Titel:
Nach Nigeria zurückkehrende Frau, die Opfer von Menschenhandel geworden ist
Normenkette:
AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, § 3d Abs. 2 S. 2, § 3e Abs. 1 Nr. 2
Leitsatz:
Ob nach Nigeria zurückkehrende Frauen, die Opfer von Menschenhandel geworden sind und sich hiervon befreit haben, eine soziale Gruppe iSd § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG darstellen, kann offenbleiben, da allein die Zugehörigkeit zu einer solchen Gruppe keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 und Abs. 1 AsylG begründet. (Rn. 28 – 29) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nigeria, Zwangsprostitution in Frankreich, Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung, soziale Gruppe, interner Schutz
Fundstelle:
BeckRS 2021, 57388
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Die Klägerin wendet sich gegen einen Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt), mit dem ihr Asylantrag abgelehnt wurde. Sie begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise des subsidiären Schutzstatus und weiter hilfsweise die Feststellung nationaler Abschiebungsverbote.
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Die Klägerin ist nigerianische Staatsangehörige vom Stamm der Yoruba sowie christlicher Glaubensangehörigkeit, reiste nach eigenen Angaben im März 2021 auf dem Landweg über Frankreich in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 12. Mai 2021 Asylantrag.
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Im Rahmen der Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrags durch das Bundesamt am 18. Mai 2021 trug die Klägerin u.a. vor, sie sei in Frankreich zu zwei Interviews gegangen und sei dann abgelehnt worden, sie habe Frankreich schließlich verlassen müssen. Außerdem seien die Personen, die sie nach Frankreich gebracht hätten, auch in Frankreich. Sie habe sich dahingehend an die französische Polizei gewendet, diese habe aber nicht genug unternommen, um sie zu schützen. Den letzten Kontakt zu diesen Personen habe sie im Jahr 2016 oder 2017 gehabt. Sie habe danach aber umziehen müssen und sei von ihr unbekannten Leuten attackiert worden, ihr sei ihr Mobiltelefon weggenommen worden, sie sei zusammengeschlagen worden. In Nigeria habe ihr die Mutter der Frau aus Frankreich versprochen, dass sie acht bis neun Jahre in Frankreich als Haushaltshilfe arbeiten könne. In Frankreich sei ihr gesagt worden, dass sie den Leuten 65.000 Euro schulde und sich prostituieren müsse. Sie habe sich ca. ein bis eineinhalb Jahre prostituiert. Sie habe bereits 45.000 Euro bezahlt, ein Franzose habe ihr 30.000 Euro gegeben, 15.000 Euro habe sie selbst verdient. Der Vater ihres Kindes sei aus Kamerun und lebe in Deutschland.
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Im Rahmen der Anhörung gemäß § 25 Asylgesetz (AsylG) vor dem Bundesamt am 18. Mai 2021 gab die Klägerin u.a. an, sie hätten häufig hungrig ins Bett gehen müssen, ihre Geschwister hätten auf der Straße Sachen verkauft, um die Familie zu unterstützen. Sie habe auch einen Job angenommen, um die Familie zu unterstützen. Sie habe die Gelegenheit bekommen nach Europa zu reisen und sei davon ausgegangen, dass hier alles besser werden würde. Ihr Vater sei Yoruba gewesen und ihre Mutter Edo, die Familie des Vaters habe sie nicht unterstützt, da sie ihre Mutter nicht akzeptiert hätten. In Nigeria habe sie einen Juju-Schwur leisten müssen, man habe ihr nicht gesagt, wie hoch die Reisekosten seien werden. Ihr sei lediglich gesagt worden, dass sie acht bis neun Jahre bei ihnen bleiben müsse. Ihre Mutter wisse, dass sie sich prostituiert habe und sei darüber nicht glücklich gewesen. Die Mutter der Madam habe ihrer Mutter in Nigeria Probleme bereitet, deshalb habe ihre Mutter sie aufgefordert wieder für die Madam zu arbeiten. Ihre Mutter sei deshalb auch umgezogen. In Frankreich habe sie zuletzt 2014/2015 Geld an die Madam gezahlt, 2016 habe sie gesagt, dass sie kein Geld mehr bezahlen werde. Die Madam habe sie zuletzt 2014 gesehen, als sie ihr die 30.000 Euro von ihrem Freund gegeben habe, danach sei nur noch der Freund der Madam gekommen. Sie habe in Nizza gelebt und der Freund sei aus Paris gekommen, um das Geld abzuholen. Den Freund der Madam habe sie zuletzt 2015/2016 gesehen. Im Jahr 2017 hätten die Probleme ihrer Familie in Nigeria begonnen, auch sie habe immer und immer wieder ihre Telefonnummer ändern müssen. Seit ca. einem Jahr habe sie kein Handy mehr benutzt. Sie sei in letzter Zeit immer wieder von fremden Leuten attackiert worden, sie wisse nicht, ob die Leute der Madam ihr noch nachspioniert hätten. Bei der französischen Polizei sei sie zuletzt im letzten Jahr gewesen. Bei einer Rückkehr befürchte sie von dem Menschenhandelsnetzwerk verfolgt zu werden, irgendjemand werde denen Informationen über sie geben. Nach der Grundschule habe sie die Schule verlassen. Sie habe 18 Monate eine Ausbildung zur Friseurin gemacht und im Anschluss drei Monate gearbeitet, bevor sie Nigeria verlassen hat. Sie sei 2013 mit dem Flugzeug von Lagos nach Frankreich geflogen. Im Heimatland lebten noch ein Bruder, eine Schwester und mehrere Onkel und Tanten, die Großfamilie.
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In einer weiteren persönlichen Anhörung gemäß § 25 AsylG vor dem Bundesamt am 5. August 2021 erklärte die Klägerin u.a., sie wisse, dass in manchen Teilen Nigerias Frauen beschnitten würden und in anderen nicht. Da wo sie herkomme, werde die Beschneidung ausgeführt. Sie sei beschnitten worden, als sie noch ein Baby gewesen sei. Ihre Schwester sei ebenfalls beschnitten. Sie sei gegen die Beschneidung und würde, wenn sie eine Tochter hätte, diese nicht beschneiden lassen. Eine erneute Beschneidung drohe ihr nicht, da die Beschneidung nur einmalig vorgenommen werde. Ihr Sohn habe den deutschen Pass noch nicht, die Vaterschaftsanerkennung hätten sie vor kurzem gemacht. Der Vater ihres Sohnes habe einen deutschen Pass.
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Im Rahmen der zweiten persönlichen Anhörung gemäß § 25 AsylG legte die Klägerin die Anerkennung der Vaterschaft vom 27. Juli 2021 vor sowie die Erklärung der Ausübung der gemeinsamen Sorg vom 27. Juli 2021.
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Mit Bescheid vom 31. August 2021 (Gesch.-Z.: 8394973-232) erkannte das Bundesamt der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Ziffer 1) und lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Ziffer 2). Der subsidiäre Schutzstatus wurde nicht zuerkannt (Ziffer 3). Zudem wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen (Ziffer 4). Unter Androhung der Abschiebung nach Nigeria oder in einen anderen Staat, in den sie einreisen dürfe oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet sei, forderte das Bundesamt die Klägerin auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach der Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen (Ziffer 5). Die durch die Bekanntgabe dieser Entscheidung in Lauf gesetzte Ausreisefrist werde bis zum Ablauf der zweiwöchigen Klagefrist ausgesetzt. Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
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Gegen den Bescheid vom 31. August 2021 hat die Klägerin mit dem am 9. September 2021 beim Verwaltungsgericht Regensburg eingegangenen Schriftsatz Klage erhoben. Eine weitergehende Klagebegründung erfolgte nicht.
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Für die Klägerin wird sinngemäß beantragt,
Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 31.08.2021 (AZ.: …-232), zugestellt am 08.09.2021, verpflichtet, ihr die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
hilfsweise, ihr den subsidiären Schutz zuzuerkennen;
hilfsweise, das Vorliegen von Abschiebeverboten gem. § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1 AufenthG festzustellen.
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Für die Beklagte hat das Bundesamt mit Schriftsatz vom 14. September 2021 unter Bezugnahme auf die Begründung des angegriffenen Bescheides beantragt,
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Mit Beschluss vom 12. Oktober 2021 hat die Kammer den Rechtsstreit auf die Berichterstatterin als Einzelrichterin übertragen. In der mündlichen Verhandlung am 16. Dezember 2021 wurde die Klägerin erneut angehört. Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Behördenakte sowie auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige, insbesondere fristgemäß nach § 74 Abs. 1 Hs. 1 AsylG erhobene Klage ist nicht begründet. Der Bescheid des Bundesamtes vom 31. August 2021 (Gesch.-Z.: 8394973-232) ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO. Die Klägerin erfüllt im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. § 3 AsylG, die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 1, 2 oder 3 AsylG, oder die Feststellung nationaler Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG. Nicht zu beanstanden ist schließlich Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung.
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Das Gericht folgt den Feststellungen und der Begründung des inmitten stehenden Verwaltungsakts und nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen auf diesen Bezug (§ 77 Abs. 2 AsylG). Ergänzend und zusammenfassend wird Folgendes ausgeführt:
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1. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG, § 3 AsylG.
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Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nur dann zuerkannt, wenn er Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist. Danach ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Nr. 1) außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet (Nr. 2), dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (Buchst. a)) oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will (Buchst. b)). Von einer Verfolgung kann nur dann ausgegangen werden, wenn der Einzelne in Anknüpfung an die in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Merkmale Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a AsylG ausgesetzt ist. Erforderlich ist insoweit, dass der Ausländer gezielte Rechtsverletzungen zu befürchten hat, die ihn wegen ihrer Intensität dazu zwingen, in begründeter Furcht vor einer ausweglosen Lage sein Heimatland zu verlassen und im Ausland Schutz zu suchen. An einer gezielten Rechtsverletzung fehlt es regelmäßig bei Nachteilen, die jemand aufgrund der allgemeinen Zustände in seinem Herkunftsland zu erleiden hat, etwa infolge von Naturkatastrophen, Arbeitslosigkeit, einer schlechten wirtschaftlichen Lage oder infolge allgemeiner Auswirkungen von Unruhen, Revolution und Kriegen (vgl. OVG NRW, B.v. 28.3.2014 - 13 A 1305/13.A, juris Rn. 21).
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Eine Verfolgung kann nach § 3c AsylG ausgehen von dem Staat, Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern der Staat bzw. Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten (vgl. § 3d AsylG), und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist. Für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist es nach § 3b Abs. 2 AsylG auch unerheblich, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet ist, weil er tatsächlich die Merkmale besitzt, die zu seiner Verfolgung führen, sofern der Verfolger dem Betroffenen diese Merkmale tatsächlich zuschreibt.
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Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG begründet ist, gilt unabhängig davon, ob bereits eine Vorverfolgung stattgefunden hat, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 - 10 C 25.10, juris Rn. 22). Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist die Furcht vor Verfolgung i.S.v. § 3 Abs. 1 AsylG begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) drohen. Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab bedingt, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Diese Würdigung ist auf der Grundlage einer „qualifizierenden“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Hierbei sind gemäß Art. 4 Abs. 3 der Qualifikationsrichtlinie (QualRL - RL 2011/95/EU vom 13.12.2011, ABl. L 337 vom 20.12.2011, S. 9 ff.) neben sämtlichen mit dem Herkunftsland verbundenen relevanten Tatsachen unter anderem das maßgebliche Vorbringen des Antragstellers und dessen individuelle Lage zu berücksichtigen. Entscheidend ist, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Damit kommt dem qualitativen Kriterium der Zumutbarkeit maßgebliche Bedeutung zu. Eine Verfolgung ist danach beachtlich wahrscheinlich, wenn einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint (BVerwG, U.v. 19.4.2018 - 1 C 29.17, juris Rn. 14 m.w.N.).
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Eine Privilegierung des Vorverfolgten erfolgt dabei durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QualRL. Eine bereits erlittene Vorverfolgung, ein erlittener bzw. drohender sonstiger ernsthafter Schaden, sind danach ernsthafte Hinweise darauf, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist bzw. dass ein Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einen ernsthaften Schaden zu erleiden. Dies gilt nur dann nicht, wenn stichhaltige Gründe dagegensprechen, dass der Ausländer erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. In der Vergangenheit liegenden Umständen ist damit Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft beizumessen (vgl. auch OVG NRW, U.v. 21.2.2017 - 14 A 2316/16.A, juris Rn. 24). Die den früheren Handlungen oder Bedrohungen zukommende Beweiskraft ist unter der sich aus Art. 9 Abs. 3 QualRL ergebenden Voraussetzung zu berücksichtigen, dass diese Handlungen oder Bedrohungen eine Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund aufweisen, den der Betreffende für seinen Antrag auf Schutz geltend macht. Fehlt es an einer entsprechenden Verknüpfung, so greift die Beweiserleichterung nicht ein. Die widerlegliche Vermutung entlastet den Vorverfolgten von der Notwendigkeit, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Sie ist widerlegt, wenn stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung entkräften. Diese Beurteilung unterliegt der freien Beweiswürdigung des Tatrichters (BVerwG, U.v. 19.4.2018 - 1 C 29.17, juris Rn. 15 m.w.N.).
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Bezüglich der vom Ausländer im Asylverfahren geltend gemachten Umstände, die zu seiner Ausreise aus dem Heimatland geführt haben, genügt aufgrund der regelmäßig bestehenden Beweisschwierigkeiten des Flüchtlings die Glaubhaftmachung. Die üblichen Beweismittel stehen ihm häufig nicht zur Verfügung. In der Regel können unmittelbare Beweise im Verfolgerland nicht erhoben werden. Mit Rücksicht darauf, kommt dem persönlichen Vorbringen des Ausländers und dessen Würdigung eine gesteigerte Bedeutung zu. Dies bedeutet anderseits jedoch nicht, dass der Tatrichter einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist (BVerwG, U.v. 16.4.1985 - 9 C 109.84, juris Rn. 16 und U.v. 11.11.1986 - 9 C 316.85, juris Rn. 11). Eine Glaubhaftmachung in diesem Sinne setzt voraus, dass die Geschehnisse im Heimatland schlüssig, substantiiert und widerspruchsfrei geschildert werden. Erforderlich ist somit eine anschauliche, konkrete und detailreiche Schilderung des Erlebten. Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag kann dem Ausländer nur geglaubt werden, wenn die Widersprüche und Ungereimtheiten überzeugend aufgelöst werden (BVerwG, U.v. 16.4.1985 - 9 C 109.84, juris Rn. 16, U.v. 1.10.1985 - 9 C 19.85, juris Rn. 16 und B.v. 21.7.1989 - 9 B 239.89, juris Rn. 3).
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Gemessen an diesen Maßstäben, hat die Klägerin keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG. Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Klägerin in Nigeria nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit aus einem in § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Grund eine Verfolgung gemäß § 3a AsylG durch einen der in § 3c AsylG genannten Akteure droht. Ungeachtet dessen besteht für die Klägerin nach Überzeugung des Gerichts zumindest eine innerstaatliche Schutzalternative, § 3e AsylG.
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a) Hinsichtlich der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen einer vermeintlich drohenden Beschneidung, ergibt sich kein Anspruch auf die Zuerkennung eines Schutzstatus. Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Klägerin im Falle einer Rückkehr nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine erneute Beschneidung droht. Dies gibt auch die Klägerin selbst an.
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b) Ebenfalls nicht geeignet, der Klägerin Flüchtlingsschutz zuzuerkennen, ist der vorgetragene Umstand, dass die Klägerin sich vor einer Madame wegen der vermeintlichen Schulden fürchte. Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Klägerin im Falle einer Rückkehr nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im Zusammenhang mit der Zwangsprostitution in Frankreich eine Verfolgung droht.
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Der Handel von nigerianischen Frauen und Kindern zu sexuellen Zwecken ist in Nigeria ein weit verbreitetes Phänomen großen, wenn auch schwer bezifferbaren Ausmaßes. Nach den Erkenntnissen des Gerichts ist die Verbringung junger, teilweise sogar minderjähriger Frauen und Mädchen nach Europa und deren dortige sexuelle Ausbeutung als Zwangsprostituierte ein Bereich der organisierten Kriminalität, der sich in Nigeria ethnisch und geographisch insbesondere auf die in Edo State gelegene Stadt Benin City und deren Umland eingrenzen lässt. Soweit sie nicht aus Edo kamen, stammten die Opfer laut ihren Angaben vor allem aus den südlichen Bundesstaaten Delta, Lagos, Ogun, Anambra und Imo. Die meisten Menschenhandelsopfer sind zwischen 13 und 24 Jahre alt (IOM: UN Migration Agency Issues Report on Arrivals of Sexually Exploited Migrants, Chiefly from Nigeria vom 21.07.2017, https://www.iom.int/news/un-migration-agency-issues-report-arrivals-sexually-exploited-migrants-chiefly-nigeria). In vielen Fällen kommt der erste Kontakt zwischen dem künftigen Opfer und dem Menschenhändlernetzwerk durch Freunde oder Verwandte des Mädchens zustande (vgl. Bundesamt, Länderreport 27 Nigeria: Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung Stand 06/2020, S 6).
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Eine zentrale Rolle spielen dabei in der Regel die sogenannten „Madams“, die oft selbst frühere Opfer der Zwangsprostitution sind. Die Madams rekrutieren die Opfer und überwachen den gesamten Prozess des Menschenhandels, häufig finanzieren die sogenannten „Madams“ auch die Reise, Männer werden in der Regel in unterstützender Form tätig. Die Menschenhandelsnetzwerke sind nicht hierarchisch strukturiert, sondern eher in einzelnen Zellen organisiert (Bundesamt, Länderreport 27 Nigeria: Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung Stand 06/2020, S 5f.) Im Rahmen der Anwerbung werden die Opfer häufig über die tatsächliche Betätigung sowie die nahezu vollständige Einbehaltung ihrer Einnahmen getäuscht. Ihnen wird die Vermittlung von regulären Arbeitsmöglichkeiten vorgespiegelt, zudem werden ihnen falsche Versprechungen gemacht und die Möglichkeit offeriert die zurückbleibenden Familien finanziell unterstützen zu können. Dementsprechend gehen die Opfer davon aus, in Europa ihre Lebensbedingungen verbessern zu können. Mittlerweile ist es in Nigeria allgemein bekannt, dass sehr viele Nigerianerinnen, die nach Europa reisen, dort als Prostituierte tätig sind. Hierzu beigetragen haben u.a. Sensibilisierungskampagnen, die seit geraumer Zeit in Edo stattfinden und in denen vor den Gefahren des Menschenhandels und der Prostitution gewarnt wird. Wovon all die Frauen jedoch regelmäßig keine Kenntnis haben, sind die genaueren Bedingungen unter denen sie im Prostitutionsgewerbe tätig sein müssen, diese erfahren sie erst, wenn sie am Ziel angelangt sind (vgl. Bundesamt, Länderreport 27 Nigeria: Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung Stand 06/2020, S 6).
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Regelmäßig wird mit dem Opfer ein „Auswanderungsvertrag“ geschlossen. Der Schleuser erklärt sich zur Übernahme der Reisekosten sowie zur Organisation der Reise nach Europa bereit, während das Opfer verspricht, das Geld zurückzuzahlen, den Menschenhändlern bedingungslos untergeben zu sein und sie nicht bei der Polizei anzuzeigen. Dies ermöglicht es selbst den ärmsten Nigerianerinnen nach Europa zu gelangen. Dem Opfer wird im Rahmen des Auswanderungsvertrags ein die Kosten der Reise erheblich übersteigender Geldbetrag abverlangt (vgl. Bundesamt, Länderreport 27 Nigeria: Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung Stand 06/2020, S. 7; ACCORD, Anfragebeantwortung zu Nigeria vom 4. April 2014, Ziffer 3). In der Regel erfolgt eine Aufklärung über die tatsächliche Schuldenhöhe erst nach der Ankunft in Libyen bzw. Europa, die Schuldenhöhe variiert von 35.000 EUR bis 50.000 EUR (vgl. EASO, Nigeria: Sexhandel mit Frauen (2015), S. 26). Häufig wird dabei der ursprünglich in Naira genannte Betrag für die Reise in Euro verlangt. Dabei erhöhen sich die Schulden während des Aufenthalts in Europa häufig, weil die Madam vor allem Verpflegung und Unterkunft in Rechnung stellt oder, weil „Strafen“ im Falle von Schwangerschaften oder Abtreibungen verhängt werden (vgl. Bundesamt, Länderreport 27 Nigeria: Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung Stand 06/2020, S. 7).
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Voodoo-Praktiken (bzw. Juju-Magie) kommt im Rahmen der Zwangssituation eine besondere Relevanz zu. In Nigeria ist der Glaube an Voodoo, insbesondere im Bundesstaat Edo, weit verbreitet, obwohl der vorherrschende Glaube das Christentum ist. Dabei handelt es sich um eine traditionelle westafrikanische Glaubensrichtung, die durch schwarze Magie und rituelle Schwüre geprägt ist. Diese traditionellen Vorstellungen werden von Menschenhandelsnetzwerken zum Zwecke der Einschüchterung der Opfer sowie zu deren Manipulation eingesetzt. Anhand der Voodoo-Praktiken (bzw. der Juju-Magie) wird ein enormer psychischer Druck auf das jeweilige Opfer ausgeübt. Die Menschenhändler kooperieren mit Juju-Priestern, um eine Bindung der Opfer sowie die Ablegung eines Schweigegelübdes im Rahmen einer rituellen Zeremonie zu erreichen. Im Rahmen der Zeremonie müssen die Mädchen häufig bestimmte Flüssigkeiten trinken sowie rohe Hühnerherzen oder Cola-Nüsse essen. Zudem werden häufig Körperbestandteile, wie Finger- und Zehennägel, Scham-, Achsel- oder Kopfhaare, Fotos und Unterwäsche eingesammelt. Diese Objekte werden im Rahmen der Zeremonie verzaubert und in Behältnisse gelegt, die im Voodoo-Tempel aufbewahrt werden. Der Juju-Schwur ist bindend und kann nicht neu ausgehandelt werden (vgl. Bundesamt, Länderreport 27 Nigeria: Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung Stand 06/2020, S. 8f.). Der Bruch des Schwurs soll Krankheit, Wahnsinn oder den Tod der Frauen und deren Familien zur Folge haben (vgl. dazu EASO, Nigeria: Sexhandel mit Frauen (2015), S. 31; ACCORD, Nigeria - Traditionelle Religion, Okkultismus, Hexerei und Geheimgesellschaften, Bericht vom 17. Juni 2011, S. 7f.; ACCORD, Anfragebeantwortung zu Nigeria: Zwangsheirat, Innerstaatliche Fluchtalternative für alleinstehende Frau, Einfluss von Voodoo-Praktiken, 16. März 2016). In einer Zeremonie am 9. März 2018 verbot Oba (ein traditioneller Titel) Ewuare II. den Juju-Priestern jegliche Beteiligung an Ritualen, mit deren Hilfe die Auswanderung ins Ausland befördert werden soll. Er versicherte denjenigen, die weiterhin am illegalen Menschenhandel beteiligt sind, dass sie von den Göttern des Königreichs Benin zerstört werden würden. Die Zeremonie fand in Anwesenheit von Juju-Priestern und Vorstehern der Schreine von Benin sowie von führenden Persönlichkeiten aus allen Bereichen der traditionellen Gesellschaft statt. Dies gilt jedoch nur auf dem Gebiet des Königreichs Benin, weshalb die Menschenhändler z.B. in den nur etwa 30 km südlich von Benin-City entfernt gelegenen Bundesstaat Delta ausweichen (vgl. Bundesamt, Länderreport 27 Nigeria: Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung Stand 06/2020, S. 9 f.).
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Ob nach Nigeria zurückkehrende Frauen, die Opfer von Menschenhandel geworden sind und sich hiervon befreit haben, eine soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG darstellen, kann offenbleiben (vgl. VG Würzburg, U.v. 17.11.2015 - W 2 K 14.30213, juris Rn. 29 f. m.w.N; a.A. VG Gelsenkirchen, U.v. 15. 3.2013 - 9a K 3963/11.A, juris). Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG gilt eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.
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Selbst bei Annahme einer sozialen Gruppe genügt allein die Zugehörigkeit zu einer solchen nicht, um einen Anspruch der Klägerin auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 und Abs. 1 AsylG zu begründen.
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Das Gericht hält es nach dem Vortrag der Klägerin bereits nicht für beachtlich wahrscheinlich, dass ihr in ihrem Heimatland Verfolgungshandlungen (§ 3a Abs. 1 AsylG) in Form von körperlicher Gewalt durch das Netzwerk drohen. Es kann dabei dahingestellt bleiben, ob die Klägerin Opfer eines Menschenhandelsnetzwerks wurde, denn es gibt keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass der Klägerin - selbst wenn man die Wahrheit ihres Vortrags unterstellt - wegen ihrer Anwerbung als Zwangsprostituierte und insbesondere der unterbliebenen Rückzahlung der Kosten für die Flucht nach Europa mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung bei einer Rückkehr nach Nigeria durch das Menschenhandelsnetzwerk drohen würde. Die Klägerin hat selbst angegeben seit 2016 nichts mehr von ihrer Madam gehört zu haben, darüber hinaus gab sie an, bereits 45.000 Euro an die Madam zurückgezahlt zu haben, damit sind die realen Kosten der Flucht weit überstiegen und es ist nicht davon auszugehen, dass seitens der Madam ein weiteres Verfolgungsinteresse an der Klägerin besteht. Es erscheint daher nicht beachtlich wahrscheinlich, dass dieses vermeintliche Menschenhandelsnetzwerk die Klägerin nun nach mehreren Jahren aufspüren und wegen der unterbliebenen Rückzahlung eines geringeren Anteils der vermeintlichen Kosten für die Flucht bedrohen würde.
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Dies kann jedoch dahinstehen, denn jedenfalls könnte die Klägerin in Nigeria staatlichen Schutz vor Verfolgung erlangen, § 3d Abs. 1 und 2 AsylG. Vorliegend würde eine vermeintliche Verfolgung gerade durch den Staat, sondern durch Privatpersonen, vorliegend das Menschenhandelsnetzwerk, erfolgen. Nach § 3c Nr. 3 AsylG kann die Verfolgung auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens ist, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten. Nach § 3d Abs. 1 AsylG ist der Schutz gegen nichtstaatliche Akteure gewährleistet, wenn der Staat willens und in der Lage ist, wirksamen und nicht nur vorübergehenden Schutz gemäß § 3d Abs. 2 AsylG zu bieten. Nach § 3d Abs. 2 AsylG ist ein solcher wirksamer und nicht nur vorübergehender Schutz generell gewährleistet, wenn der Staat geeignete Schritte einleitet, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung und Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat.
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Mit dem Trafficking In Persons (Prohibition) Law Enforcement and Administration Act (2015) hat der nigerianische Staat Menschenhandel gesetzlich verboten und somit derartige Rechtsvorschriften erlassen. Die Bekämpfung des Menschenhandels, die Verfolgung der Täter im Bereich Menschenhandel und Schutzmaßnahmen für Opfer durch temporäre Unterkunft, Beratung, Rehabilitierung, Reintegration und Zugang zur Justiz sind Aufgabe der 2003 gegründeten Bundesbehörde NAPTIP (National Agency for the Prohibition of Trafficking in Person) (vgl. BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Nigeria, Stand: 23. November 2020, S. 54). Die NAPTIP hat bis Ende 2018 die Verurteilung von 388 Schleppern erreicht sowie 13.533 Opfer von Menschenhandel unterstützt.
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2018 wurde zudem in Edo State ein eigenes Gesetz zur Bekämpfung von Menschenhandel (Edo State Trafficking in Persons Prohibition Bill) verabschiedet (Pathfinders, Justice Initiative: Edo State Human Trafficking Bill Signed Into Law by Governor Obaseki, https://pathfindersji.org/edo-state-passes-new-law-against-human-trafficking/#:~:text=On%20May%2023% 2C%202018%2C%20the%20Governor%20of%20Edo,and%20punishment%20of%20human %20trafficking%20and%20related%20). Dieses Gesetz sieht höhere Strafen für Schleuser vor. Auf Grundlage dieses Gesetzes bekämpft die staatliche Edo State Task Force Against Human Trafficking (ETAHT) unter anderem in Zusammenarbeit mit der Internationalen Organisation für Migration, der Republik Italien und der Europäischen Union den Menschenhandel. 14 Gerichtsprozesse und 33 Ermittlungsverfahren waren bereits im zweiten Jahr der Tätigkeit der Organisation anhängig (vgl. Edo State Taskforce Against Human Trafficking (ETAHT), Annual Report August 2018-August 2019, S. 45f., https://www.etaht.org/uploads/resourc es/TASKFORCE.pdf).
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Darüber hinaus hat Oba Ewuare II. König von Benin (Bundesstaat Edo), am 9. März 2018 in einer Zeremonie in seinem Palast in Benin-City alle Opfern des Menschenhandels auferlegten Flüche für nichtig erklärt, und im Gegenzug jene, welche die Flüche ausgesprochen haben, ihrerseits mit einem Fluch belegt (vgl. Bundesamt, Länderreport 27 Nigeria: Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung Stand 06/2020, S. 9f.). Deswegen verlassen teilweise Menschenhändler den traditionellen Hotspot des Menschenhandels Edo State und entfalten ihre Aktivitäten in anderen Bundesstaaten (vgl. Bundesamt, Länderreport 27 Nigeria: Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung Stand 06/2020, S. 4).
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Nach den Erkenntnissen werden nicht alle Täter einer Strafverfolgung zugeführt, vielmehr ist von einem großen Dunkelfeld auszugehen. Das stellt die Wirksamkeit des Schutzes vor Verfolgung jedoch nicht infrage. Ein wirksamer Schutz gemäß § 3d Abs. 2 AsylG ist bereits dann anzunehmen, wenn bei entsprechender Schutzbereitschaft geeignete Schritte im Sinne von § 3d Abs. 2 Satz 2 AsylG der Vorschrift eingeleitet werden. Eine grundsätzliche Schutzbereitschaft des Staates bei Übergriffen Privater besteht, wenn Polizei und Sicherheitsbehörden zur Schutzgewährung ohne Ansehung der Person verpflichtet und dazu von der Regierung auch landesweit angehalten sind, vorkommende Fälle von Schutzversagung mithin ein von der Regierung nicht gewolltes Fehlverhalten der Handelnden sind (vgl. BVerwG, U.v. 5.7.1994 - 9 C 1/94, juris Rn 9).
35
Dafür, dass Fälle eklatanten Schutzversagens und Willkür gegenüber den Frauen, die - insbesondere bei der ETAHT - vor Menschenhändlern Schutz suchen, durch den nigerianischen Staat toleriert werden, die Schutzmaßnahmen also im Wesentlichen auf dem Papier existieren, sieht die Einzelrichterin keine Anhaltspunkte.
36
Vor diesem Hintergrund kann die Klägerin insofern nicht behaupten, Verfolgung zu befürchten.
37
Darüber hinaus gibt es zur Überzeugung des Gerichts keine Anhaltspunkte dafür, dass der Klägerin durch die Gesellschaft eine Stigmatisierung aufgrund der Tätigkeit als Prostituierte drohen würde. Vorliegend hat die Klägerin lediglich ihrer bereits verstorbenen Mutter über die Prostitution in Frankreich erzählt, mögliche Verfolgungshandlungen durch die lokale Gemeinschaft sind somit nicht beachtlich wahrscheinlich.
38
c) Schließlich ist festzustellen, dass die Klägerin bei einer Rückkehr nach Nigeria nicht gezwungen ist, an ihren vormaligen Aufenthaltsort zurückzukehren. Das Gericht ist der Auffassung, dass die Klägerin durchaus in der Lage ist, innerhalb Nigerias eine anderweitige Relokationsmöglichkeit zu ergreifen, sodass der Klägerin interner Schutz vor Verfolgung zur Verfügung steht, § 3e Abs. 1 AsylG. Dies sowohl im Hinblick auf eine vermeintliche Gefahr der Beschneidung als auch bezüglich der vermeintlichen Verfolgung durch das Menschenhandelsnetzwerk.
39
Gemäß § 3e AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslands keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (sog. „interner Schutz“, vgl. § 3e Abs. 1 AsylG). Bei der Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen des § 3e Abs. 1 AsylG erfüllt, sind gemäß § 3e Abs. 2 Satz 1 AsylG die im sicheren Teil des Herkunftslandes vorhandenen allgemeinen Gegebenheiten sowie die persönlichen Umstände der Klägerin zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung zu berücksichtigen. Der in § 3e Abs. 1 AsylG angelegte Zumutbarkeitsmaßstab geht über das Fehlen einer im Rahmen des § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG beachtlichen existenziellen Notlage hinaus. Die Beurteilung erfordert eine Einzelfallprüfung. Dabei sind die individuellen Besonderheiten wie Sprache, Bildung, persönliche Fähigkeiten, vorangegangene Aufenthalte der Klägerin in dem in Betracht kommenden Landesteil, örtliche und familiäre Bindungen, Geschlecht, Alter, ziviler Status, Lebenserfahrung, soziale Einrichtungen, gesundheitliche Versorgung und verfügbares Vermögen zu berücksichtigen. Entscheidend dafür, ob eine inländische Fluchtalternative als zumutbar angesehen werden kann, ist insbesondere auch die Frage, ob an dem verfolgungssicheren Ort das wirtschaftliche Existenzminimum des Asylsuchenden gewährleistet ist. Dies ist in der Regel anzunehmen, wenn der Asylsuchende durch eigene Arbeit oder Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu seinem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen kann. Nicht mehr zumutbar ist die Fluchtalternative, wenn der Asylsuchende an dem verfolgungssicheren Ort bei der gebotenen grundsätzlich generalisierenden Betrachtungsweise auf Dauer ein Leben zu erwarten hat, das zu Hunger, Verelendung und schließlich zum Tod führt oder, wenn er dort nichts Anderes zu erwarten hat als ein Dahinvegetieren am Rande des Existenzminimums.
40
Die Klägerin hat keine begründete Furcht vor Verfolgung in anderen Landesteilen Nigerias, § 3e Abs. 1 Nr. 1 AsylG. Selbst bei Annahme einer Verfolgung durch private Personen hinsichtlich der Gefahr einer Genitalverstümmelung oder einer Verfolgung durch das Menschenhandelsnetzwerk kann diese nicht für das gesamte Gebiet Nigerias geltend gemacht werden. Die Klägerin kann sich beispielsweise in eine der zahlreichen Großstädte Nigerias, insbesondere Abuja oder in den liberaleren Südwesten des Landes, nach Lagos oder Ibadan, begeben. Sie genießt Freizügigkeit in ganz Nigeria, so dass sie ihren Wohn- und Aufenthaltsort grundsätzlich frei bestimmen kann. Dass der Klägerin die behauptete Gefahr landesweit droht, ist nach dem geschilderten weder naheliegend, noch wurde dies von ihr selbst substantiiert behauptet. Wenn die Klägerin die ländlichen Gegenden meidet, ist es unwahrscheinlich, dass diese in einer anonymen Großstadt nach mehrjähriger Abwesenheit außerhalb der Heimatregion aufgefunden würde. Angesichts der tatsächlichen Gegebenheiten Nigerias, einem Land mit ca. 200 Millionen Einwohnern, einer Fläche von 925.000 Quadratkilometer und mehreren Millionenstädten, das faktisch weder über ein Meldewesen verfügt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria vom 5. Dezember 2020 (Stand: September 2020), S. 27; BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Nigeria, Stand: 23. November 2020, S. 67) noch ein zentrales Fahndungssystem besitzt (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an Bundesamt vom 20. Februar 2020; BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Nigeria, Stand: 23. November 2020, S. 67), ist es unwahrscheinlich einen Menschen in einem anderen Landesteil außerhalb seiner Heimatregion zu finden. Grundsätzlich besteht damit nach der Erkenntnislage in den meisten Fällen die Möglichkeit, staatlicher Verfolgung, Repressionen Dritter sowie Fällen massiver regionaler Instabilität durch Umzug in einen anderen Teil des Landes auszuweichen. In städtischen Gebieten ist die weibliche Beschneidung nicht mehr derart üblich, sodass der Gefahr eines gesellschaftlichen Drucks zur Beschneidung durch Umzug in eine größere Stadt entgangen werden kann. Beispielsweise gilt die weibliche Genitalverstümmelung in Lagos als absolute Ausnahme (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Informationszentrum Asyl und Migration - weibliche Genitalverstümmelung - Formen, Auswirkungen, Verbreitung, Asylverfahren - April 2010, S. 44). Wenn die Klägerin nicht von sich aus zu ihrer Dorfgemeinschaft oder dem Menschenhandelsnetzwerk Kontakt aufnimmt, ist es unwahrscheinlich, dass sie in einer anonymen Großstadt nach vielen Jahren der Abwesenheit außerhalb ihrer Heimatregion aufgefunden wird.
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Von der Klägerin kann auch vernünftigerweise erwartet werden, dass sie sich in anderen Landesteilen Nigerias niederlässt, § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Die Klägerin wird auch in einem anderen Landesteil in der Lage sein, für sich eine existenzsichernde Lebensgrundlage aufzubauen. Zwar geht aus den vorliegenden Erkenntnissen hervor, dass ein Umzug in einen anderen Landesteil unter Umständen mit wirtschaftlichen und sozialen Problemen verbunden sein kann, wenn sich Einzelpersonen an einen Ort begeben, an dem sie kein soziales Umfeld haben. Insbesondere familiären Bindungen kommt in der nigerianischen Gesellschaft eine gesteigerte Bedeutung zu (vgl. BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Nigeria, Stand: 23. November 2020, S. 66; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria vom 5. Dezember 2020 (Stand: September 2020), S. 17). Die Klägerin kann im Fall der Rückkehr nach Nigeria in eine der zahlreichen Großstädte ziehen, in denen sie eine existenzsichernde Erwerbstätigkeit aufnehmen und ihren Lebensunterhalt sowie den ihres Kindes erwirtschaften könnte. Das Gericht geht davon aus, dass die Klägerin als junger, gesunder Mensch in Nigeria in einer der zahlreichen Großstädte jedenfalls eine existenzsichernde Arbeit für sich finden und ihre elementaren Grundbedürfnisse befriedigen kann, auch wenn sie nicht auf die Hilfe von Familienangehörigen hoffen können.
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Die Zumutbarkeit gilt umso mehr, als die Klägerin im Falle einer freiwilligen Rückkehr sowohl Start- als auch Rückkehrhilfen in Anspruch nehmen kann. Mit den bestehenden Reintegrationsprogrammen erhalten Rückkehrer nach Nigeria abhängig vom jeweiligen Förderprogramm individuelle Unterstützungen bei der Wiedereingliederung und vorübergehenden Existenzsicherung im Herkunftsland in Form von Geld- oder Sachleistungen. Ergänzend ist anzumerken, dass Nigeria speziell für Frauen über eine Anzahl staatlicher und halbstaatlicher Einrichtungen verfügt, die sich um die Rehabilitierung und psychologische Betreuung rückgeführter Frauen kümmern, ihnen bei der Reintegration helfen, als zentrale Anlaufstelle fungieren und auch eine mehrmonatige Rehabilitierung (psychologische Betreuung) sowie Berufstraining anbieten (BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Nigeria, Stand: 23. November 2020, S. 54 ff.).
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Bundesweit können abgelehnte Asylbewerber mit nigerianischer Staatsangehörigkeit im Rahmen des Rückkehrprogramms REAG (Reintegration and Emigration Programme for Asylum-Seekers in Germany)/GARP (Government Assisted Repatriation Programme) Förderung erhalten. Das Programm unterstützt sowohl finanziell als auch organisatorisch bei der freiwilligen Rückkehr in die Heimat oder bei der Weiterwanderung in ein anderes Land. Dabei werden Flug- oder Bustickets gestellt, eine Reisebeihilfe gewährt, medizinische Unterstützung ermöglicht. Zudem wird eine Starthilfe von 1.000,- Euro pro Person ab 18 Jahren bzw. unbegleiteten Minderjährigen und 500,- Euro pro Person unter 18 Jahren gezahlt. Die maximale Förderhöhe beträgt 3.500,- Euro pro Familie (vgl. https://files.returningfromgermany.de/files/(04)%20Informationsblatt%20REAGGARP%20und%20StarthilfePlus_März%202021_DE.pdf).
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Ergänzend können freiwillige Rückkehrer, die über das REAG/GARP-Programm ausreisen in Nigeria die Reintegrationsunterstützung StarthilfePlus erhalten. Diese sogenannte „2. Starthilfe“ umfasst eine Zahlung von 2.000 Euro an Familien, Einzelpersonen bzw. unbegleitete Minderjährige erhalten 1.000 Euro (vgl. https://files.returningfromgermany.de/files/(04)%20Informationsblatt%20REAGGARP%20und%20StarthilfePlus_März%202021_DE.pdf).
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Weiterhin steht Rückkehrern nach Nigerias das gemeinsame Rückkehr- und Reintegrationsprogramm von zahlreichen europäischen Partnerstaaten, ERRIN (European Return and Reintegration Network), zur Verfügung. Dieses bietet individuelle Unterstützung bei der Wiedereingliederung im Herkunftsland. Schwerpunkte des Programms sind u.a. individuelle Unterstützung nach (freiwilliger und zwangsweiser) Rückkehr in das Herkunftsland durch ein Netzwerk lokaler Service Provider und Partner und Erleichterung der Rückkehr und Reintegration vulnerabler Personen. Die Reintegrationshilfen umfassen Beratung nach der Ankunft zur Analyse des Reintegrationsbedarfs, Unterstützung bei der Suche nach einer temporären Wohnmöglichkeit nach der Ankunft in Nigeria, berufliche Qualifizierungsmaßnahmen, Hilfe bei der Arbeitsplatzsuche, Unterstützung bei einer Existenzgründung, Grundausstattung für die Wohnung, Beratung und Begleitung zu behördlichen, medizinischen und caritativen Einrichtungen. Die Höhe der Leistungen betragen bei freiwilliger Rückkehr, für Einzelpersonen bis zu 2.000,- Euro, für Familien bis zu 3.300,- Euro sowie bei festgestellter Vulnerabilität: einmalig zusätzlich 500,- Euro. Zwangsweise rückgeführte Personen erhalten bis zu 1.000,- Euro (vgl. https://www.returningfromgermany.de/de/programmes/erin-action-plan-2016-ap-2016).
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Laut Angaben des Auswärtigen Amtes sind zudem internationale Akteure wie GIZ und IOM (mit deutscher und EU-Finanzierung) bemüht, neue Rückkehrer- bzw. Migrationsberatungszentren aufzubauen. Eine entsprechende Einrichtung von IOM in Benin-City, Edo State, wurde 2018 eröffnet. Im Herbst 2018 hat zudem in Lagos das Migrationsberatungszentrum der GIZ seinen Betrieb aufgenommen. Gemeinsam mit dem nigerianischen Arbeitsministerium wird dort über berufliche Perspektiven in Nigeria informiert (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria vom 5. Dezember 2020 (Stand: September 2020), S. 23). Darüber hinaus gibt es die zivilgesellschaftliche Organisation „Idia Renaissance Nigeria“, die je nach individueller Lage Leistungen anbieten, beispielsweise die Unterstützung bei der Suche nach (temporären) Wohnmöglichkeiten oder auch Mediation bei der Wiederherstellung des Kontakts mit Familienmitgliedern (vgl. https://www.returningfromgermany.de/de/programmes/idia-renaissance-nigeria/).
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Zuletzt besteht noch das Angebot des „Bayerischen Rückkehrprogramms“ (vgl. https://www.lfar.bayern.de/mam/ueber_das_lfar/aufgabenbereiche/freiwilligerueckkehr/flyer_ dina5_freiwillige-r%C3%BCckkehr.pdf), wonach u.a. eine einmalige persönliche Reintegrationshilfe gewährt werden kann oder auch ein Zuschuss zur Existenzgründung, Ausbildungsbeihilfe, Überbrückungsgeld für Personen in besonderen Lebenslagen für bis zu zwölf Monate.
48
Dabei ist ergänzend darauf hinzuweisen, dass sich die Klägerin nicht darauf berufen kann, dass die genannten Start- und Reintegrationshilfen ganz oder teilweise nur für freiwillige Rückkehrer gewährt werden, also teilweise nicht bei einer zwangsweisen Rückführung. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann ein Asylbewerber, der durch eigenes zumutbares Verhalten - wie insbesondere durch freiwillige Rückkehr - im Zielstaat drohende Gefahren abwenden kann, nicht vom Bundesamt die Feststellung eines Abschiebungsverbots verlangen (vgl. BVerwG, Urt. v. 15. April 1997 - 9 C 38.96 - juris, Rn. 27; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 26. Februar 2014 - A 11 S 2519/12 - juris). Dies gilt aus Sicht des Gerichts auch für die Zumutbarkeitsbeurteilung eines internen Schutzes. Dementsprechend ist es der Klägerin möglich und zumutbar, gerade zur Überbrückung der ersten Zeit nach einer Rückkehr nach Nigeria freiwillig Zurückkehrenden gewährte Reisehilfen sowie Reintegrationsleistungen in Anspruch zu nehmen.
49
Dieser internen Relokationsmöglichkeit steht auch nicht die COVID-19-Pandemie in Nigeria entgegen. Auch bei Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation in Nigeria wegen der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie insbesondere auf den Rohölpreis (vgl. Bundesamt, Länderinformation COVID-19-Pandemie, Die Gesundheitssysteme in den Top-10-Herkunftsländern, Stand: 06/2020, S. 28 f.; BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Nigeria, Stand: 23. November 2020, S. 6), erachtet es das Gericht zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt nicht für beachtlich wahrscheinlich, dass sich die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in einem derartigen Maß verändern, dass eine grundsätzliche Neubetrachtung der Situation erforderlich wäre. Insbesondere werden seitens des nigerianischen Staates Gegenmaßnahmen ergriffen, beispielsweise wurde ein Notfallfonds für das „Nigeria Centre for Disease Control“ eingerichtet, es wurden Konjunkturpakete geschaffen und auch Nahrungsmittel verteilt (vgl. Bundesamt, Länderinformation COVID-19-Pandemie, Die Gesundheitssysteme in den Top-10-Herkunftsländern, Stand: 06/2020, S. 28 f). Zudem hat der internationale Währungsfond Soforthilfen für Nigeria in Höhe von 3,4 Milliarden US-Dollar gewährt, um Wirtschaft und Währung in der Corona-Krise auch angesichts des Verfalls der Ölpreise zu stabilisieren (https://www.imf.org/en/News/Articles/2020/04/28/pr20191-nigeria-imf-executive-board-appro ves-emergency-support-to-address-covid-19). Die Bundesstaaten können auf Grundlage von Empfehlungen der nigerianischen Bundesregierung über das Ausmaß COVIDbezogener Beschränkungen selbständig entscheiden. Diese Beschränkungen wirken sich bislang nicht erheblich auf die wirtschaftlichen Verhältnisse aus. Das Gericht geht davon aus, dass zumindest der für viele Nigerianer als Einnahmequelle relevante informelle Sektor unter diesen Bedingungen auch der Klägerin wieder zur Verfügung stehen wird.
50
2. Der Klägerin steht auch nicht die begehrte Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 1 AsylG (Todesstrafe), § 4 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 2 AsylG (Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung), oder § 4 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 3 AsylG i.V.m. Art. 15 Buchst. c QualRL in Bezug auf Nigeria, wohin ihr die Abschiebung angedroht wurde, zu.
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Für die Beurteilung der Frage, ob die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens begründet ist, gilt unabhängig davon, ob bereits eine Vorverfolgung stattgefunden hat, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 - 10 C 25.10, juris Rn. 22). Eine Privilegierung desjenigen, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat, erfolgt aber wiederum durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QualRL. Ein bereits erlittener bzw. vor der Ausreise unmittelbar drohender ernsthafter Schaden, sind danach ernsthafte Hinweise darauf, dass ein Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, auch im Falle einer Rückkehr einen ernsthaften Schaden zu erleiden. Dies gilt nur dann nicht, wenn stichhaltige Gründe dagegensprechen, dass der Ausländer erneut von einem solchen Schaden bedroht wird. In der Vergangenheit liegenden Umständen ist damit auch insofern Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft beizumessen (vgl. auch OVG NRW, U.v. 21.2.2017 - 14 A 2316/16.A, juris Rn. 24).
52
Gründe für die Feststellung von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG sind weder vorgetragen noch sind sie sonst ersichtlich.
53
Des Weiteren ist nach den obigen Ausführungen nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Klägerin in Nigeria eine konkrete Gefahr im Sinne des § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AsylG in Form von Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung droht. Eine Gefahr durch das Menschenhandelsnetzwerk oder gar eine Dorfgemeinschaft ist nicht beachtlich wahrscheinlich, siehe oben.
54
Zuletzt ist auch eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Klägerin infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nicht zu befürchten.
55
Der Begriff des internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ist unter Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts und in Übereinstimmung mit Art. 15 Buchst. c) QualRL auszulegen. Nach der obergerichtlichen Rechtsprechung müssen danach die Kampfhandlungen von einer Qualität sein, wie sie unter anderem für Bürgerkriegssituationen kennzeichnend sind. Sie müssen über innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und ähnliche Handlungen hinausgehen. Bei innerstaatlichen Krisen, die zwischen diesen beiden Erscheinungsformen liegen, scheidet die Annahme eines bewaffneten Konflikts im Sinne von Art. 15 Buchst. c) QualRL nicht von vornherein aus. Der Konflikt muss aber jedenfalls ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wofür Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfe typische Beispiele sind. Ein solcher innerstaatlicher bewaffneter Konflikt kann überdies landesweit oder regional (z.B. in der Herkunftsregion des Ausländers) bestehen, er muss sich mithin nicht auf das gesamte Staatsgebiet erstrecken. Erforderlich ist jedoch, dass die Situation in der Herkunftsregion des Ausländers durch einen so hohen Grad willkürlicher Gewalt gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit dort einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre oder zumindest der von der Abschiebung bedrohte Ausländer als Zivilperson aufgrund gefahrerhöhender persönlicher Umstände in dieser Weise individuell bedroht wäre (vgl. dazu: EuGH, U. v. 17.2.2009 - C-465/07 Elgafaji, juris; BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 4/09, juris; BayVGH, B.v. 14.12.2010 - 13a B 10.30084, juris und 13a B 10.30100, juris; VGH Baden-Württemberg, U.v. 25.3.2010 - A 2 S 364/09, juris). Eine derartige Gefahrensituation besteht nach den dem Gericht vorliegenden und in das Verfahren eingeführten Auskünften derzeit nicht.
56
Gewalt ist in der nigerianischen Gesellschaft alltäglich. Armut, mangelnde Bildung, Korruption der Staatsorgane und damit einhergehende Perspektivlosigkeit, vor allem junger Männer, bilden ideale Voraussetzungen für eine latente Gewaltbereitschaft aus politischen, religiösen oder wirtschaftlichen Motiven. Die staatlichen Ordnungskräfte sind personell, technisch und finanziell nicht in der Lage, die Gewaltkriminalität befriedigend zu kontrollieren. Zudem geht ein Teil der Kriminalität nach allgemeiner Auffassung auf das Konto der Polizei bzw. des Militärs selbst. Folter, willkürliche Verhaftungen und extralegale Tötungen gehören nach wie vor zum Handlungsrepertoire staatlicher Sicherheitsorgane, unter denen insbesondere die ärmeren Bevölkerungsschichten zu leiden haben (so AA, Lageberichte vom 6.5.2012, Stand: April 2012, vom 28.8.2013, Stand: August 2013; vom 21.1.2018, Stand: September 2017, vom 10.12.2018, Stand: Oktober 2018 und vom 16.1.2020, Stand: Januar 2020). Gleichwohl gibt es in Nigeria keine Bürgerkriegsgebiete und keine Bürgerkriegsparteien. Im Wesentlichen lassen sich vier Konfliktherde unterscheiden. Der Boko Haram-Konflikt im Nordosten, der Ressourcenkonflikt zwischen Hirten und Bauern im Middlebelt, der derzeit latent bestehende „Biafra-Konflikt“ im Südosten sowie die Spannungen im ölreichen Niger-Delta.
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Im Nordosten hat sich die Sicherheitslage nach zeitweiliger Verbesserung in den Jahren 2015 bis 2017 seit 2018 weiter verschlechtert. Die nigerianischen Streitkräfte sind nicht in der Lage, ländliche Gebiete zu sichern und zu halten und beschränken sich auf das Verteidigen einiger urbaner Zentren im Bundesstaat Borno. 7,1 Mio. Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Wegen der anhaltenden Sicherheitsgefährdung besteht die humanitäre Krisenlage im Nordosten Nigerias fort, wenngleich sie gegenüber 2016/2017 durch den massiven Einsatz der internationalen Gebergemeinschaft (u.a. Deutschland) abgemildert werden konnte.
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Im „Middlebelt“ (insbesondere Kaduna-Süd, Taraba, Plateau und Benue State) kam es in den letzten Jahren immer häufiger zu gewalttätigen Auseinandersetzungen um knapper werdende Ressourcen zwischen Hirten und den dort traditionell ansässigen Bauern, in einigen Fällen sogar mit hunderten Toten. Der Konflikt lädt sich immer stärker auch ideologisch auf, zwischen Christen und Muslimen bzw. verschiedenen Ethnien.
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Die Lage im Südosten des Landes („Biafra“) bleibt latent konfliktanfällig. Die „Indigenous People of Biafra“ (IPOB) ist allerdings derzeit in Nigeria nicht sehr aktiv (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 5. Dezember 2020, S. 9).
60
Im Niger-Delta, dem entlang der Atlantikküste gelegenen südlichsten Landesteil und Zentrum der Erdöl- und Erdgasindustrie, klagt die dortige Bevölkerung über massive, auch durch internationale Ölförderkonzerne verursachte Umweltdegradation, jahrzehntelange Benachteiligung, kaum vorhandene Infrastruktur und Bildungseinrichtungen und Korruption, insbesondere auf Ebene der Bundesstaaten, die darüber hinaus zur besorgniserregenden Vernachlässigung der Region geführt hat. Die politische Bewegung für das Überleben der Ogoni, MOSOP („Movement for the Survival of the Ogoni People“) oder der Rat der Ijaw-Jugend, IYC („Ijaw Youth Council“), erheben Forderungen nach größerer Autonomie und Entschädigung für verursachte Umweltschäden. Von 2000 bis 2010 agierten im Niger-Delta militante Gruppen, die den Anspruch erhoben, die Rechte der Delta-Bewohner zu verteidigen und die Forderungen auf Teilhabe an den Öleinnahmen auch mittels Gewalt (Sabotage der Öl-Infrastruktur) durchzusetzen. 2009 gelang dem damaligen Präsidenten Yar’Adua mit einem Amnestieangebot für die Militanten im Niger-Delta eine Beruhigung des Konflikts. Unter Staatspräsident Buhari lief das Programm zwar am 15.12.2015 aus. Nach Wiederaufnahme der Attacken gegen die Öl-Infrastruktur ist das Amnestieprogramm aber bis 2019 verlängert worden. Auch wenn Dialogprozesse zwischen der Regierung und Delta-Interessengruppen laufen und derzeit ein „Waffenstillstand“ zumindest grundsätzlich hält, scheint die Regierung nicht wirklich an Mediation interessiert zu sein, sondern die Zurückhaltung der Aufständischen zu „erkaufen“ und im Notfall mit militärischer Härte durchzugreifen. In Krisenzeiten kam es hier zu massiven Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitsorgane; willkürlichen Verhaftungen, „Verschwinden“ von Verdächtigen, Hinrichtungen und Folter, und zwar auch von Minderjährigen (AA, Lagebericht vom 16.1.2020, Stand: Januar 2020, S. 9 f.).
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Nach alledem gibt es in Nigeria zwar vier örtlich begrenzte Regionen, in denen die Sicherheitslage angespannt ist. Gleichwohl liegen keine Berichte vor, aufgrund derer die Annahme gerechtfertigt wäre, eine Zivilperson werde bei Rückkehr in die betreffende Region allein durch ihre Anwesenheit in diesem Gebiet mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen, einer individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt sein.
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Im Übrigen sei darauf hingewiesen, dass es in Nigeria zahlreiche Regionen gibt, in denen die Sicherheitslage stabil ist. In diversen größeren Städten des Landes besteht derzeit keine angespannte Lage und sie gehören nicht zu den benannten Konfliktzonen. Dorthin könnte sich die Klägerin begeben (vgl. §§ 4 Abs. 3 Satz 1, 3e Abs. 1 AsylG).
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3. Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
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a) Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG liegt nicht vor. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 - EMRK - (BGBl. 1952 II, S. 686) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. In diesem Zusammenhang kommt vor allem eine Verletzung des Art. 3 EMRK in Frage (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014 - 13a B 14.30285, juris Rn. 15 ff.), wonach niemand unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, die auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verweist, ist eine unmenschliche Behandlung und damit eine Verletzung des Art. 3 EMRK allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen möglich (BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C.15.12, juris; U.v. 13.6.2013 - 10 C 13.12, juris; EGMR, U.v. 21.1.2011 - M.S.S./Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09, NVwZ 2011, 413; U.v. 28.6.2011 - Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07, NVwZ 2012, 681; U.v. 13.10.2011 - Husseini/Schweden, Nr. 10611/09, NJOZ 2012, 952). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR, U.v. 28.6.2011 - Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07, NVwZ 2012, 681, Rn. 278, 282 f.) verletzen humanitäre Verhältnisse Art. 3 EMRK zum einen in ganz außergewöhnlichen Fällen, wenn die humanitären Gründe gegen die Rückführung in den Herkunftsstaat „zwingend“ seien. Solche humanitären Gründe können auch in einer völlig unzureichenden Versorgungslage begründet sein (so auch BayVGH, U.v. 19.7.2018 - 20 B 18.3080, juris Rn. 54). Da eine Verletzung des Art. 3 EMRK nur in außergewöhnlichen Fällen angenommen werden kann, ist ein sehr hoher Gefährdungsgrad zu fordern (BayVGH, U.v. 21.11.2014 - 13a B 14.30285, juris Rn. 19), allerdings keine Extremgefahr wie im Rahmen der verfassungskonformen Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (BayVGH, U.v. 21.11.2018 - 13a B 18.30632, juris Rn. 27; BVerwG, B.v. 23.8.2018 - 1 B 42.18, juris Rn. 13). Auch im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen; erforderlich aber auch ausreichend ist daher die tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen Behandlung (BayVGH, U.v. 21.11.2018 - 13a B 18.30632, juris Rn. 28).
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Eine derartige Gefahrensituation kann das Gericht, trotz der schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse in Nigeria nicht erkennen. Nigerias Haupteinnahmequelle stammt mit etwa 80% der Gesamteinnahmen aus der Öl- und Gasförderung. Zudem sind der (informelle) Handel und die Landwirtschaft von Bedeutung, die dem größten Teil der Bevölkerung eine Subsistenzmöglichkeit bieten. Die Industrie (Zentren im Südwesten, Südosten und Norden) leidet an Energiemangel und an Defiziten bei der Infrastruktur. Das BIP pro Einwohner betrug im Jahr 2017 laut Weltbank 1.994 $, ist aber ungleichmäßig zwischen einer kleinen Elite und der Masse der Bevölkerung verteilt. Weiterhin leben ca. 70% der Bevölkerung am Existenzminimum. (AA, Lagebericht vom 16.1.2020, Stand: September 2019, S. 21). Verschiedene Studien haben ergeben, dass mehr als 80% der arbeitsfähigen Bevölkerung Nigerias arbeitslos sind und dass 60% der Arbeitslosen Abgänger der Haupt- oder Mittelschule ohne Berufsausbildung sind. Offizielle Statistiken über Arbeitslosigkeit gibt es aufgrund fehlender sozialer Einrichtungen und Absicherung nicht. Die Familie unterstützt beschäftigungslose Angehörige. Es kann allgemein festgestellt werden, dass in Nigeria eine zurückgeführte Person, die in keinem privaten Verband soziale Sicherheit finden kann, keiner lebensbedrohlichen Situation überantwortet wird und ihre existenziellen Grundbedürfnisse aus selbstständiger Arbeit sichern kann, insbesondere dann, wenn Rückkehrhilfe angeboten wird. Generell wird die Last für Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung vom Netz der Großfamilie und vom informellen Sektor getragen (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Nigeria, Gesamtaktualisierung am 12.4.2019, S. 48 ff., 55). Für die Bewertung des konkreten Einzelfalles sind die Möglichkeiten der Lebensunterhaltssicherung in der jeweiligen Person der Klägerin in den Blick zu nehmen.
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Die Lebensumstände in Nigeria sind damit zwar schwierig, gleichwohl muss davon ausgegangen werden, dass das Existenzminimum für die Klägerin unter Einbeziehung von Rückkehrhilfen und sonstiger Unterstützung (wie bereits oben dargestellt) gesichert werden kann, sie verfügt nach der Überzeugung des Gerichts im Fall ihrer Rückkehr nach Nigeria über ausreichendes Erwerbspotenzial. Trotz der allgemein schlechten Wirtschaftslage ist zu erwarten, dass sie sich selbst dann in Nigeria eine Existenz aufbauen kann, wenn sie im Heimatland keinen familiären Anschluss mehr vorfindet. Die Klägerin selbst hat bereits Berufserfahrung als Friseurin. Die Klägerin ist jung und gesund, sodass davon auszugehen ist, dass sie für sich und ihr Kind ein Existenzminimum erwirtschaften könnte. Nicht zuletzt hat die Klägerin durch ihre Reise nach Europa und innerhalb Europas bewiesen, dass sie sich in einer für sie unbekannten Umgebung behaupten können.
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Zudem ist darauf hinzuweisen, dass sich auch aufgrund der derzeit herrschenden weltweiten COVID-19-Pandemie, von der auch Nigeria betroffen ist, kein nationales Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG ergibt.
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Schlechte humanitäre Verhältnisse können nur in ganz außergewöhnlichen Fällen zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK führen, nämlich dann, wenn es sich hierbei um zwingende humanitäre Gründe handelt (vgl. OVG NW, U.v. 24.3.2020 - 19 A 4470/19.A, juris). Aus der Rechtsprechung des EGMR (U.v. 28.6.2011 - 8319/07 und 11449/07, BeckRS 2012, 8036 - Rn. 278) und des Bundesverwaltungsgerichts (B.v. 13.2.2019 - 1 B 2.19, juris; U.v. 31.1.2013 - 10 C 15.12, juris) ergibt sich, dass die Annahme einer unmenschlichen Behandlung allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen ein sehr hohes Gefährdungsniveau voraussetzt. Nur dann liegt ein außergewöhnlicher Fall vor, in dem die gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechenden humanitären Gründe zwingend sind. Entscheidend ist, dass die Person keiner Situation extremer materieller Not ausgesetzt wird, die es ihr unter Inkaufnahme von Verelendung verwehrt, elementare Bedürfnisse zu befriedigen.
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Für eine derartige Verschlechterung der humanitären Verhältnisse in Nigeria gibt es, wie bereits oben dargestellt, keine Hinweise.
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b) Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Sätze 1 und 2 AufenthG ist für die Klägerin nicht feststellbar.
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Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 bis 4 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden (§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG). Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist (§ 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG). Dabei erfasst diese Regelung nur solche Gefahren‚ die in den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat begründet sind‚ während Gefahren‚ die sich aus der Abschiebung als solche ergeben‚ nur von der Ausländerbehörde als inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis berücksichtigt werden können (st. Rspr. zu § 53 Absatz 6 Satz 1 AuslG; vgl. BVerwG‚ U.v. 29.10.2002 - 1 C 1.02, juris Rn. 9; U.v. 25.11.1997 - 9 C 58.96, juris Rn. 9). Eine „erhebliche konkrete Gefahr“ im Falle einer zielstaatsbezogenen Verschlimmerung einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung ist daher gegeben, wenn sich der Gesundheitszustand alsbald nach der Rückkehr in den Heimatstaat wegen der dortigen Behandlungsmöglichkeiten wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern würde (vgl. BVerwG, U.v. 22.3.2012 - 1 C 3.11, juris Rn. 34; B.v. 17.8.2011 - 10 B 13.11 - juris; BayVGH, U.v. 17.3.2016 - 13a B 16.30007, juris Rn. 15). Gründe hierfür können nicht nur fehlende Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat sein, sondern etwa auch die tatsächliche Nichterlangbarkeit einer an sich vorhandenen medizinischen Behandlungsmöglichkeit aus finanziellen oder sonstigen persönlichen Gründen (vgl. BVerwG, U.v. 17.10.2006 - 1 C 18/05, juris Rn. 20).
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Um ein entsprechendes Abschiebungsverbot feststellen zu können, ist eine hinreichend konkrete Darlegung der gesundheitlichen Situation erforderlich, die in der Regel durch ein ärztliches Attest zu untermauern ist. Zwar ist der Verwaltungsprozess grundsätzlich durch den in § 86 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 VwGO statuierten Amtsermittlungsgrundsatz geprägt. Aus § 86 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 VwGO und § 74 Abs. 2 AsylG ergibt sich jedoch die Pflicht der Beteiligten, an der Erforschung des Sachverhalts mitzuwirken, was in besonderem Maße für Umstände gilt, die - wie eine Erkrankung - in die eigene Sphäre des Beteiligten fallen. Der sich auf eine seiner Abschiebung entgegenstehende Erkrankung berufende Ausländer muss diese daher durch eine qualifizierte, gewissen Mindestanforderungen genügende ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen (BayVGH, B.v. 27.11.2017 - 9 ZB 17.31302, juris Rn. 4). Es entspricht inzwischen gefestigter Rechtsprechung (vgl. BayVGH, B.v. 9.11.2017 - 21 ZB 17.30468, juris Rn. 4; B.v. 10.1.2018 - 10 ZB 16.30735, juris Rn. 8; OVG NRW, B.v. 9.10.2017 - 13 A 1807/17A, juris Rn. 19 ff.; OVG LSA, B.v. 28.9.2017 - 2 L 85/17, juris Rn. 2 ff.), dass die Anforderungen an ein ärztliches Attest, wie sie mittlerweile gemäß § 60a Abs. 2c AufenthG gesetzlich konkretisiert wurden (eingefügt durch Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11. März 2016, BGBl Jahr 2016 I S. 390), auf die Substantiierung der Voraussetzungen eines krankheitsbedingten Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG zu übertragen sind (vgl. BayVGH, B.v. 24.1.2018 - 10 ZB 18.30105, juris Rn. 7). Aus diesem muss sich nachvollziehbar ergeben, auf welcher Grundlage der Facharzt seine Diagnose gestellt hat und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt. Dazu gehören etwa Angaben darüber, seit wann und wie häufig sich der Patient in ärztlicher Behandlung befunden hat und ob die von ihm geschilderten Beschwerden durch die erhobenen Befunde bestätigt werden. Des Weiteren sollte das Attest Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf (Medikation und Therapie) geben. Wird das Vorliegen der Krankheit auf traumatisierende Erlebnisse gestützt und werden die Symptome erst längere Zeit nach der Ausreise aus dem Heimatland vorgetragen, so ist auch eine Begründung dafür erforderlich, warum die Erkrankung nicht früher geltend gemacht worden ist (vgl. BVerwG, U.v. 11.9.2007 - 10 C 8/07, juris).
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Derartige Erkrankungen wurden von der Klägerin weder vorgebracht noch sind sie sonst ersichtlich.
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Etwas anderes ergibt sich auch nicht hinsichtlich der COVID-19-Pandemie. Diese Gefahr droht nicht nur der Klägerin, sondern unterschiedslos allen Bewohnern Nigerias. Es handelt sich somit um eine sog. allgemeine Gefahr, da diese mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einem Großteil der Bevölkerung in Nigeria droht, mit der Folge, dass grundsätzlich die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG eingreift. Gemäß § 60 Abs. 7 S. 6 AufenthG sind Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 S. 1 AufenthG zu berücksichtigen. Nach § 60a Abs. 1 S. 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten oder von in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen allgemein und in bestimmte Staaten für längstens drei Monate ausgesetzt wird. Der Gesetzgeber beabsichtigte mit der Ausklammerung allgemeiner Gefahren gemäß § 60 Abs. 7 S. 6 AufenthG, dass dann, wenn eine bestimmte Gefahr der ganzen Bevölkerung oder einer im Abschiebezielstaat lebenden Bevölkerungsgruppe gleichermaßen droht, über deren Aufnahme oder Nichtaufnahme nicht im Einzelfall durch das Bundesamt und durch eine Ermessensentscheidung der Ausländerbehörde, sondern für die ganze Gruppe der potentiell Betroffenen einheitlich durch eine politische Leitentscheidung der obersten Landesbehörde, gegebenenfalls im Einvernehmen mit dem für Inneres zuständigen Bundesministerium, befunden wird. Diese Entscheidung des Bundesgesetzgebers haben die Verwaltungsgerichte aus Gründen der Gewaltenteilung zu respektieren. Sie dürfen daher im Einzelfall Ausländern, für die kein Abschiebestopp besteht, nur dann ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 S. 1 und 6 AufenthG zusprechen, wenn dies zur Vermeidung einer verfassungswidrigen Schutzlücke erforderlich ist (vgl. BVerwG, U.v. 13.06.2013 - 10 C 13.12, juris Rn. 13; OVG NRW, U.v. 24.03.2020 - 19 A 4470/19.A, juris Rn. 38). Dafür erforderlich ist, dass der Asylsuchende bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre.
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Eine derartige Extremgefahr ist im Hinblick auf die COVID-19-Pandemie aus Sicht des Gerichts nicht gegeben, es ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerin im Falle einer Abschiebung nach Nigeria einer extremen Gefahrenlage in diesem Sinne ausgesetzt wäre. Dafür, dass die Klägerin als …-jährige in Nigeria so schwer an dem Virus erkranken könnte, dass sie auch angesichts mangelhafter medizinischer Versorgung in eine existenzielle Gesundheitsgefahr geraten könnte, gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Insbesondere ist die Klägerin aktuell in Deutschland im selben, wenn nicht sogar in höherem Ausmaß einer Ansteckungsgefahr ausgesetzt ist.
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4. Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung beruhen als gesetzliche Folge der Nichtanerkennung als Asylberechtigter, der Nichtzuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. des fehlenden Aufenthaltstitels auf §§ 34 Abs. 1, 38 AsylG.
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Nach alledem war die Klage daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG; deshalb ist auch die Festsetzung eines Streitwerts nicht veranlasst.
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Die Entscheidung im Kostenpunkt war gemäß § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO für vorläufig vollstreckbar zu erklären.
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Der Gegenstandswert folgt aus § 30 RVG.