Titel:
Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Abschiebung nach Nigeria mit Blick auf den Schutz der Familie – Anspruch auf Rückholung (hier verneint)
Normenketten:
VwGO § 43, § 65 Abs. 1, § 113 Abs. 1 S. 1, S. 4, § 114
AufenthG § 30 Abs. 1 Nr. 3, § 58 Abs. 1, § 59 Abs. 1 S. 8, § 60a Abs. 2 S. 1, S. 3, Abs. 2c
GG Art. 6, Art. 19 Abs. 4
EMRK Art. 8
Leitsätze:
1. Maßgeblicher Entscheidungszeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Abschiebung ist der Zeitpunkt der Abschiebung. (Rn. 38) (redaktioneller Leitsatz)
2. Aus Art. 6 GG folgt grundsätzlich nicht, dass der Aufenthalt von Ehegatten, die beide ein Asylverfahren durchführen bzw. durchgeführt haben, bei unterschiedlichen Zeitpunkten des Eintritts der Vollziehbarkeit der Ausreisepflichten ausnahmslos nur gemeinsam beendet werden dürfte. (Rn. 48) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ein unmittelbares Abschiebungsverbot aus Art. 6 Abs. 1 oder 2 GG kann dann angenommen werden, wenn die Ehegatten und gegebenenfalls die Kinder – etwa wegen Krankheit oder Schwangerschaft des noch nicht ausreisepflichtigen Ausländers – in besonderem Maße auf einander angewiesen sind. (Rn. 52) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Abschiebung, Feststellung der Rechtswidrigkeit, Folgenbeseitigungsanspruch, Anspruch auf Rückholung (verneint), Risikoschwangerschaft, Feststellungsklage, maßgeblicher Zeitpunkt, Abschiebetermin, Unzumutbarkeit, Familie, ärztliches Attest, Asylverfahren, Rückholung
Fundstelle:
BeckRS 2021, 56959
Tenor
I. Es wird festgestellt, dass die Abschiebung des Klägers am 10. April 2019 rechtswidrig war.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu 75%, der Kläger zu 25% zu tragen.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte und der Kläger können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der jeweilig zu vollstreckenden Kosten abwenden, wenn nicht die Gegenseite vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger begehrt die Feststellung der Rechtswidrigkeit seiner Abschiebung nach Nigeria und deren Rückgängigmachung.
2
1. Der Kläger ist nach eigenen Angaben ein am … … 1986 in B.-C. geborener Staatsangehöriger Nigerias. Er reiste am 27. Oktober 2016 auf dem Landweg in das Bundesgebiet ein und beantragte am 23. November 2016 Asyl. Nachdem die ursprünglich ergangene Ablehnung des Asylantrags als unzulässig und die Abschiebungsanordnung nach Italien mit Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 18. Juli 2017 bestätigt wurde und die beabsichtigte Überstellung des Klägers nach Italien gescheitert war, wurden mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 4. Oktober 2017 (Az.: ...) die Anträge auf Flüchtlingsanerkennung, auf Asyl und auf subsidiären Schutz als offensichtlich unbegründet abgelehnt (Nr. 1, 2 und 3), festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4) und dem Kläger die Abschiebung nach Nigeria angedroht (Nr. 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Die hiergegen erhobene Klage wurde mit rechtskräftigem Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 2. März 2018 - .. . - als offensichtlich unbegründet abgewiesen.
3
Nach einer nigerianischen staatlichen Heiratsurkunde (S. 47 der eAkte), die der Kläger bei der Stellung des Asylantrags vorlegte, ist er mit der nigerianischen Staatsangehörigen, Frau P. E. O..-O. (O), verheiratet. Frau O. reiste am 3. August 2015 in das Bundesgebiet ein. Am … … 2015 entband Frau O. in B. die Tochter M., am … … 2017 die Tochter D. und am … … 2019 den Sohn J. Der Kläger und Frau O. erklärten für alle drei Kinder die Übernahme der gemeinsamen Sorge. Die Vaterschaft des Klägers für das Kind M. (geb. … … 2015) ist aufgrund genetischer Untersuchung „praktisch erwiesen“ (S. 126 eAkte).
4
Die Asylverfahren der Frau O. und der Kinder M. und D. waren zum Zeitpunkt der Klageerhebung beim Verwaltungsgericht Köln anhängig (Az.: … . und ...).
5
Der Kläger erhielt ab dem 18. Mai 2017 Duldungen mit jeweils ein- oder zweimonatiger Laufzeit. Zuletzt wurde ihm am 20. März 2019 eine Duldung für drei Wochen (Bl. 485/486 eAkte) ausgestellt.
6
Anträge des Klägers auf Umverteilung zur Familienzusammenführung vom 9. Mai 2017, 20. Juni 2017 und 14. Juli 2017 waren nicht erfolgreich, da die Stadt B. einer Umverteilung unter Hinweis auf die geringe Erfolgsaussicht des Asylverfahrens der Frau O. nicht zustimmte (siehe z.B. Schreiben vom 22.11.2017, Bl. 260 eAkte). Dabei erwähnte die Stadt B. mit Schreiben vom 20. Juni 2017 (Bl. 166), dass Frau O. wieder schwanger sei und sich sehr wünsche, mit dem Kläger zusammen zu leben.
7
Mit Email vom 2. April 2019 (Bl. 499 eAkte), 9:10 Uhr, sendete die Stadt Würzburg/Sozialamt an den Beklagten (Regierung von Unterfranken - Zentrale Ausländerbehörde Bayern Unterfranken, im Folgenden: ZAB) eine ärztliche Bescheinigung über die Risikoschwangerschaft der Frau O vom 1. Februar 2019 (Bl. 502 eAkte) und ein Schreiben der Tagesmutter vom 22. Februar 2019, dass der Kläger in B. als Beistand der Frau O. gebraucht werde. In der ärztlichen Bescheinigung wird festgestellt, dass bei Frau O. eine Risikoschwangerschaft bestehe und für den weiteren Verlauf der Schwangerschaft die Anwesenheit des Kindsvaters wünschenswert sei, um eine Entlastung der Patientin im Familienalltag mit zwei kleinen Kindern zu ermöglichen.
8
Im Schreiben der Beklagten - ZAB/Rückführung - vom 2. April 2019, 9:37 an die Operativen Ergänzungsdienste, mit dem die Ingewahrsamnahme und der Transport zur Rückführung eingeleitet wurde, wird erwähnt, dass die Ehefrau O. mit zwei Kindern in B. lebe und erneut schwanger sei. Die Stadt B. habe einer Umverteilung nicht zugestimmt, da sie mit einer ablehnenden Entscheidung über den Asylantrag der Mutter und der Kinder rechne und diese ebenfalls abschieben möchte. Auf Nachfrage der ZAB zum Sachstand des Asylverfahrens der Frau O. per Email vom 2. April 2019 unter Hinweis darauf, dass der Kläger demnächst abgeschoben werde, antwortete die Stadt B. am 4. April 2019 per Email, dass die Asylverfahren der Frau O. und der beiden Kinder unverändert und noch am Gericht anhängig seien. Frau O. sei wohl wieder schwanger (5. Monat).
9
Mit Schreiben vom 3. April 2019 (Bl. 531), eingegangen am selben Tag, ließ der Kläger durch seinen Rechtsbeistand bei der ZAB beantragen, die Wohnsitznahmeverpflichtung in Würzburg aufzuheben. Der Kläger habe für zwei Kinder die Vaterschaft anerkannt und bei seiner Ehefrau bestünde eine Risikoschwangerschaft. Hierzu wurden das fachärztliche Attest vom 1. Februar 2019 und die Erklärungen zur Übernahme der gemeinsamen Sorge vorgelegt. Die Stadt B., Ausländeramt, habe ihre grundsätzliche Zustimmung in Aussicht gestellt, falls eine Anfrage nach § 72 AufenthG gestellt werde. Hierzu wurde mit Email vom 9. April 2019 eine Email des Leiters der B. Ausländerbehörde vom 4. April 2019 nachgereicht, worin dieser seine Zustimmungsbereitschaft deutlich macht.
10
Am 10. April 2019, 21:45 Uhr, wurde der Kläger nach Nigeria abgeschoben.
11
Das am 11. April 2019 beim Verwaltungsgericht Würzburg anhängig gewordene Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes wurde mit Beschluss vom 13. Mai 2019 - . . - eingestellt, nachdem die Beteiligten die Hauptsache übereinstimmend wegen der bereits vollzogenen Abschiebung für erledigt erklärt hatten. In diesem Einstellungsbeschluss wurden die Kosten dem Antragsgegner/Beklagten auferlegt, weil der Kläger nach unwidersprochenem Vortrag erst bei seiner Vorsprache wegen seiner Duldungsverlängerung am selben Tag um 14:00 Uhr von der bevorstehenden Abschiebung erfahren habe und während seiner Abschiebung nicht die Möglichkeit gehabt habe, seinen Bevollmächtigten zu kontaktieren.
12
Am … … 2019 entband Frau O. in B. den Sohn J. O. O.
13
Mit Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 4. Dezember 2020 - … . - wurde die Bundesrepublik verpflichtet, der Frau O. die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, weil sie Opfer von Menschenhandel geworden sei. Mit Bescheid des Bundesamtes vom 5. Februar 2021 erhielt Frau O. die Flüchtlingsanerkennung.
14
2. Am 19. April 2019 erhob der Kläger Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Würzburg. Im Zeitpunkt seiner Ingewahrsamnahme zum Zweck der Abschiebung am 10. April 2019, 14.00 Uhr, habe ein absoluter Duldungsanspruch nach § 60a Abs. 2 AufenthG in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK bestanden, welcher insbesondere auf der Risikoschwangerschaft seiner Ehefrau und seinem Anspruch auf Familienzusammenführung gründe. Unterlagen, die das belegten, seien dem Beklagten am 3. April 2019 und am 9. April 2019 zugegangen. Der Beklagte habe sich in Kenntnis dieser verfassungs- und menschenrechtlich begründeten rechtlichen Abschiebungshindernisse dafür entschieden, die Abschiebung dennoch durchzuführen. Dadurch werde der Kläger in seinen Grund- und Menschenrechten verletzt. Deshalb sei die Abschiebung rechtswidrig (gewesen), weswegen dem Kläger ein Folgenbeseitigungsanspruch in Form einer vom Beklagten finanzierten Rückreise ins Bundesgebiet zustehe.
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Zudem sei das Vorgehen der Vollzugsbehörde am 10. April 2019 rechtswidrig und grob unverhältnismäßig gewesen. Der Kläger habe am Morgen des 10. April 2019 beim Sozialamt der Stadt Würzburg vorgesprochen, weil die Tagesmutter der gemeinsamen Kinder in B., die sich am 22. Februar 2019 bei den Behörden der Stadt Würzburg für einen Zuzug des Klägers nach Bonn wegen der Betreuung der Kinder und der Risikoschwangerschaft der Mutter eingesetzte habe, am 2. April 2019 vom Sozialamt der Stadt Würzburg telefonisch gebeten worden sei, dass der Kläger persönlich beim Sozialamt vorsprechen soll, um einen Antrag auf Umzug zu unterschreiben. Bei dieser Vorsprache am Vormittag des 10. Aprils 2019 sei dem Kläger mitgeteilt worden, dass sein Antrag auf Umzug genehmigt worden sei und er nur ein Dokument unterschreiben müsse. Daraufhin habe er ein für ihn unbekanntes Dokument unterschrieben. Danach habe er bei der ZAB seine Duldung verlängern lassen wollen. Ihm sei dort gesagt worden, er solle um 14.00 Uhr wiederkommen. Als er dies getan habe, sei er verhaftet worden. Trotz Bitte, seine Frau oder seinen Rechtsanwalt anrufen zu dürfen, sei ihm dies nicht gestattet worden. Er habe den Polizeibeamten darauf hingewiesen, dass er zwei kleine Kinder und eine schwangere Frau in B. habe.
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Der Klägerbevollmächtigte legte eine „Bescheinigung über Schwangerschaft“ der Frau O. einer Facharztpraxis für Gynäkologie vom 17. April 2019 (Bl. 15 der Gerichtsakte) vor. Diese lautet wörtlich: „Die o.a. Patientin befindet sich in der 30. Schwangerschaftswoche. Voraussichtlicher Entbindungstermin: … … 2019, Beginn Mutterschutz: … … 2019. Bei der o.g. Patientin besteht eine Risikoschwangerschaft. Für den weiteren Verlauf einer möglichst komplikationslosen Schwangerschaft ist die Anwesenheit des Kindsvaters, Herrn F. O.., geb. … … 1986, erforderlich. Der Patientin ist es aufgrund der Risikoschwangerschaft und in Anbetracht der aus der Abwesenheit des Kindsvaters resultierenden psychischen Belastung kaum möglich, den Familienalltag mit zwei kleinen Kindern aufrecht zu erhalten.“
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Die Beklagte sei schon am 2. April 2019 durch Email der Frau W., Sozialamt Stadt Würzburg, über die fachärztlich attestierte Risikoschwangerschaft informiert worden. So sei die Angabe im „Faktenblatt Abschiebung“, Bl. 508 der Akte der ZAB, wonach eine Schwangerschaft nicht nachgewiesen sei, falsch.
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Es sei in der Akte belegt (Bl. 548, Email Herrn P. R.., Aufnahmestelle an Herrn H. R. ZAB), dass der Beklagte am 10. April 2019 spätestens um 15.21 Uhr Kenntnis von allen Umständen gehabt habe oder hätte haben müssen durch Weiterleitung des Schreibens des Rechtsanwaltes vom 9. April 2019 inkl. Anlagen. Da der Abschiebungsflug München - Wien auf 21.45 Uhr terminiert gewesen sei, wäre es möglich gewesen, die Abschiebung zu stoppen. Dazu wäre der Beklagte rechtlich verpflichtet gewesen. Zum Zeitpunkt der Ingewahrsamnahme des Klägers seien dem Beklagten alle für einen Duldungsanspruch nach § 60a Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK relevanten Fakten (nachgewiesene Sorgeerklärungen und Vaterschaftsanerkennungen, Attest der Risikoschwangerschaft, die am 4. April erklärte Zustimmung des Leiters der Ausländerbehörde der Stadt B. für den Zuzug des Klägers) bekannt gewesen.
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Mit Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch Bescheid des Bundesamtes vom 5. Februar 2021 sei der Aufenthalt der Frau als von Anfang an als rechtlich geschützt anzusehen, was sich aus § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1, bzw. Satz 3 Nr. 2 AufenthG ergebe. Der Ehefrau und den Kindern sei es zu keinem Zeitpunkt zumutbar gewesen, die familiäre Lebensgemeinschaft in Nigeria zu führen.
1. Festzustellen, dass die Abschiebung des Klägers am 10. April 2019 rechtswidrig war.
2. Die Beklagte zu verpflichten, die Abschiebung des Klägers im Wege der Folgenbeseitigung kostenpflichtig rückgängig zu machen.
Zudem beantragt der Kläger die Beiladung der Stadt B., Ausländerbehörde, da diese schon zum Zeitpunkt der Abschiebung den Zuzug des Klägers zu seiner „Ehefrau“ im Hinblick auf die humanitäre Situation der in B. lebenden Ehefrau genehmigt hatte. Diese Genehmigung sei der Beklagten - ZAB - zum Zeitpunkt der Abschiebung bekannt gewesen.
21
Für den Beklagten beantragt die ZAB,
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgetragen, dass die Abschiebung nicht rechtswidrig gewesen sei. Es seien keine Gründe plausibel dargelegt worden, weshalb eine Familienzusammenführung und ein gemeinsames Leben der Familie in Nigeria nach freiwilliger Ausreise nicht zumutbar gewesen seien. Die Abschiebung führe ferner nicht zu einer unzumutbaren Beeinträchtigung der Familieneinheit. Es bestehe nicht einmal eine enge familiäre Bindung zwischen dem Kläger und seiner Ehefrau sowie den gemeinsamen Kindern. Außerdem sei es mit dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG vereinbar, Ausländer auf eine Herstellung der Familieneinheit in ihrem zur Aufnahme verpflichteten und bereiten Heimatland oder auf die Einholung des erforderlichen Visums zu verweisen. Das gelte insbesondere dann, wenn es sich bei der Berechtigung zum Aufenthalt im Bundesgebiet - wie hier - um deren schwächste Form, die Aufenthaltsgestattung, handele, die gerade keinen Aufenthaltstitel darstelle. Dem Kläger und der Ehefrau sei es zumutbar, in Nigeria zu leben. Auf das abgeschlossene Asylverfahren des Klägers und auf das laufende der Frau werde verwiesen. Die Trennung des Klägers von seiner Familie habe so nur befristeten Charakter und könne durch die freiwillige Ausreise der Frau und der Kinder beendet werden. Selbst wenn die Frau einen Schutzstatus erhalten solle, könne der Kläger die Trennung durch die Beantragung eines Visums zum Zweck der Familienzusammenführung beenden. Die Regelungen des §§ 29, 36 und 36a AufenthG dürften nicht umgangen werden. Ansonsten würde das Asylsystem missbraucht.
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Es habe kein auf Art. 6 Abs. 1 oder Art. 8 MRKV beruhender Duldungsanspruch bestanden. Nach Ziffer 60a 2.1.1.2.1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz sei die Trennung minderjähriger Kinder von beiden personensorgeberechtigten Eltern in der Regel rechtswidrig. Die Trennung der Kinder von der Mutter stehe aber nicht im Raum. Mit dem Kläger habe zumindest keine enge familiäre Bindung bestanden. Nach der Eheschließung im Februar 2015 sei die damals schwangere Frau O. allein nach Deutschland gereist. Der Kläger habe sich erst ein Jahr später auf den Weg gemacht. Zwar habe er hier den Kontakt zu Frau und Kind gesucht, ein Zusammenleben habe aber nicht stattgefunden. Das Bundesamt habe ihm nur einmal eine Erlaubnis vom 20. Dezember 2016 bis zum 5. Januar 2017 für den Besuch seiner Frau erteilt. Der Schutz von Ehe und Familie habe hier ausnahmsweise hinter einwanderungspolitischen Belangen zurücktreten müssen. Der Eingriff sei daher verhältnismäßig gewesen.
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Dass bei der Ehefrau eine Risikoschwangerschaft, die die Anwesenheit des Klägers im Sinne von § 60 a Abs. 2 AufenthG erforderlich mache, vorgelegen habe, sei fachärztlich weder in Art noch Umfang durch das Attest vom 1. Februar 2019 plausibel dokumentiert worden. Es lägen keine nennenswerten und verwertbaren Hinweise dafür vor, dass die werdende Mutter durch eine abschiebungsbedingte Trennung vom Kindsvater Belastungen ausgesetzt wäre, die das ungeborene Kind gefährdet hätten (BayVGH, B.v. 25.2.2011 - 10 CE 11.2746).
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Ob die Stadt B. einer Umverteilung des Klägers zugestimmt habe, sei unerheblich, da auch eine mögliche Umverteilung keinen Duldungsanspruch begründe. Zudem habe diese in der Vergangenheit einem Umverteilungsantrag des Klägers nicht zugestimmt, vgl. Schreiben vom 27. November 2017.
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Der aufenthaltsrechtliche Status der Frau des Klägers sei irrelevant, da zwischen ihr und dem Kläger zum Zeitpunkt der Abschiebung keine familiäre Lebensgemeinschaft bestanden habe.
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3. Mit dem Schreiben des Klägerbevollmächtigten vom 4. Juni 2019 und des Beklagten vom 5. Juni 2019 erklärten die Beteiligten ihr Einverständnis, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der vorgelegten Behördenakten Bezug genommen. Die Gerichtsakte des Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes (Az.: ...) des Klägers, sowie die Verwaltungsakte der Frau O. beim Bundesamt (Az. ...) und bei der Ausländerbehörde der Stadt Bonn werden zum Verfahren beigezogen.
Entscheidungsgründe
29
Der Antrag auf Beiladung der Stadt B. zum Klageverfahren wird abgelehnt, weil nicht ersichtlich ist, dass die rechtlichen Interessen der Stadt B. durch dieses Klageverfahren berührt sein könnten, § 65 Abs. 1 VwGO.
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1. Die Feststellungsklage ist zulässig und begründet. Die am 10. April 2019 vollzogene Abschiebung des Klägers nach Nigeria war rechtswidrig.
31
Ein Anspruch auf Rückgängigmachung der Abschiebung im Wege der Folgenbeseitigung besteht nicht.
32
2. Der Klageantrag Nummer 1 auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der am 10. April 2019 erfolgten Abschiebung des Klägers ist zulässig und begründet.
33
2.1 Die Klage ist als allgemeine Feststellungsklage nach § 43 VwGO zulässig (vgl. BayVGH, B.v. 27.5.2021 - 19 CE 21.708 - juris).
34
Eine vollzogene Abschiebung stellt keinen Verwaltungsakt (§ 35 VwVfG) im Sinne des § 113 Abs. 1 Satz 1 und 4 VwGO dar, sondern einen Realakt (BVerwG, U.v. 21.8.2018 - 1 C 21.17 Rn.16 - juris), der in Vollstreckung der rechtskräftig festgestellten Ausreisepflicht des Klägers nach vorangegangener Abschiebungsandrohung erging. So hat der Kläger zu Recht keine „Fortsetzungsfeststellungsklage“ im Sinne des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO erhoben. Richtige Klageart ist die erhobene allgemeine Feststellungsklage gemäß § 43 VwGO, wonach die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses oder der Nichtigkeit eines Verwaltungsakts begehrt werden kann, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat.
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Für das erforderliche berechtigte Interesse an der Feststellung ist entscheidend, ob zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung die Feststellung der Rechtswidrigkeit die Position des Klägers in rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Hinsicht verbessern kann. Dies ist zu bejahen, da mit einer Feststellung der Rechtswidrigkeit auch die Frage der Kostentragung der Abschiebung verbunden sein kann und gegebenenfalls ein Rückholungsanspruch im Raum steht.
36
2.2 Die Klage ist begründet, da die Abschiebung des Klägers am 10. April 2019 nach Nigeria rechtswidrig war.
37
2.2.1 Rechtsgrundlage der Abschiebung ist § 58 Abs. 1 Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz - AufenthG) i.d.F. d. Bek. vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162).
38
Maßgeblicher Entscheidungszeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Abschiebung ist der Zeitpunkt der Abschiebung am 10. April 2019 (BVerwG, U.v. 21.8.2018 - 1 C 21.17 - juris Rn. 16; BayVGH, B.v. 30.7.2018 - 10 CE 18.769 - BayVBl 2019, 450). Anzuwenden sind damit die Regelungen des Aufenthaltsgesetzes in der bis zum 11. Juli 2019 geltenden Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2018 (BGBl I 162). Diese Regelungen sind im hier relevanten Umfang mit den aktuellen Bestimmungen inhaltsgleich.
39
2.2.2 Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Abschiebung lagen vor.
40
Nach § 58 Abs. 1 AufenthG ist ein Ausländer abzuschieben, wenn die Ausreisepflicht vollziehbar ist, eine Ausreisefrist nicht gewährt wurde oder diese abgelaufen ist, und die freiwillige Erfüllung der Ausreisepflicht nicht gesichert ist oder aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung eine Überwachung der Ausreise erforderlich erscheint.
41
Die Abschiebung des Klägers am 10. April 2019 erfolgte in Vollstreckung der rechtskräftigen Verpflichtung zur Ausreise und der Abschiebungsandrohung aus dem Bescheid des Bundesamtes vom 4. Oktober 2017, der durch das rechtskräftige Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 2. März 2018 - .. . - bestätigt wurde. Eine Überprüfung dieser Entscheidung findet deshalb nicht mehr statt. Anhaltspunkte für deren Nichtigkeit im Sinne des § 44 VwVfG bestehen nicht. Eine Ausreisefrist wurde nicht festgesetzt. Eine freiwillige Ausreise des Klägers erfolgt nicht. Der Kläger war vollziehbar ausreisepflichtig.
42
Die dem Kläger am 20. März 2019 für drei Wochen ausgestellte Duldung beseitigt - auch wenn die Duldung erst am 10. April 2019, 24.00 Uhr ablief (vgl. § 31 Abs. 2 VwVfG) - nicht die Ausreisepflicht. Unabhängig davon, dass eine Duldung eine bestehende Ausreispflicht unberührt lässt, wurde die Duldung hier mit der Nebenbestimmung erteilt, dass sie mit Bekanntgabe des Abschiebetermins erlischt. Diese auflösende Bedingung ist am 10. April 2019 um 14.00 Uhr mit der Bekanntgabe der sofortigen Abschiebung eingetreten, so dass die Duldung zu diesem Zeitpunkt ihre Wirksamkeit verlor.
43
Dabei ist zu berücksichtigen, dass nach § 59 Abs. 1 Satz 8 AufenthG die vorherige Bekanntgabe des Abschiebetermins unzulässig ist.
44
2.2.3 Im maßgeblichen Zeitpunkt der erfolgten Abschiebung bestand für den Kläger jedoch ein Anspruch auf Duldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG, weil dringende humanitäre oder persönliche Gründe seine vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet erforderten.
45
2.2.3.1 Ein Anspruch auf Duldung ergab sich für den Kläger weder aus seiner ehelichen Beziehung zur Frau O. noch aus seiner Stellung als leiblicher Vater zu den Kindern M. und D., die sich zum Zeitpunkt der Abschiebung in der Stadt B. aufhielten.
46
Grundsätzlich kann ein Abschiebungshindernis dann vorliegen, wenn es dem Ausländer nicht zumutbar ist, seine familiären Beziehungen durch die Ausreise zu unterbrechen. Dies folgt aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Diese Normen stellen Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung.
47
Allerdings ist es mit Art. 6 GG und Art. 8 EMRK vereinbar, einem ohne erforderliches Visum eingereisten Ausländer den Aufenthalt zu versagen, obwohl Angehörige im Bundesgebiet leben, wenn - wie hier - die Betroffenen ihre Trennung durch die getrennte Einreise in das Bundesgebiet selbst verursacht haben. Für die Einreise eines ausländischen Ehegatten in das Bundesgebiet zum Zweck der Familienzusammenführung sieht das Gesetz die Möglichkeit des Familiennachzugs (§ 29 AufenthG) und die Erteilung eines entsprechenden Visums vor. Dies ist an besondere Voraussetzungen gebunden. Der Kläger hatte durch seine Einreise in die Bundesrepublik ohne erforderliche Genehmigung aber mit Stellung eines Asylantrags diese Bestimmungen umgangen.
48
Außerdem führt Art. 6 GG nur dazu, dass die zuständigen Behörden familiäre Bindungen an Personen angemessen zu berücksichtigen haben, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten (vgl. BayVGH, B.v.19.10.2006 - 24 CE 06.2757 - juris). So kann ein von Art. 6 Abs. 1 GG abgeleitetes Bleiberecht für einen Ausländer nur bestehen, wenn die Person, von der er das aus Art. 6 GG folgende Recht ableitet, über ein Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet verfügt (vgl. etwa OVG Niedersachsen, B. v. 22.12.2006 - 11 ME 393/06 - InfAuslR 2007, 106; Berlit in Gemeinschaftskommentar - GK -, BeckOnline, § 60a Rn. 243). Frau O. und die Kinder verfügten zum Zeitpunkt der Abschiebung des Klägers am 10. April 2019 über kein gesichertes Aufenthaltsrecht. Sie besaßen keine dauerhafte Bleibeperspektive, da deren Asylanträge negativ verbeschieden waren und die anhängige Klage aus damaliger Sicht keine Erfolgsaussicht hatte. Die nachträgliche Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft der Frau O. mit Bescheid des Bundesamtes vom 5. Februar 2021 kann nicht auf die Beurteilung der Bleibeperspektiven zum Zeitpunkt der Abschiebung zurückwirken. Das vom Klägerbevollmächtigten angeführte Argument, dass sich aus § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bzw. Satz 3 Nr. 2 AufenthG ein von vornherein geschützter Aufenthalt der Frau O. und der Kinder ergebe, kann nicht nachvollzogen werden, da dies dem Grundsatz, dass es bei der Beurteilung der Rechtswidrigkeit einer Abschiebung auf den Zeitpunkt der Abschiebung ankomme, ins Gegenteil verkehren würde. Denn grundsätzlich folgt aus Art. 6 GG nicht, dass der Aufenthalt von Ehegatten, die beide ein Asylverfahren durchführen bzw. durchgeführt haben, bei unterschiedlichen Zeitpunkten des Eintritts der Vollziehbarkeit der Ausreisepflichten ausnahmslos nur gemeinsam beendet werden dürfte (vgl. BVerfG, B.v. 24.7.1998 - 2 BvR 99/97 - NVwZ 1998, Beil. S. 105).
49
Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass der Kläger mit seiner Familie nie in familiärer Beistandschaft gelebt hat und die Trennung durch die getrennte Einreise bewusst in Kauf genommen hat. Aus damaliger Sicht war der Familie eine gemeinsame Rückkehr in das gemeinsame Heimatland zumutbar, wobei zudem die Wertung aus § 30 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG zu berücksichtigen ist (vgl. Berlit, GK, BeckOnline, § 60a Rn. 236). So durfte der Beklagte annehmen, dass das Aufenthaltsrecht der Frau O. und der Kinder bald abläuft. Im Hinblick darauf war eine vorübergehende Unterbrechung der Beziehung zumutbar. Im Falle einer späteren Anerkennung der Frau O. als Flüchtling konnte der Kläger auf die Beantragung eines Visums im Rahmen der Familienzusammenführung verwiesen werden.
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2.2.3.2 Ein Anspruch auf Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Satz 3 AufenthG ergab sich für den Kläger aus der Tatsache, dass er hinreichende Hinweise auf eine Risikoschwangerschaft seiner Ehefrau zum Zeitpunkt seiner Abschiebung vorgelegt hatte.
51
Ein Duldungsanspruch ergibt sich für den Ausländer nämlich in den Fällen, in denen ihm die grundsätzliche Verpflichtung zur Ausreise und Einhaltung der Visavorschriften zumindest derzeit nicht zumutbar erscheint (BayVGH, B.v. 19.10.2006 - 24 CE 06.2757 -, juris). Eine solche Fallgestaltung war aufgrund der vorgetragenen Risikoschwangerschaft der Ehefrau des Klägers hier gegeben.
52
Ist der schwangeren Ehefrau des abzuschiebenden Ausländers - aus welchen Gründen auch immer - eine freiwillige Ausreise nicht möglich, so wird der Partner jedenfalls bis zum Ablauf einer angemessenen Zeit nach der Niederkunft zu dulden sein (Berlit, GK, BeckOnline, § 60a Rn. 223). Noch vielmehr ist in den Fällen einer Risikoschwangerschaft (mit möglichen späteren Geburtskomplikationen) ein zwingender Duldungsgrund zu bejahen, wenn nicht gewichtige Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gegen einen auch nur vorübergehenden Verbleib streiten (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, B.v. 3.9.2012 - OVG 11 S 40.12 - juris; v. 18.11.2013 - OVG 7 S 92.13 - juris; OVG Niedersachsen, B.v. 26.2.2010 - 2 B 511/09 - juris; OVG Nordrhein-Westfalen, B.v. 8.9.2009 - 18 B 1156/09 - juris; OVG Sachsen, B.v. 25.1.2006 - 3 BS 274/05 - NVwZ 2006, 613 = InfAuslR 2006, 279; VGH Bayern, B.v. 19.10.2006 - 24 CE 06.2757 - juris; OVG Saarland, B.v. 26.2.2010 - 2 B 511/09 - juris). Ein unmittelbares Abschiebungsverbot aus Art. 6 Abs. 1 oder 2 GG kann dann angenommen werden, wenn die Ehegatten und gegebenenfalls die Kinder - etwa wegen Krankheit oder Schwangerschaft des noch nicht ausreisepflichtigen Ausländers - in besonderem Maße auf einander angewiesen sind (vgl. auch EGMR, U.v. 20.3.1991 - Nr. 46/1990/237/307 - InfAuslR 1991, 217 = EuGRZ 1991, 203).
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Gemessen an diesen Vorgaben hat der Beklagte sein in § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG eingeräumte Ermessen, dem Kläger eine vorübergehende Duldung zu erteilen, nicht rechtmäßig ausgeübt.
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Nach § 114 VwGO überprüft das Gericht bei Ermessensentscheidungen der Behörde - wie vorliegend - nur, ob die Anordnung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten hat oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermessennorm entsprechender Weise Gebrauch gemacht wurde. Es hat dabei insbesondere zu prüfen, ob von einem zutreffenden Sachverhalt ausgegangen wurde (vgl. Rennert in Eyermann, VwGO 15. Aufl. 2019, § 114 Rn. 25).
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Es sind jenseits des allgemeinen Grundsatzes, dass eine rechtskräftig festgestellte Ausreispflicht zu vollziehen ist, keine gewichtigen Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ersichtlich, die gegen einen vorübergehenden Verbleib des Klägers im Bundesgebiet bis zum Ablauf der Mutterschutzfrist gesprochen hätten. In der fachärztlichen Bescheinigung der Gynäkologin der Frau O. vom 1. Februar 2019 wird ausgeführt, dass bei der Ehefrau des Klägers eine Risikoschwangerschaft vorliege und für den weiteren Verlauf der Schwangerschaft die Anwesenheit des Klägers als Kindsvater wünschenswert sei, um eine Entlastung der Frau O. im Familienalltag mit zwei kleinen Kindern zu ermöglichen. Aus den beigezogenen Verwaltungsakten ergibt sich, dass der Beklagte spätestens am 2. April 2019 Kenntnis von dieser Bescheinigung erlangte. Das am 17. April 2019 ausgestellte ärztliche Attest bekräftigt die Risikoschwangerschaft, muss aber, da es erst nach der Abschiebung des Klägers ausgestellt wurde, hier unberücksichtigt bleiben. Die fachärztliche Bescheinigung vom 1. Februar 2019 erfüllt zwar nicht die Voraussetzungen für eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung im Sinne von § 60a Abs. 2c AufenthG. Allerdings ist diese Norm nach dem eindeutigen Wortlaut direkt nur auf Abschiebungshindernisse anwendbar, die auf dem Gesundheitszustand des abzuschiebenden Ausländers selbst beruhen. Wegen der Grundrechtsrelevanz scheidet eine analoge Anwendung aus. § 60a Abs. 2c AufenthG ist daher in der vorliegenden Konstellation nicht anwendbar. So liefert die Bescheinigung vom 1. Februar 2019 insbesondere im Zusammenschau mit der ebenfalls vorgelegten Bestätigung der Tagesmutter der Kinder des Klägers genügend Anhaltspunkte dafür, dass zumindest eine relevante Risikoschwangerschaft vorliegen könnte und die Anwesenheit des Klägers zur Betreuung der beiden kleinen leiblichen Kinder bei Ausfall der Ehefrau zur Wahrung der Grundrechte der Kinder vorübergehend erforderlich sein könnte. Der Beklagte hätte daher auf die Vorlage des Attestes reagieren müssen, z. B. mit Zurückweisung des Attestes als ungenügend oder mit dem Anstellen eigener Ermittlungen. Dadurch, dass der Beklagte auch in Anbetracht des nahen Abschiebungstermins untätig blieb und das im Raum stehende Abschiebungshindernisse nicht weiter ermittelte, verstieß er gegen seine im Rahmen einer rechtmäßigen Ermessenausübung bestehende Ermittlungspflicht aller relevanter Entscheidungsgrundlagen. Es ist auch hinreichend wahrscheinlich, dass der Kläger bei rechtzeitiger Zurückweisung des Attestes noch in der Lage gewesen wäre, eine im Sinne des § 60a Abs. 2c AufenthG hinreichend qualifizierte ärztliche Bescheinigung vorzulegen und so das Abschiebungshindernis hätte glaubhaft machen können.
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Dies führt zu einem Ermessensfehler, denn Ermessen kann denknotwendig nur dann sachgerecht ausgeübt werden, wenn die Behörde den Sachverhalt in wesentlicher Hinsicht vollständig und zutreffend ermittelt hat.
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In diesem Zusammenhang kann der Kläger nicht darauf verwiesen werden, dass die Betreuung der beiden kleinen leiblichen Kinder - wie es sich durch Zeitablauf gezeigt hat - auch durch andere Personen sichergestellt werden konnte. Im Falle einer Betreuung von kleinen Kindern durch den sorgeberechtigten leiblichen Vater kommt es für die aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen des Art. 6 Abs. 1 GG nicht darauf an, ob die Betreuungsleistungen auch von einer dritten, nicht sorgeberechtigten Person erbracht werden könnte (vgl. VGH BW, B.v. 28.3.2019 - 11 S 623/19 - juris).
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2.2.3.3 Darüber hinaus ergibt sich die Rechtswidrigkeit der Abschiebung aus den konkreten Umständen der Durchführung der Direktabschiebung.
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Aus dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz folgt, dass eine Direktabschiebung dem ausreispflichtigen Ausländer nicht die Möglichkeit abschneiden darf, effektiven Rechtsschutz gegen seine Abschiebung in Anspruch zu nehmen und eine richterliche Entscheidung vor Durchführung der Abschiebung zu erhalten; d.h. der gesetzlich eröffnete Rechtsweg darf nicht unzumutbar beschränkt und die Inanspruchnahme der Rechtsschutzmöglichkeiten durch die Gestaltung des behördlichen Vorgehens nicht in unzumutbarer Art und Weise behindert oder gar verhindert werden. Eine Verwaltungsvollstreckung darf daher nicht so ausgestaltet werden, dass der Zugang zum gerichtlichen Rechtsschutz für den betroffenen überhaupt nicht ermöglicht wird.
60
Trotz gerichtlicher Aufforderung an den Beklagten zur Stellungnahme blieb der Vortrag des Klägers unwidersprochen, dass ihm nach der Mitteilung am 10. April 2019 um 14:00 Uhr, dass er nun unmittelbar abgeschoben werde, trotz seiner Bitte, seine Frau oder seinen Rechtsanwalt anrufen zu dürfen, ihm dies nicht gestattet worden sei. Das Gericht muss daher davon ausgehen, dass der Vortrag des Klägers der Wahrheit entspricht.
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Dadurch, dass dem Kläger nicht erlaubt wurde, zum Zeitpunkt seiner Ingewahrsamnahme mit seinem Rechtsanwalt oder seiner Frau zu telefonieren, ist ihm die Möglichkeit genommen worden, effektiven Rechtsschutz über die Beantragung einer einstweiligen Anordnung zu erreichen. Ein entsprechender Antrag konnte aufgrund dessen erst am 11. April 2019 beim Verwaltungsgericht gestellt werden (...). Dieser Antrag konnte allein wegen der bereits vollzogenen Abschiebung keinen Erfolg haben. Im Einstellungsbeschluss vom 13. Mai 2019 - . . - wird die Kostenlast des Eilverfahrens dem Antragsgegner auferlegt und zur Begründung ausgeführt, dass dem Bevollmächtigten bei Stellung des Eilantrags nicht bekannt gewesen sein konnte, dass die Abschiebung des Klägers bereits vollzogen war.
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Zwar darf der Abschiebungstermin nach § 59 Abs. 1 Satz 8 AufenthG dem Ausländer nicht bekannt gegeben werden, der Ausländer muss jederzeit mit einer Abschiebung rechnen und so hätte der Kläger schon vorher das aufgrund der Risikoschwangerschaft seiner Frau bestehende Abschiebungshindernis gerichtlich feststellen lassen können. Allerdings muss in diesem konkreten Fall berücksichtigt werden, dass der Kläger keine Kenntnis davon hatte, dass das der ZAB vorgelegte fachärztliche Attest nicht akzeptiert worden ist. Die Duldung dauerte noch an. Der Kläger ist nach seinem glaubhaften Vortrag, untermauert durch die vorgelegte Email des Leiters der Ausländerbehörde der Stadt B., davon ausgegangen, dass ihm nun auf Grundlage der ärztlichen Bescheinigung die Umverteilung nach B. genehmigt werde. Als der Kläger am 10. April 2019 erfuhr, dass dies nicht der Fall sei, hatte er keine Möglichkeit mehr, dagegen gerichtlich vorzugehen. Dem Kläger ist deshalb durch die Verweigerung eines Telefonats eine effektive Rechtsschutzmöglichkeit versagt worden. Ein rechtzeitig gestellter Antrag auf einstweilige Anordnung hätte Aussicht auf Erfolg gehabt. Die Ermöglichung eines telefonischen Kontaktes mit seinem Rechtsanwalt oder seiner Frau hätte auch das staatliche Interesse an einer reibungslosen Abschiebung nicht beeinträchtigen können.
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Danach war die Abschiebung des Klägers nach den besonderen Umständen unverhältnismäßig und mit dem Gebot, effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, nicht vereinbar.
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3. Die Leistungsklage auf Rückführung des Klägers auf Kosten des Beklagten ist zulässig, aber unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch, im Wege der allgemeinen Folgenbeseitigung wieder in die Bundesrepublik gebracht zu werden.
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Ein Anspruch des Klägers auf Rückholung setzt einen durch die rechtswidrige Abschiebung verursachten und noch andauernden rechtswidrigen Zustand voraus (BayVGH, B.v. 23.1.2017 - 19 CE 16.2507). Das Bundeverwaltungsgericht hat zum Folgenbeseitigungsanspruch im Beschluss vom 14. Juli 2010 - 1 B 13/10 - (Rn. 3, juris) Folgendes ausgeführt:
„Es ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt, dass der Betroffene im Wege der Folgenbeseitigung keinen Anspruch hat, so gestellt zu werden, wie er stünde, wenn der behördliche Fehler nicht passiert wäre. Anders als im Sozialrecht, das bei der Verletzung behördlicher Auskunfts- und Hinweispflichten einen Anspruch auf Herstellung desjenigen Zustands kennt, der entstanden wäre, wenn sich der Sozialleistungsträger von vornherein rechtmäßig verhalten hätte, kann auf dem Gebiet des allgemeinen Verwaltungsrechts unrechtmäßiges Verwaltungshandeln oder Unterlassen nur im Rahmen zulässigen Verwaltungshandelns ausgeglichen werden (vgl. U.v. 24.3.1988 - BVerwG 3 C 48.86 - BVerwGE 79, 192). Gegenstand eines Folgenbeseitigungsanspruchs ist daher nicht die Einräumung derjenigen Rechtsposition, die der Betroffene bei rechtsfehlerfreiem Verwaltungshandeln erlangt haben würde. Der Anspruch auf Folgenbeseitigung, der ein Verschulden der Behörde nicht voraussetzt, ist nur auf die Wiederherstellung des ursprünglichen, durch hoheitlichen Eingriff veränderten Zustands gerichtet. Mangels gesetzlicher Vorschriften kann er nicht zu einem darüber hinausgehenden Erfolg führen (BVerwG, B.v. 16.6.1986 - BVerwG 2 B 67.86 - Buchholz 310 § 113 VwGO Nr. 160 m. w. N.).“
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Gemessen an diesen Vorgaben setzt ein Rückführungsanspruch des Klägers voraus, dass sein Aufenthalt in Nigeria als Folge einer rechtswidrigen Abschiebung noch rechtswidrig andauert und der Beklagte daher verpflichtet wäre, ihm erneut einen Aufenthalt im Bundesgebiet zu ermöglichen. Dies ist aber nicht der Fall, da der Kläger vollziehbar ausreispflichtig gewesen ist, die Risikoschwangerschaft der Ehefrau O. des Klägers, die die Rechtswidrigkeit der Abschiebung begründet hat, nicht mehr andauert und auch die Verhinderung effektiven Rechtsschutzes sich durch Zeitablauf in diesem besonderen Fall erledigt hat.
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Hinsichtlich der erstmaligen Herstellung des Zusammenlebens mit seiner Ehefrau und den gemeinsamen Kindern in der Bundesrepublik Deutschland zum aktuellen Zeitpunkt ist der Kläger auf die Möglichkeit des Familiennachzugs (§ 29 AufenthG) zu verweisen.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 VwGO.
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Es entspricht sachgemäßem Ermessen, die Kostenlast zu 75% dem Beklagten aufzuerlegen, da dieser hinsichtlich des Feststellungsantrags und damit im Vergleich zum Leistungsantrag überwiegenden Anteils des Klagebegehrens unterlegen ist.
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5. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.