Titel:
Nachholung des Visumverfahrens
Normenketten:
AufenthG § 5 Abs. 2, § 10 Abs. 3, § 60a Abs. 2
VwGO § 123
GG Art. 6
EMRK Art. 8
Leitsatz:
Dass der Ausländer ein kleines Kind hat, das die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, ist regelmäßig nicht als besonderer Umstand zu werten, der die Nachholung des Visumverfahrens unzumutbar macht, da es in dessen Verantwortungsbereich liegt, die Ausreisemodalitäten und den Ausreisezeitpunkt in Absprache mit der Ausländerbehörde so familienverträglich wie möglich zu gestalten. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
indischer Staatsangehöriger, Lebensgefährtin mit deutschem Kind, gemeinsames weiteres Kind, Zumutbarkeit der Nachholung des Visumverfahrens, Eilrechtsschutz, Indien, Duldung, Visumverfahren, Nachholung, Zumutbarkeit, Kinder
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 25.01.2022 – 19 CE 21.2859
Fundstelle:
BeckRS 2021, 56738
Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 1.250,00 EUR festgesetzt.
Gründe
dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO aufzugeben, vorläufig von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gegen den Antragsteller abzusehen, hat keinen Erfolg.
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1. Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Voraussetzung hierfür ist, dass der Antragsteller das von ihm behauptete strittige Recht (den Anordnungsanspruch) und die drohende Gefahr seiner Beeinträchtigung (den Anordnungsgrund) glaubhaft macht (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Maßgebend sind dabei die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
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2. Der Antragsteller hat bereits keinen entsprechenden Anordnungsanspruch nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG glaubhaft gemacht. Nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Vorliegend ist der Antragsteller nach dem bestandskräftigen Abschluss seines Asylverfahrens mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 8. Januar 2016 vollziehbar ausreisepflichtig im Sinne der §§ 50, 58 Abs. 1 AufenthG.
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2.1. Tatsächliche Gründe, die einer Ausreise entgegenstehen, sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Ein gültiger Reisepass ist beim Antragsgegner hinterlegt.
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2.2. Eine rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung ist ebenfalls nicht gegeben.
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2.2.1. Der Antragsteller hat keinen Anspruch auf eine sog. Verfahrensduldung zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes (effektiver Rechtsschutz als rechtliches Abschiebungshindernis; § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG i.V.m. Art. 19 Abs. 4 GG). Grundsätzlich kann vorläufiger Rechtsschutz zur Sicherung eines Verfahrens zur Erteilung eines Aufenthaltstitels bei einer Einreise ohne das erforderliche Visum nur gewährt werden, wenn keine Zweifel am Anspruch auf die Titelerteilung oder an der Unzumutbarkeit der Nachholung des Visumverfahrens bestehen und keine tragfähigen Ermessensgesichtspunkte ersichtlich sind, die eine Ablehnung rechtfertigen können (BayVGH, B.v. 16.3.2020 - 10 CE 20.326 - juris Rn. 18 unter Verweis auf VGH BW, B.v. 20.9.2018 - 11 S 1973/18 - juris Rn. 21).
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Die Erteilung eines Aufenthaltstitels scheitert bereits an der Titelerteilungssperre des § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG. Danach darf einem Ausländer, dessen Asylantrag abgelehnt worden ist, vor seiner Ausreise nur ein Aufenthaltstitel nach dem 5. Abschnitt des AufenthG erteilt werden oder, wenn er einen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels hat, § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG. Ein gesetzlicher Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels im Sinne von § 10 Abs. 3 Satz 3 Halbsatz 1 AufenthG besteht vorliegend nicht. „Gesetzlicher Anspruch“ in diesem Sinne ist nur ein Anspruch, der sich unmittelbar aus dem Gesetz ergibt. Ein derart strikter Rechtsanspruch setzt voraus, dass alle zwingenden und regelhaften Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind, weil nur dann der Gesetzgeber selbst eine Entscheidung über das zu erteilende Aufenthaltsrecht getroffen hat. Ein Anspruch liegt damit auch im Falle einer Ermessensreduzierung auf Null nicht vor (vgl. BVerwG, U.v. 26.5.2020 - 1 C 12/19 - juris Rn. 52; U.v. 17.12.2015 - 1 C 31.14 - juris Rn. 20 f). Da auch Asylbewerber nach Abschluss ihres Asylverfahrens bei Beantragung eines Aufenthaltstitels zu einem anderen Aufenthaltszweck der Visumpflicht unterliegen (BayVGH, B.v. 24.9.2019 - 10 C 19.1849 - juris Rn. 7 m.w.N.; NdsOVG, B.v. 3.5.2019 - 13 PA 97/19 - juris Rn. 16 m.w.N.) und eine Befreiung vom Erfordernis der Einreise mit dem entsprechenden Visum nur im Ermessenswege in Betracht kommt, greift auch in diesen Fällen die Titelerteilungssperre des § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG.
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Ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach dem 5. Abschnitt des AufenthG ist nicht ersichtlich. Insbesondere eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG kommt vorliegend nicht in Betracht, da dem Antragsteller eine Ausreise auch unter Berücksichtigung seiner familiären Lebenssituation nicht unzumutbar ist (s.u.).
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2.2.2. Ein rechtliches Ausreisehindernis nach Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK ergibt sich nicht mit Blick auf die Beziehung des Antragstellers zu seiner mit ihm nicht verheirateten Lebensgefährtin, die ebenfalls indische Staatsangehörige ist und ein weiteres Kind mit deutscher Staatsangehörigkeit hat, und dem gemeinsamen Kind, welches am ... 2020 geboren wurde.
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2.2.2.1. Art. 6 GG und Art. 8 EMRK gewähren keinen Anspruch auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet. Mit dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG ist es grundsätzlich vereinbar, einen Ausländer auf die Einholung eines erforderlichen Visums zu verweisen. Der mit der Durchführung des Visumverfahrens üblicherweise einhergehende Zeitablauf ist von demjenigen, der die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland begehrt, regelmäßig hinzunehmen (vgl. BVerfG, B.v. 17.5.2011 - 2 BvR 2625/10 - juris Rn. 14 m.w.N.). Dies gilt vor allem vor dem Hintergrund, dass die vorherige Durchführung eines Visumverfahrens wichtigen öffentlichen Interessen dient und daher die Nachholung nicht als bloße Förmlichkeit anzusehen ist. Will ein ohne das erforderliche Visum eingereister Asylbewerber nach erfolglosem Abschluss seines Asylverfahrens - wie vorliegend der Antragsteller - einen asylunabhängigen Aufenthaltstitel erlangen, hat er daher grundsätzlich - nicht anders als jeder andere Ausländer - ein Sichtvermerkverfahren im Heimatland durchzuführen (vgl. BayVGH, B.v. 23.9.2016 - 10 C 16.818 - juris Rn. 11). Der Ausländer hat es durch die Gestaltung seiner Ausreise selbst in der Hand, die für die Durchführung des Visumverfahrens erforderliche Dauer seiner Abwesenheit im Bundesgebiet möglichst kurz zu halten, indem er beispielsweise − unter Mitwirkung der zuständigen Ausländerbehörde - deren Vorabzustimmung nach § 31 Abs. 3 AufenthV einholt (vgl. BayVGH, B.v. 19.6.2018 - 10 CE 18.993 - juris Rn. 5). Selbst dass der Betroffene dabei ein kleines Kind hat, das die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, ist regelmäßig nicht als besonderer Umstand des Einzelfalls zu werten, der die Nachholung des Visumverfahrens unzumutbar macht, da es im Verantwortungsbereich des Ausländers liegt, die Ausreisemodalitäten und den Ausreisezeitpunkt in Absprache mit der zuständigen Ausländerbehörde so familienverträglich wie möglich zu gestalten (vgl. BayVGH, B.v. 3.9.2019 - 10 C 19.1700 - juris Rn. 5 m.w.N.; B.v. 19.6.2018 - 10 CE 18.993 - juris Rn. 5). Allerdings muss die Dauer des Visumverfahrens absehbar sein. Dazu muss geklärt sein, welche Ausländerbehörde für die Zustimmung nach § 31 AufenthV zuständig ist und ob die grundsätzliche Möglichkeit zum Familiennachzug besteht (vgl. BayVGH, B.v. 10.3.2021 - 10 CE 20.2030 - juris Rn. 24; B.v. 22.1.2019 - 10 CE 19.149 - juris Rn. 15; B.v. 30.08.2018 - 10 C 18.1497 - juris Rn. 26 f.).
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2.2.2.2. Gemessen an diesen Anforderungen ist vorliegend nicht glaubhaft gemacht, dass es dem Antragsteller unzumutbar wäre, zur Nachholung des Visumverfahrens eine vorübergehende Trennung von seiner Lebensgefährtin und dem gemeinsamen Kind in Kauf zu nehmen, selbst wenn man zu Gunsten des Antragstellers auf Basis der im vorliegenden Verfahren vorgelegten Unterlagen von dem Bestehen einer schützenswerten familiären Beistands- und Erziehungsgemeinschaft ausgeht. Das Gericht legt dabei zu Grunde, dass die Erteilung eines Visums zum Familiennachzug mit der durch den Antragsgegner bereits in Aussicht gestellten Vorabzustimmung in absehbarer Zeit möglich ist. Nach hier vorliegenden Erkenntnissen soll eine Visumserteilung mit Vorabzustimmung ungefähr acht Wochen dauern, wenn die Antragsunterlagen vollständig sind (vgl. VG Würzburg, GB.v. 3.1.2019 - W 7 K 16.1305 - n.v.). Besondere Umstände, die dem gegenwärtig im Fall der deutschen Vertretung in Indien entgegenstünden, wurden nicht vorgebracht. Zudem hat der Antragsgegner erklärt, dem Antragsteller eine großzügige Ausreisefrist zu gewähren. Demnach ist das Gericht davon überzeugt, dass zum Schutz seiner familiären Beziehungen alles unternommen wird, um die Dauer einer Trennung möglichst kurz zu gestalten. Es obliegt dem Antragsteller, durch Annahme entsprechender Unterstützungsangebote, die Nachholung eines Visumsverfahrens möglichst familienverträglich zu gestalten (vgl. VG Augsburg, B.v. 11.2.2021 - Au 1 E 20.2821 - juris).
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Dem steht nicht entgegen, dass das Kind des Antragstellers an dem West-Syndrom leiden soll. Dass allein aufgrund dieser Erkrankung eine mit Blick auf Art. 6 GG besondere Schutzbedürftigkeit bestehen würde, ist nicht ersichtlich. Nach einem Arztbrief vom 2. August 2021 ist bis auf die sprachliche Entwicklung ein grundsätzlich altersgerechtes Heranwachsen des Kindes gegeben. Auch kann das Kind rund 7-8 Stunden täglich in einer Kindertagesstätte sein. Durch den Besuch dieser Einrichtung ist die Mutter des Kindes - besonders im Falle einer Rückkehr des Antragstellers nach Indien zur Nachholung des Visumverfahrens - bei der Erziehung ihres Kindes entlastet. Dass sie allein generell nicht zu einer Erziehung der beiden Kinder in der Lage wäre, wurde nicht vorgetragen.
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3. Weitere rechtliche Gesichtspunkte, auf deren Grundlage dem Antragsteller vorübergehend eine Duldung zu erteilen wäre, wurden nicht glaubhaft gemacht. Ein Anordnungsanspruch nach § 60a Abs. 2 S. 3 AufenthG liegt nicht vor. Nach § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG kann einem Ausländer eine Duldung erteilt werden, wenn dringende humanitäre oder persönliche Gründe oder erhebliche öffentliche Interessen seine vorübergehende Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern. Voraussetzung dafür ist, dass bei einer umfassenden Würdigung aller Umstände des Einzelfalls dem privaten Interesse des Ausländers an einem vorübergehenden Verbleib im Bundesgebiet ein deutlich höheres Gewicht zukommt als dem öffentlichen Interesse an der Durchsetzung der vollziehbaren Ausreisepflicht des Ausländers (vgl. VG München, U.v. 27.7.2021 - M 4 K 20.3169 - juris Rn. 46). Derartige Umstände sind hier nicht vorgetragen oder ersichtlich. Zudem strebt der Antragsteller entgegen dem Wortlaut der Vorschrift eine dauerhafte und nicht nur vorübergehende Anwesenheit im Bundesgebiet an.
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Mit der Entscheidung über den Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO hat sich der hilfsweise gestellte Antrag auf Erlass einer Zwischenverfügung erledigt.
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4. Nach alledem war der Antrag mit der Kostenfolge nach § 154 Abs. 1 VwGO zu Lasten des Antragstellers abzulehnen.
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5. Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 52 Abs. 1 und Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG i.V.m. Nrn. 1.5 und 8.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.