Inhalt

VG Bayreuth, Beschluss v. 22.01.2021 – B 6 S 21.13
Titel:

isolierte Abschiebungsandrohung, Minderjährige, kein Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels, Visumpflicht, Vollstreckungshindernis

Normenketten:
AufenthG § 58 Abs. 1a
AufenthG § 59
AufenthG § 38a
AufenthG § 81 Abs. 1
Schlagworte:
isolierte Abschiebungsandrohung, Minderjährige, kein Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels, Visumpflicht, Vollstreckungshindernis
Fundstelle:
BeckRS 2021, 57579

Tenor

1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Der Streitwert wird auf 1.250,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin wendet sich gegen eine Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung.
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Die Antragstellerin ist eine am ... 2014 geborene vietnamesische Staatsangehörige. Sie verfügt über einen zum 30.04.2019 unbefristet verlängerten tschechischen Aufenthaltstitel und reiste erstmals am 21.02.2019 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Die Mutter der Antragstellerin, ebenfalls vietnamesische Staatsangehörige, ist seit ihrer Einreise in die Bundesrepublik am 17.05.2016 in Bayreuth wohnhaft und im Besitz einer bis 17.10.2021 gültigen Aufenthaltserlaubnis nach § 38a AufenthG.
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Am 20.03.2019 sprach die Mutter der Antragstellerin nach Aufforderung durch die Ausländerbehörde der Antragsgegnerin dort vor und wurde dabei auf das aus Sicht der Antragsgegnerin bestehende Visumserfordernis für den Kindernachzug hingewiesen.
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Am 18.05.2019 meldete die Mutter der Antragstellerin diese wieder nach Tschechien ab.
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Am 09.08.2019 zog die Antragstellerin wieder in die Wohnung der Mutter in Ba..
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Ausweislich einer Grenzübertrittsbescheinigung verließ die Antragstellerin das Bundesgebiet nach Aufforderung durch die Antragsgegnerin wiederum spätestens am 16.09.2019.
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Am 27.09.2019 stellte die Mutter der Antragstellerin für diese einen Visumsantrag bei der deutschen Botschaft in Prag, über den die Botschaft noch nicht entschieden hat.
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Seit ca. Mitte Februar 2020 hält sich die Antragstellerin ununterbrochen bei ihrer Mutter in Ba. auf.
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Mit Bescheid vom 10.12.2020 forderte die Antragsgegnerin die Antragstellerin auf, spätestens 30 Tage nach Zugang des Bescheids in die Tschechische Republik auszureisen (Ziffer 1), und drohte ihr widrigenfalls die Abschiebung in die Tschechische Republik oder nach Vietnam oder in einen anderen Staat an, in den sie einreisen darf oder der zu ihrer Rücknahme verpflichtet ist (Ziffer 2). Für den Fall der Abschiebung wurde ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet und dieses auf ein Jahr ab dem Tag der Ausreise befristet.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt: Die Antragstellerin sei ausreisepflichtig, da sie nicht über den gemäß § 4 Abs. 1 AufenthG erforderlichen Aufenthaltstitel verfüge. Die Befreiung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels für Kurzaufenthalte bis zu 90 Tagen ändere hieran nichts, weil der Aufenthalt der Antragstellerin, die sich bereits seit Februar 2020 ununterbrochen im Bundesgebiet aufhalte, deutlich über diesen Zeitraum hinausgehe. Die Antragstellerin sei daher gemäß § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG i.V.m. § 50 Abs. 1 AufenthG vollziehbar ausreisepflichtig. Die gesetzte Ausreisefrist sei angemessen, da es der Antragstellerin zusammen mit ihrer Mutter innerhalb dieses Zeitraums ohne große Schwierigkeiten möglich sei, wieder nach Tschechien einzureisen.
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Hiergegen ließ die Antragstellerin am 06.01.2021 Klage (B 6 K 21.14) erheben mit dem Antrag, den Bescheid vom 10.12.2020 aufzuheben. Sie ließ zugleich beantragen,
die aufschiebende Wirkung der Klage vom heutigen Tage anzuordnen.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgetragen: Der Bescheid lasse wichtige Fragen offen, weshalb er rechtswidrig sei. Es bleibe offen, über welchen Aufenthaltstitel die Antragstellerin in der Tschechischen Republik verfüge. Dies sei aber durchaus relevant, weil der Aufenthaltstitel eines EU-Staates zum Daueraufenthalt in einem anderen EU-Staat berechtigen und vom Visumserfordernis befreien könne. Die Antragstellerin habe einen Anspruch auf einen Aufenthaltstitel nach § 32 AufenthG sowie ab 30.04.2019 auch nach § 38a AufenthG. Der Aufenthaltstitel könne nach § 39 Satz 1 Nr. 3 und 6 AufenthV auch im Bundesgebiet eingeholt werden. Die Antragsgegnerin habe ihre Pflicht zur ordnungsgemäßen Belehrung der Mutter der Antragstellerin verletzt, da diese weiterhin das Visumsverfahren abwarte, anstatt direkt nach der erneuten Einreise der Tochter in die Bundesrepublik im Jahr 2020 einen Aufenthaltstitel für die Tochter beantragt zu haben. Die Abschiebung sei auch deshalb nicht möglich, weil die Mutter allein sorgeberechtigt und in Tschechien keine Person mehr vorhanden sei, die sich um die Antragstellerin kümmern könne. Von der Mutter könne wiederum die Ausreise zusammen mit ihrem Kind nicht verlangt werden, weil diese über einen gültigen Aufenthaltstitel in Deutschland verfüge. Der Bescheid beschäftige sich schließlich nicht mit der Problematik der Corona-Pandemie. Nach den entsprechenden Rundschreiben des Bundesministeriums des Innern sei der Aufenthalt wegen der Pandemiesituation bis 30.09.2020 erlaubt gewesen.
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Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
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Zur Begründung wurde ausgeführt: Die Ausführungen der Antragstellerseite implizierten eine erfolgte Antragstellung auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, die jedoch tatsächlich nicht erfolgt und deshalb auch nicht Gegenstand des Bescheids vom 10.12.2020 sei. Mangels Antragstellung habe der Aufenthalt der Antragstellerin zu keinem Zeitpunkt als erlaubt gegolten im Sinne des § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG. Eine solche Erlaubnis ergebe sich auch nicht aus den zitierten Rundschreiben des Bundesministeriums des Innern.
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Hierauf erwiderte die Bevollmächtigte der Antragstellerin mit Schriftsatz vom 19.01.2021, dass entgegen der Ausführungen der Antragsgegnerin in Klage- und Antragsbegründung nicht impliziert werde, dass die Mutter der Antragstellerin für diese einen neuen Antrag gestellt hätte. Es werde lediglich ausgeführt, dass der Bescheid hinsichtlich Ausreiseaufforderung und angedrohte Abschiebung weder rechtmäßig noch durchführbar sei und zudem das bereits eingeleitete Visumsverfahren aufgrund der Minderjährigkeit der Antragstellerin nicht hätte verlangt werden sollen. Die Ausführungen der Antragsgegnerin verdeutlichten erneut, dass dieser ihrer Pflicht zur ordnungsgemäßen Beratung nicht nachgekommen sei. Der offensichtliche Grund, warum die Mutter der Antragstellerin keinen neuen Antrag gestellt habe, sei der nicht zulässige Verweis auf das Visumsverfahren durch die Antragsgegnerin gewesen. Eine Trennung von Mutter und Kind sei weder rechtlich noch tatsächlich möglich. Ein gemeinsames Abwarten des Visumsverfahrens in Tschechien sei der Antragstellerin und ihrer Mutter nicht zumutbar, zumal die Visumserteilung wegen der derzeitigen Corona-Beschränkungen nicht zeitnah zu erwarten sei.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
II.
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Der zulässige Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO bleibt in der Sache ohne Erfolg.
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Die im Rahmen des § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung, bei der die Erfolgsaussichten der Hauptsacheklage maßgeblich zu berücksichtigen sind, fällt zulasten der Antragstellerin aus. Die in der Hauptsache erhobene Anfechtungsklage wird nach der im vorliegenden Verfahren gebotenen summarischen Prüfung voraussichtlich keinen Erfolg haben.
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1. Die Antragstellerin ist gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG ausreisepflichtig, da sie den erforderlichen Aufenthaltstitel nicht besitzt. Gemäß § 81 Abs. 1 AufenthG werden Aufenthaltstitel grundsätzlich nur auf Antrag erteilt. Die Beteiligten gehen jedoch übereinstimmend davon, dass die Antragstellerin einen solchen Antrag nicht gestellt hat. Unter Berücksichtigung dessen ergeben sich für das Gericht nach der im vorliegenden Verfahren allein möglichen summarischen Prüfung auch keine hinreichenden Anhaltspunkte, dass die Mutter der Antragstellerin einen solchen Antrag bei einem der Vorsprachetermine bei der Ausländerbehörde - etwa formlos durch die geäußerte Absicht, dass ihre Tochter dauerhaft bei ihr in Deutschland bleibe solle - gestellt hat. Die Mutter der Antragstellerin hat vielmehr das von der Antragsgegnerin geforderte Visumsverfahren eingeleitet.
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Sofern die Bevollmächtigte der Antragstellerin vorbringt, dass die Ausländerbehörde eine Beratungspflicht habe, so trifft dies zu (vgl. Art. 25 Abs. 1 Satz 1 BayVwVfG und Kluth in BeckOK AuslR, Stand Oktober 2020, § 81 AufenthG Rn. 7). Gemäß Art. 25 Abs. 1 Satz 1 BayVwVfG soll die Behörde auf eine sachdienliche Antragstellung im Verwaltungsverfahren hinwirken. Allerdings richtet sich die Reichweite dieser Verpflichtung, d.h. die Frage, ob eine Beratung überhaupt angezeigt war, nach der von der Behörde vertretenen, materiell-rechtlichen Rechtsauffassung (Kallerhoff/Fellenberg in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 25 Rn. 37; Herrmann in BeckOK VwVfG, Stand Oktober 2020, § 25 Rn. 32). Im vorliegenden Fall hat die Ausländerbehörde augenscheinlich die Auffassung vertreten, dass die Antragstellerin einen Aufenthaltstitel nicht im Inland einholen könne, sondern auf das Visumsverfahren zu verweisen sei. Von diesem Standpunkt aus gesehen ist daher keine Verletzung der Beratungspflicht festzustellen.
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Darüber hinaus ist zwar in der Tat fraglich, ob die Antragstellerin der Visumspflicht unterliegt bzw. unterlag. Auch unter Berücksichtigung dessen vermag die Kammer jedoch angesichts der insofern bestehenden komplexen Rechtslage keinen Verstoß gegen Art. 25 Abs. 1 BayVwVfG - eine Vorschrift der formellen Rechtmäßigkeit - festzustellen. Zur Beurteilung der Frage der Visumspflicht bedarf es der Abgrenzung des Anwendungsbereichs der Daueraufenthaltsrichtlinie (RL 2003/109/EG) einerseits und der Familienzusammenführungsrichtlinie (RL 2003/86/EG) andererseits, welche sich maßgeblich danach richtet, ob die Familie bereits im ersten Mitgliedsstaat bestand, und wenn ja, wie lange (vgl. Art. 16 und Art. 4 Abs. 1 RL 2003/109/EG sowie Dollinger in BeckOK AuslR, § 38a AufenthG Rn. 36 f.; Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 38a AufenthG Rn. 60 ff.). Im Anwendungsbereich des Art. 16 der Daueraufenthaltsrichtlinie besteht europarechtlich keine Visumspflicht, was auf Ebene des nationalen Rechts durch richtlinienkonforme Anwendung des § 39 Satz 1 Nr. 6 AufenthV oder jedenfalls durch ein Absehen vom Visumserfordernis nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG umzusetzen ist (vgl. zuletzt VG Bayreuth, B.v. 19.01.2021 - B 6 S 20.1353 sowie BayVGH, B.v. 13.04.2015 - 19 CS 14.2847 - juris Rn. 18). Bei Anwendung des § 39 Satz 1 Nr. 6 AufenthV stellt sich dann wiederum die Frage, ob die Voraussetzungen eines Rechtsanspruchs auf einen Aufenthaltstitel vorliegen (siehe letzter Halbsatz der vorgenannten Rechtsvorschrift sowie BayVGH, a.a.O., welcher dort hinsichtlich der Aufenthaltsberechtigung auf den Ausländer, zu dem der Familiennachzug erfolgen soll, abstellt). Die korrekte Beurteilung dieser komplexen materiellen Rechtsfragen kann nach Auffassung der Kammer nicht auf die Ebene der Prüfung der formellen Beratungspflicht des Art. 25 BayVwVfG verlagert werden. Ohnehin würde sich eine etwaige Verletzung der Beratungspflicht als solche nicht anspruchsbegründet auswirken (Engel/Pfau in Mann/Sennekamp/Uechtritz, VwVfG, 2. Aufl. 2019, § 25 Rn. 58).
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Liegt demnach schon kein Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels vor, gehen die Ausführungen der Antragstellerbevollmächtigten zu den besonderen Anspruchsvoraussetzungen der § 32 AufenthG und § 38a AufenthG sowie zum Absehen von der Visumspflicht, welche rechtssystematisch eine allgemeine Erteilungsvoraussetzung für einen Aufenthaltstitel ist, ins Leere.
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Der nunmehr anwaltlich vertretenen Antragstellerin bleibt es unbenommen, einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu stellen, wenn sie der Auffassung ist, dass dieser im Inland eingeholt werden kann und die Erteilungsvoraussetzungen vorliegen. Es dürften sich dann neben der Frage der Einholung des Aufenthaltstitels im Bundesgebiet wohl Fragen der Sicherung des Lebensunterhalts stellen.
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2. Verfügt die Antragstellerin zum Entscheidungszeitpunkt danach nicht über den erforderlichen Aufenthaltstitel, begegnet auch die Abschiebungsandrohung keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Die Ausreisepflicht ist vollziehbar i.S.d. § 58 Abs. 2 AufenthG, die gewährte Ausreisefrist liegt in dem durch § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG gesetzlich vorgegebenen Rahmen. Soweit die Bevollmächtigte der Antragstellerin vorbringt, dass die Abschiebung der Antragstellerin nicht vollzogen werden kann, so trifft dies nach dem bisherigen Kenntnisstand des Gerichts zu. Denn gem. § 58 Abs. 1a AufenthG hat sich die Ausländerbehörde vor der Abschiebung eines unbegleiteten Minderjährigen zu vergewissern, dass dieser im Rückkehrstaat einem Mitglied seiner Familie, einer zur Personensorge berechtigten Person oder einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung übergeben wird. Unbegleitet in diesem Sinne ist ein Minderjähriger, wenn er ohne Begleitung eines Erwachsenen, der im Rückkehrstaat Verantwortung für ihn übernehmen kann und wird, abgeschoben werden soll, ohne dass es darauf ankommt, ob der Minderjährige sich während seines Aufenthalts in Deutschland in Obhut eines verantwortlichen Erwachsenen befindet (OVG Bremen, U.v. 22.08.2018 - 1 B 161/18 - juris Rn. 5; Dollinger in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, § 58 AufenthG Rn. 4). Eine Abschiebung der Antragstellerin gemeinsam mit der Mutter ist derzeit nicht möglich, weil die Mutter über eine gültige Aufenthaltserlaubnis verfügt. Dass die Antragsgegnerin die Voraussetzungen des § 58 Abs. 1a AufenthG erfüllen könnte - das Bundesverwaltungsgericht stellt insofern mit Blick auf das Kindeswohl strenge Anforderungen an die behördliche „Vergewisserung“ (BVerwG, U.v. 13.06.2013 - 10 C 13/12 - NVwZ 2013, 1489 Rn. 18 ff.) -, ist für das Gericht ebenfalls nicht ersichtlich.
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Diese Fragen berühren jedoch nicht die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung, sondern betreffen nur deren Vollzug: § 58 Abs. 1a AufenthG begründet ausschließlich ein Vollstreckungshindernis (so ausdrücklich: BVerwG, U.v. 13.06.2013 - 10 C 13/12 - NVwZ 2013, 1489 Rn. 17; vgl. auch Zimmerer in BeckOK MigR, Stand Oktober 2020, § 58 AufenthG Rn. 24). Für den Fall, dass die Ausländerbehörde vom Wegfall des Vollstreckungshindernisses ausgeht, steht dem Ausländer hiergegen gesonderter gerichtlicher Rechtsschutz offen (BVerwG, a.a.O., Rn. 21; Zimmerer, a.a.O., Rn. 25).
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG i.V.m. Ziffer 8.3 und 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.