Mit Bescheid des Bundesamtes vom 30.01.2020 wurde für sie aufgrund vorangegangener gerichtlicher Verpflichtung ein Abschiebeverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG festgestellt. Die Entscheidung beruhte wesentlich auf der von der Klägerin am 05.11.2019 vor dem Verwaltungsgericht Regensburg im Verfahren RN 5 K 19.31027 geschilderten Trennung von ihrem Lebensgefährten und Vater ihrer Kinder sowie der gesundheitlich geschwächten Konstitution der am 14.03.2018 geborenen Zwillingsmädchen. Es wurde eine Extremgefahr aufgrund Sonderfall angenommen.
4
Mit Schreiben vom 08.09.2020 teilte die zuständige Ausländerbehörde des Landratsamts D.-L. im Wesentlichen mit, dass beachtliche Hinweise für die erneute Aufnahme der Lebensgemeinschaft der Klägerin zum vormaligen Lebensgefährten und Vater der Kinder vorlägen. Zwar lägen weiterhin unterschiedliche Wohnanschriften vor, faktisch würden aber Vorsprachen und Arztbesuche stets als familiäre Einheit durchgeführt. Der Lebensgefährte hat für die die jüngste, am … geborene Tochter (RN 14 K 21.30322) bereits vorgeburtlich die Vaterschaft anerkannt und eine gemeinsame Sorgeerklärung mit der Mutter abgegeben. Zudem wurde ein Ablehnungsbescheid für Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz vom 15.04.2020 (Az ... wi) des Kreisjugendamtes für die am 14.03.2018 geborene Schwester … weitergeleitet. Entsprechend den Angaben der Eltern sichere überwiegend der Lebensgefährte dessen Betreuung.
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Der Asylantrag des Partners der Klägerin wurde mit Bescheid vom 14.12.2016 vollumfänglich abgelehnt. Die dagegen erhobene Klage wurde mit Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg (RN 5 K 16.33488) abgewiesen, der Antrag auf Berufung (21 ZB 17.31188) abgelehnt. Er übt seit 13.02.2020 eine berufliche Tätigkeit als Maschinen-Fachkraft aus und war bereits davor erwerbstätig.
6
Der Asylantrag einer der Zwillingstöchter, …, wurde bestandskräftig vollumfänglich abgelehnt. Über den am 05.02.2021 gestellten Wiederaufnahmeantrag wurde noch nicht entschieden.
7
Der Asylantrag des anderen Zwillings, …, wurde abgelehnt. In der Verhandlung vom 05.11.2019 wurde das Bundesamt auch in diesem Fall verpflichtet, ein Abschiebungsverbot auszusprechen. Aufgrund der Informationen wurde ein Widerruf ausgesprochen, gegen den geklagt wird (RN 14 K 21.30856).
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Mit Schreiben vom 17.03.2021 wurde die Klägerin zu diesem Sachverhalt angehört, eine Äußerung erfolgte nicht. Daraufhin erfolgte am 01.06.2021, zur Post gegeben am 09.06.2021, der Widerruf des festgestellten Abschiebungsverbots gegenüber der Klägerin und der Tochter … (ebenfalls … geboren), wogegen jeweils Klage erhoben wurde (RN 14 K 21.20856).
9
Im Hinblick auf die Meldung des Landratsamts D.-L. vom 08.09.2020 wurde überprüft, ob ein Verfahren gemäß § 73 c AsylG eingeleitet werden müsse. Im Rahmen der Prüfung, ob der Klägerin weiterhin ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG zustehe, wurde die Klägerin mit Schreiben vom 17.03.2021, zugestellt am 20.03.2021, darüber in Kenntnis gesetzt, dass ein Widerrufsverfahren gemäß § 73 c AsylG eingeleitet worden sei. Ihr wurde Gelegenheit gegeben, sich zu dieser beabsichtigten Entscheidung innerhalb eines Monats nach Zugang des Schreibens schriftlich zu äußern und insbesondere die Gründe darzulegen, die einer Aufhebung der Begünstigung bzw. einer Rückkehr in das Heimatland entgegenstünden.
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Da keine Stellungnahme erfolgte, erging am 01.06.2021, zur Post gegeben am 09.06.2021, die Entscheidung, das im Bescheid vom 30.01.2020 festgestellte Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG zu wiederrufen (Ziffer 1) und festzustellen, dass kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt (Ziffer 2). Die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG lägen nicht mehr vor. Die Klägerin sei wieder mit ihrem vormaligen Lebensgefährten zusammen und bilde zusammen mit ihm und ihren Töchtern eine Kernfamilie. Bei Berücksichtigung der Rückkehrprognose sei von einer Rückkehr der gesamten Familie zusammen auszugehen. Mit der Erwirtschaftung des Lebensunterhalts bei einer Rückkehr nach Nigeria sei daher zu rechnen. Daher sei das Abschiebungsverbot gemäß § 73 c Abs. 2 AsylG zu widerrufen. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liege ebenfalls nicht vor. Gesundheitliche Probleme seien nicht ersichtlich. Für die Begründung im Übrigen wird auf den Bescheid Bezug genommen.
11
Die Bevollmächtigte erhob gegen diesen Bescheid Klage, eingegangen am 24.06.2021 beim Verwaltungsgericht Regensburg. Eine Begründung erfolgte nicht.
12
Für die Klägerin wird beantragt,
den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 01.06.2021 aufzuheben,
hilfsweise festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1  AufenthG vorliegt.
13
Die Beklagte beantragt unter Bezugnahme auf die Begründung des Ausgangsbescheids,
die Klage abzuweisen.
14
In der mündlichen Verhandlung wurden die Verfahren der Klägerin und der Töchter (RN 14 K 21.30322 und RN 14 K 21.30856) zur gemeinsamen Entscheidung verbunden. Auf das Sitzungsprotokoll der mündlichen Verhandlung, in der die Klägerin Möglichkeit zur erneuten Stellungnahme erhielt, wird Bezug genommen. Die Klägerin als Mutter der Kinder wurde zu Asylgründen und Abschiebungsverboten der Kinder gehört. Dabei gab sie an, dass eines der Kinder unter erheblichen Problemen (Herz) leide. Sie habe zeitnah einen Arzttermin. Das Gericht kam deshalb mit der Klägervertreterin überein, unter Verzicht auf einen weiteren mündlichen Verhandlungstermin ins schriftliche Verfahren überzugehen und Schriftsatzfrist zu gewähren, um ein etwaiges aussagekräftiges Attest nachzureichen. Innerhalb der verlängerten Frist wurden für alle drei Kinder Attest eingereicht, aus denen sich aber keine gesundheitlichen Probleme herauslesen lassen.
15
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie auf die vorgelegten Behördenakten in diesem Verfahren und in den Verfahren der Kinder, die in diesem Verfahren beigezogen werden, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige, insbesondere fristgemäß erhobene Klage ist unbegründet. Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamts vom 01.06.2021 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die vom Bundesamt getroffene Entscheidung ist im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, der gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblich ist, nicht zu beanstanden. Die Klägerin hat keinen Anspruch (mehr) auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots.
17
1. Der Widerruf des mit Bescheid vom 30.01.2020 festgestellten Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids kann auf § 73 c Abs. 2 AsylG gestützt werden. Danach setzt der Widerruf eines nach nationalem Recht gewährten Abschiebungsschutzes voraus, dass die Voraussetzungen für das ursprünglich zuerkannte Abschiebungsverbot - hier auf der Grundlage des § 60 Abs. 5  AufenthG - nachträglich entfallen sind und auch nicht aus anderen Gründen Abschiebungsschutz zu gewähren ist. Dies ist vorliegend der Fall. Liegen die Voraussetzungen für den Widerruf des Abschiebungsverbotes vor, ist dieses zwingend zu widerrufen.
18
Der Widerruf ist formell rechtmäßig. Insbesondere wurde der Klägerin mit Schreiben des Bundesamts vom 17.03.2021, zugestellt am 20.03.2021, gemäß § 73 c Abs. 3 in Verbindung mit § 73 Abs. 4 AsylG die beabsichtigte Entscheidung über einen Widerruf schriftlich mitgeteilt und ihr wurde Gelegenheit zur Äußerung gegeben.
19
Im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung liegen die Voraussetzungen für eine Weitergewährung nationalen Abschiebungsschutzes auf der Grundlage des § 60 Abs. 5  AufenthG nicht (weiter) vor. Das Gericht ist bei seiner Prüfung nicht auf die Prüfung der von der Beklagten angegebenen Widerrufsgründe beschränkt, sondern es hat eine umfassende Prüfung des Widerrufsbescheids auf seine Rechtmäßigkeit zu erfolgen.
20
Die Sachlage hat sich derart verändert, dass die Voraussetzungen für das damals festgestellte Abschiebungshindernis entfallen sind. Die Klägerin hat keinen Anspruch (mehr) auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG wegen einer wirtschaftlichen Extremgefahr in ihrem besonders gelagerten Einzelfall.
21
Die Trennung von ihrem Lebensgefährten, ist unabhängig vom Wahrheitsgehalt der vormaligen Angaben nicht mehr gegeben. Zwar lebt die Klägerin mit ihren Kindern weiterhin räumlich vom Lebensgefährten getrennt, doch ist trotzdem eine gemeinsame Wahrnehmung der elterlichen Pflichten gegeben. Die Familie nahm bis zur Anhörung des Bundesamtes als familiäre Einheit Termine wahr. Der Vater kümmert sich untertags um die Betreuung der Kinder. Das im August 2020 geborene Kind muss kurz nach der mündlichen Verhandlung gezeugt worden sein, bereits vorgeburtlich wurde die Vaterschaft anerkannt und eine gemeinsame Sorgerechtserklärung abgegeben. Die Angaben der Eltern, sie seien erneut getrennt, sind nicht glaubwürdig und als Prozesstaktik zu werten. Die Klägerin wurde zu einem Widerruf des festgestellten Abschiebungsverbots Mitte März 2021 angehört. Bis zum Erlass des Bescheides Juni 2021 wurde nicht vorgetragen, dass sich die Eltern erneut getrennt hätten, und auch in der mündlichen Verhandlung wurde angegeben, dass die Eltern weiterhin als Paar agierten und der Vater sich um Frau und Kinder kümmere. Unter diesen Umständen ist nicht davon auszugehen, dass die Klägerin als alleinerziehende Mutter zurückkehren würde. Vielmehr ist nach hypothetischer Rückkehrprognose davon auszugehen, dass die Familie gemeinsam nach Nigeria zurückkehren würde. Die Klägerin und ihr Partner sind seit der Einreise der Klägerin nach Deutschland im Mai 2017 ein Paar gewesen, aus der Beziehung sind - auch wenn zwischendrin Probleme bestanden haben mögen - drei Kinder (März 2018, August 2020) hervorgegangen, um die sich beide Eltern kümmern. Es ist also trotz räumlich getrennter Wohnverhältnisse von einer Kernfamilie auszugehen. Beide Eltern verfügen über Arbeitserfahrung, über gewisse Schulbildung und sind jung und gesund. Zusammen können die Eltern nach Überzeugung des Gerichts ohne Zweifel das für den Lebensunterhalt der Familie Notwendige erwirtschaften.
22
2. Nationaler zielstaatsbezogener Abschiebungsschutz besteht auch nicht aus anderen Gründen. Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
23
Eine derartige Gefahr besteht weder aufgrund des Gesundheitszustands der Klägerin noch aufgrund der humanitären Verhältnisse, die sie im Falle ihrer Rückkehr vorfinden würde.
24
Nach alledem war die Klage insgesamt abzuweisen.
25
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.
26
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf den §§ 167 VwGO, 708 ff. ZPO.
27
Der Gegenstandswert folgt aus § 30 RVG.