Inhalt

ArbG Bamberg, Beschluss v. 08.09.2021 – 4 BV 31/20
Titel:

Durchführung eines Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens bei Gründung einer arbeitnehmerlosen Vorrats-SE

Normenketten:
SE-VO Art. 3 Abs. 2, Art. 12 Abs. 2
SEBG §§ 4 ff., § 18 Abs. 3
Leitsätze:
1. Ist im Rahmen der Gründung einer (hier: arbeitnehmerlosen Vorrats-) SE die Durchführung des Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren gem. Art. 12 Abs. 2 SE-VO zunächst nicht möglich oder wird bei der Eintragung zunächst darauf verzichtet, ist es nachzuholen, sobald es möglich wird. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Frage, ob im Rahmen einer Sekundärgründung nach Art. 3 Abs. 2 SE-VO vor Eintragung in das Handelsregister ein Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren stattzufinden hat, bleibt offen. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren, Vorrats-SE, wirtschaftliche Neugründung, Komplementärstellung, Handelsregister
Rechtsmittelinstanzen:
LArbG Nürnberg, Beschluss vom 01.09.2022 – 3 TaBV 29/21
BAG Erfurt, Beschluss vom 26.11.2024 – 1 ABR 3/23
BAG Erfurt vom -- – 7ABR 3/23
LArbG Nürnberg, Beschluss vom 01.09.2022 – 3 TaBV 29/21a(2)
Fundstelle:
BeckRS 2021, 56085

Tenor

Der Beteiligten zu 2. wird aufgegeben, den Antragsteller aufzufordern, Vertreter in das besondere Verhandlungsgremium nach dem SE-Beteiligungsgesetz zu wählen.

Gründe

I.
1
Die Beteiligten streiten um die Durchführung eines Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens nach dem SE-Beteiligungsgesetz (SEBG).
2
Der Antragsteller ist der bei der Beteiligten zu 3) gebildete Betriebsrat. Die Beteiligte zu 3) betreibt einen Betrieb der Automobilzulieferindustrie und beschäftigt dort mehr als 2.000 Arbeitnehmer. Ihre persönlich haftende Gesellschafterin ist seit dem 01.01.2020 die Beteiligte zu 2). Zuvor war persönlich haftende Gesellschafterin der Beteiligten zu 3) die A. mbH, A-Stadt. Die Beteiligte zu 2) wurde am 11.04.2019 als Tochter-SE der Blitzstart Gründungs SE in München gegründet und am 23.04.2019 als „Blitz 19-886 SE“ in das Handelsregister eingetragen. Nach Umfirmierung und Sitzverlegung nach A-Stadt wurde sie unter ihrer jetzigen Bezeichnung am 09.10.2019 in das Handelsregister beim AG AStadt eingetragen. Ein Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren fand bislang nicht statt. Vor der Übernahme der Komplementärstellung bei der Beteiligten zu 3) durch die Beteiligte zu 2) beantragte der Antragsteller mit Schriftsatz vom 19.12.2019 beim Landgericht NürnbergFürth die Feststellung, dass bei der damaligen Komplementärin der Beteiligten zu 3), der A. mbH, A-Stadt, ein Aufsichtsrat zu bilden sei. Dieser Antrag wurde mit Beschluss vom 19.11.2020 unter Hinweis auf das zwischenzeitliche Ausscheiden der GmbH als Komplementärin der Beteiligten zu 3) abgelehnt. Mit Schreiben vom 04.06.2020 forderte der Antragsteller die Beteiligte zu 2) auf, ein Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren nach dem SEBG einzuleiten. Dies wies die Beteiligte zu 2) unter Hinweis auf ihre Arbeitnehmerlosigkeit mit Schreiben vom 22.06.2020 zurück. Am 26.11.2020 beschloss der Antragsteller die Einleitung des vorliegenden Verfahrens.
3
Mit seinem Antrag vom 16.12.2020, geändert mit Schriftsatz vom 10.03.2021 und endgültig gefasst im Termin zur mündlichen Anhörung der Beteiligten vom 08.09.2021 begehrt der Antragsteller von der Beteiligten zu 2) die Einleitung eines Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens durch schriftliche Aufforderung zur Bildung eines besonderen Verhandlungsgremiums nach dem SEBG. Nachdem die Beteiligte zu 2) als Vorrats-SE entgegen den für die Eintragung maßgeblichen Vorschriften ohne Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren eingetragen worden sei, sei das Verfahren nunmehr nach Aktivierung der Beteiligten zu 2) nachzuholen. Sie sei als herrschendes Unternehmen gegenüber der Beteiligten zu 2) anzusehen. Nachdem die Beteiligte zu 3) umgekehrt alleinige Anteilseignerin an der Beteiligten zu 2) sei, sei die Verflechtung zwischen den beiden Unternehmen so eng, dass die Arbeitnehmer der Beteiligten zu 3) als solche der Beteiligten zu 2) anzusehen seien. Vor dem Komplementärswechsel zum Jahreswechsel 2019/2020 habe bei der damaligen Komplementär-GmbH ein paritätischer Aufsichtsrat nach dem Mitbestimmungsgesetz gebildet werden müssen. Aufgrund des SErechtlichen Missbrauchsverbots müsse eine Zurechnung der Arbeitnehmer der Beteiligten zu 3) an die Beteiligte zu 2) erfolgen. Eine teleologische Reduktion des Erfordernisses eines Mitarbeiterbeteiligungsverfahrens vor der Eintragung der SE in das Handelsregister sei verfehlt. Die Beteiligte zu 3) sei am vorliegenden Verfahren schon als Betreiberin des Betriebes, in dem der Antragsteller gebildet sei, zu beteiligen.
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Der Antragsteller beantragt unter Rücknahme der Anträge im Übrigen: „Der Beteiligten zu 2) wird aufgegeben, den Antragsteller aufzufordern, Vertreter in das besondere Verhandlungsgremium nach dem SE-Beteiligungsgesetz zu wählen.“
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Die Beteiligten zu 2) und 3) beantragen den Antrag zurückzuweisen.
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Die Beteiligten zu 2) und 3) sind der Ansicht, die Beteiligte zu 3) sei an dem vorliegenden Verfahren nicht zu beteiligen. Der Antragsteller sei auch nicht antragsbefugt. Der Antrag sei zudem unbegründet, da die Beteiligte zu 2) kein Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren schulde, da die Voraussetzungen für seine Durchführung nicht gegeben seien. Die Beteiligte zu 2) sei als arbeitnehmerlose Vorrats-SE zu Recht unter teleologischer Reduktion der Vorschriften über die vorherige Arbeitnehmerbeteiligung eingetragen worden. Das Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren sei auch nicht nachzuholen. Insbesondere sei § 18 Abs. 3 SEBG nicht entsprechend anzuwenden. Wenn schon bei der Sekundärgründung kein Beteiligungsverfahren durchzuführen sei, scheide dies erst recht bei einem gründungsähnlichen Vorgang aus. Auch eine strukturelle Änderung liege bei der Beteiligten zu 2) nicht vor. Die Beteiligte zu 2) habe von Anfang an keine Arbeitnehmer beschäftigt und tue dies auch weiterhin nicht. Satzungsrelevante Änderungen seien bei ihr nicht vorgenommen worden. Auch eine wirtschaftliche Einheit habe die Beteiligte zu 2) nicht übernommen. Außerdem sei keine Minderung der Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer zu befürchten, denn solche hätten weder bei der Gründungs-SE noch bei der Beteiligten zu 2) mangels vorhandener Arbeitnehmer je bestanden. Ein bei der Gründung bestehendes Mitbestimmungsniveau habe deshalb nicht abgesenkt werden können. Die Arbeitnehmer der Beteiligten zu 3) seien der Beteiligten zu 2) nicht zuzurechnen. Die Beteiligte zu 3) sei keine Tochtergesellschaft der Beteiligten zu 2). Die Beteiligte zu 2) habe an der Beteiligten zu 3) keine Stimmrechte und keine Kapitalbeteiligung. Sie sei auch nicht befugt, die Leitungsorgane der Beteiligten zu 3) zu besetzen, denn sie sei deren Leitungsorgan selbst. Umgekehrt sei die Beteiligte zu 3) alleinige Anteilseignerin der Beteiligten zu 2), habe dort alle Stimmrechte, bestelle deren Organe und könne diesen Weisungen erteilen. Die Beteiligte zu 2) könne deshalb die Beteiligte zu 3) nicht beherrschen. Auch andere gesellschaftsrechtlich vermittelte Einflussmöglichkeiten der Beteiligten zu 2) auf die Beteiligte zu 3) bestünden nicht. Die Vorschriften des Mitbestimmungsgesetzes über die Zurechnung von Arbeitnehmern fänden auf die Beteiligte zu 2) als SE keine Anwendung.
7
Das Statusfeststellungsverfahren vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth sei für das vorliegende Verfahren ohne Relevanz.
8
Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf die zwischen diesen gewechselten Schriftsätze deren Anlagen und die Sitzungsniederschriften Bezug genommen.
II.
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1) Der Antrag ist zulässig.
10
a) Der Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen ist mit Zuständigkeit im Beschlussverfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 3e ArbGG eröffnet. Hiernach sind die Gerichte für Arbeitssachen ausschließlich zuständig für Angelegenheiten aus dem SEBG. Ausnahmen bestehen lediglich hinsichtlich der §§ 45 f SEBG und §§ 34 bis 39 SEBG. Streitigkeiten, welche die Anwendung der §§ 4 und 18 SEBG betreffen, sind dementsprechend im arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren auszutragen (MüKoAktG/Jacobs, 5. Aufl., SEBG § 4 Rn. 28 und § 18 Rn. 29). Vorliegend streiten die Beteiligten um die Durchführung eines Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens und damit um eine Materie nach §§ 4 ff SEBG und § 18 Abs. 3 SEBG.
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b) Der Antrag ist hinreichend bestimmt. Für die Beteiligte zu 2) ist eindeutig erkennbar, die Abgabe welcher Erklärung von ihr verlangt wird; nämlich die Aufforderung Vertreter in das besondere Verhandlungsgremium nach § 4 Abs. 1 Satz 1 SEBG zu wählen. Der Antrag ist auch gemäß § 894 ZPO vollstreckungsfähig. Mit Rechtskraft der Entscheidung gilt die Aufforderung als abgegeben und der Antragsteller kann Arbeitnehmer der Beteiligten zu 3) in das besondere Verhandlungsgremium wählen lassen.
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c) Die Beteiligte zu 3) ist auch zu Recht am vorliegenden Verfahren beteiligt. Der Antragsteller beruft sich als der bei der Beteiligten zu 3) gebildete Betriebsrat auf die Zurechnung der Arbeitnehmer der Beteiligten zu 3) zur Beteiligten zu 2) zur Durchführung des Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens. Die Beteiligte zu 3) ist deshalb in mitbestimmungsrechtlicher Hinsicht von dem Verfahren betroffen und muss hieran beteiligt werden.
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d) Der Antragsteller ist antragsbefugt. Die Antragsbefugnis entspricht der Prozessführungsbefugnis im Zivilprozess und soll „Popularklagen“ ausschließen (BAG 18.2.2003 - 1 ABR 17/02, BeckRS 2003, 41196). Dabei genügt es grundsätzlich, wenn der Antragstellende behauptet, Träger des streitbefangenen Rechts zu sein und dies nach dem Inhalt der einschlägigen Norm zumindest nicht ausgeschlossen erscheint (ErfK/Koch, 21. Aufl. 2021, ArbGG § 81 Rn. 10). Der Antragsteller macht vorliegend ein eigenes Recht auf seine Beteiligung an einem Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren nach dem SEBG geltend, nämlich nach § 4 Abs. 1 SEBG dazu aufgefordert zu werden, Arbeitnehmer in ein besonderes Verhandlungsgremium zu wählen. Ob dieses Recht tatsächlich besteht, ist eine Frage der Begründetheit, gänzlich ausgeschlossen erscheint es jedenfalls nicht.
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2) Der Antrag ist auch begründet. Der Antragsteller kann von der Beteiligten zu 2) die Einleitung eines Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens durch die Aufforderung verlangen, Vertreter in das besondere Verhandlungsgremium zu wählen.
15
Die Voraussetzungen für die Durchführung eines Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens liegen vor. Nach dem Willen des Gesetzgebers hat im Rahmen der Gründung einer SE ein Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren stattzufinden. Ist ein solches zunächst nicht möglich bzw. wird bei der Eintragung, ob zu Recht oder zu Unrecht, darauf verzichtet, so ist es nachzuholen, sobald es möglich wird.
16
a) Die Beteiligte zu 2) wurde im Rahmen einer Sekundärgründung als Tochter-SE der Blitzstart Gründungs SE als Vorrats-SE gegründet. Sie wurde, nachdem weder die Gründungs SE noch sie selbst Arbeitnehmer beschäftigen, entgegen dem Wortlaut des § 12 Abs. 2 Verordnung (EG) NR. 2157/2001 („SE-VO“) ohne die vorherige Durchführung eines Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens ins Handelsregister eingetragen. Insoweit hat das Registergericht gemäß der Entscheidung des OLG Düsseldorf vom 30. März 2009 (Az. 3 Wx 248/08, juris) die Vorschrift des § 12 Abs. 2 SE-VO teleologisch reduziert und angenommen, dass angesichts der Arbeitnehmerlosigkeit sowohl der Gründungs-SE als auch der Beteiligten zu 2) das Fehlen der Arbeitnehmerbeteiligung kein Eintragungshindernis sei. Klarstellend sei bemerkt, dass der Verzicht auf die Arbeitnehmerbeteiligung als Eintragungshindernis nicht auch für den Fall gilt, dass lediglich die SE arbeitnehmerlos ist bzw. bleiben soll, aber die beteiligten Gründungsgesellschaften Arbeitnehmer beschäftigen (LG Hamburg, Beschluss vom 30. September 2005 - 417 T 15/05 -, juris; Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, 4. Auflage 2018, SEBG vor § 1 Rn. 78; MüKoAktG/Jacobs, 5. Aufl. 2021 Rn. 5, SEBG § 3 Rn. 5 mwN).
17
Unterbleibt die Arbeitnehmerbeteiligung, entspricht es weitgehend einhelliger Auffassung in Literatur und Instanzenrechtrechtsprechung, dass diese unter bestimmten Voraussetzungen nachzuholen ist (vgl. nur OLG Düsseldorf vom 30. März 2009, Az. 3 Wx 248/08, juris; Lutter/Hommelhoff/Oetker, § 1 SEBG Rn. 19 ff.; Habersack/Drinhausen/Schürnbrand, SE-Recht, Art. 12 SE-VO Rn. 26; beckonlineGK/Casper, Art. 2 SE-VO Rn. 31; Habersack/Henssler, Mitbestimmungsrecht, Einleitung Rn. 79; Casper/Schäfer, ZIP 2007, 653, 658; Luke, NZA 2013, 941, 943; Forst, NZG 2009, 687, 689). Umstritten ist lediglich, ob es sich dies aus §§ 4 ff SEBG (analog) oder aus § 18 Abs. 3 SEBG analog ergibt und welche Voraussetzungen für eine Nachholung vorliegen müssen (vgl. zum Streitstand Habersack/Henssler/Henssler, 4. Aufl. 2018, SEBG § 18 Rn. 31; zuletzt für § 18 Abs. 3 SEBG Landesarbeitsgericht Hamburg, Beschluss vom 29. Oktober 2020 - 3 TaBV 1/20 -, Rn. 47, juris).
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Nach Ansicht der Kammer ist unmittelbar an §§ 4 ff SEBG anzuknüpfen (im Ergebnis ähnlich Schubert, ZESAR 2006, 340, 345ff; dies erwägend MüKoAktG/Jacobs, 5. Aufl. 2021, SEBG § 18 Rn. 18 für den Fall der Einsetzung einer Vorrats-SE als Komplementärin einer KG mit in der Regel mehr als 2.000 Arbeitnehmern). Ausgangspunkt der Überlegungen ist, dass der Gesetzgeber keine Ausnahmen von der Durchführung eines Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens bei der SE-Gründung vorgesehen hat und das Beteiligungsverfahren vielmehr als zwingend voraussetzt (vgl. § 4 Abs. 1 Satz 1 SEBG „Das besondere Verhandlungsgremium ist … zu bilden.“). Zur Durchsetzung dieser Anordnung hat der Gesetzgeber die Eintragung einer gegründeten SE in das Handelsregister von der vorherigen Durchführung des Beteiligungsverfahrens abhängig gemacht, vgl. § 12 Abs. 2 SE-VO. Unterbleibt die Durchführung des Beteiligungsverfahrens vor der Eintragung, lässt dies aber nicht den Schluss zu, dass damit auch die Pflicht zu seiner Durchführung endgültig erlöschen würde. Vielmehr ist das besondere Verhandlungsgremium nach § 4 Abs. 1 Satz 1 SEBG nach wie vor zu bilden. Es wäre widersinnig aus dem Versagen des Sicherungsmechanismus des § 12 Abs. 2 SE-VO zu schließen, dass die Durchführungspflicht nach § 4 Abs. 1 Satz 1 SEBG nach Eintragung erlöschen würde. Sonst würde nicht nur § 12 Abs. 2 SE-VO teleologisch reduziert, sondern gleich auch noch die in § 4 Abs. 1 SEBG enthaltene Durchführungspflicht mit ihm. In den Fällen der teleologischen Reduktion des § 12 Abs. 2 SE-VO mag der Durchführung des Beteiligungsverfahrens zunächst zwar noch ihre Unmöglichkeit entgegenstehen, da weder die beteiligten Gründungsgesellschaften noch die SE über Arbeitnehmer verfügen, mit denen über eine Mitbestimmungsregelung verhandelt werden könnte (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30. März 2009 - I-3 Wx 248/08 -, Rn. 21 ff, juris; AG Düsseldorf, Verfügung vom 16. Januar 2006 - HRB 52618 -, juris). Ändert sich dies, etwa weil in die Gründungsgesellschaft oder in die SE selbst Arbeitnehmer aufgenommen werden, erscheint es folgerichtig, die Arbeitnehmerbeteiligung nach §§ 4 ff SEBG nachzuholen (so wohl auch Winter/Marx/De Decker, NZA 2016, 334, 337). Denn dann steht der Durchführungspflicht des § 4 Abs. 1 Satz 1 SEBG der Einwand der Unmöglichkeit nicht mehr entgegen. Schließlich stehen nunmehr Arbeitnehmer für die Besetzung des besonderen Verhandlungsgremiums zur Verfügung.
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Dem kann nicht der von den Beteiligten zu 2) und 3) in der mündlichen Anhörung vorgebrachte Einwand entgegengehalten werden, bei §§ 4 ff SEBG handele es sich um bloße Verfahrensvorschriften. Den beiden Beteiligten ist zwar zuzustimmen, dass die §§ 4 ff SEBG zwar in erster Linie Vorschriften über die Durchführung des Verhandlungsverfahren enthalten. Jedoch normiert § 4 Abs. 1 SEBG auch die materielle Verpflichtung zur Durchführung des Verhandlungsverfahrens, indem den Leitungen die Initiative zur Einleitung des Verfahrens zugewiesen wird. Diese Auslegung steht im Einklang mit Art. 3 Abs. 1 der RL 2001/86/EG („SE-RL“), den § 4 SEBG in nationales Recht umsetzt (MüKoAktG/Jacobs, 5. Aufl. 2021 Rn. 1, SEBG § 4 Rn. 1). Denn auch in Art. 3 Abs. 1 SE-RL ist eine materielle Verpflichtung zum Tätigwerden vorgesehen, nämlich dass die Leitungs- und Verwaltungsorgane der beteiligten Gesellschaften die erforderlichen Schritte für die Aufnahme von Verhandlungen so rasch wie möglich einzuleiten haben.
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b) Vorliegend ist das Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren zwischenzeitlich durchführbar geworden. Spätestens seit dem Einrücken der Beteiligten zu 2) in die Stellung als Komplementärin der Beteiligten zu 3) besteht die Pflicht zur Durchführung eines Verhandlungsverfahrens, die nunmehr vom Antragsteller geltend gemacht wird. Jedenfalls seit diesem Zeitpunkt sind Arbeitnehmer vorhanden, mit denen das besondere Verhandlungsgremium besetzt werden kann. Zwar sind bei der SE nach wie vor keine Arbeitnehmer vorhanden. Ausreichend ist jedoch, dass die Beteiligte zu 3) Arbeitnehmer (in ausreichender Zahl) beschäftigt.
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Spätestens mit dem Einrücken der Beteiligten zu 2) in die Stellung als Komplementärin der Beteiligten zu 3) wird letztere anstelle der Gründungsgesellschaft - der Blitzstart Gründungs SE - zu einer beteiligten Gesellschaft im Sinne der §§ 4 ff SEBG. Der Begriff der beteiligten Gesellschaft ist zwar in § 2 Abs. 2 SEBG legal definiert; demnach sind beteiligte Gesellschaften die Gesellschaften, die unmittelbar an der Gründung einer SE beteiligt sind. Jedoch sind die Vorschriften der §§ 4 ff SEBG auf den Fall einer wirtschaftlichen Neugründung analog anzuwenden. Als beteiligte Gesellschaft sind dabei die Gesellschaften zu betrachten, die an der wirtschaftlichen Neugründung unmittelbar beteiligt sind. Dies ist hier die Beteiligte zu
3) .
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i) Das Gesetz weist die für einen Analogieschluss vorausgesetzte planwidrige Lücke auf. Gem. Art. 12 Abs. 2 SE-VO ist eine Eintragung einer SE in das Handelsregister ohne vorherige Durchführung eines Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens nicht vorgesehen. Auch der nationale Gesetzgeber hat im SEBG keinerlei Ausnahmen von der Durchführung eines Verhandlungsverfahrens nach §§ 4 ff SEBG vorgesehen und damit Art. 1 Abs. 2 SE-RL Rechnung getragen, nach dem in jeder SE eine Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer zu treffen ist. Nach dem Plan des europäischen und nationalen Gesetzgebers kann eine SE also ausschließlich nach Durchführung des Verhandlungsverfahrens gegründet werden. Der gesetzgeberische Plan - keine SE ohne Beteiligungsverfahren - wurde durch die Rechtsprechung zur telelogischen Reduktion des Art. 12 Abs. 2 SE-VO durchbrochen (grundlegend: OLG Düsseldorf vom 30. März 2009, Az. 3 Wx 248/08, juris). Denkt man den gesetzgeberischen Regelungsplan weiter, ist anzunehmen, dass spätestens bei Eintritt eines der Gründung in wirtschaftlicher Hinsicht gleichkommenden Ereignisses, das Verhandlungsverfahren nach entsprechenden Maßgaben wie bei der Gründung nachzuholen ist. Ist die SE im Zeitpunkt der wirtschaftlichen Neugründung bereits veräußert worden, ist die ursprüngliche Gründungsgesellschaft schon dem Wortsinn nach nicht mehr „beteiligte Gesellschaft“. Nichts Anderes ergibt sich aus Sinn und Zweck des Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens; die (ggf. hinzukommenden) Arbeitnehmer der Gründungsgesellschaft stehen nach der Veräußerung in keinerlei Verbindung mehr zur betreffenden SE, ihre Beteiligung an einem Verhandlungsverfahren ergäbe demnach keinen Sinn. An die Stelle der Gründungsgesellschaft tritt vielmehr die Gesellschaft, an die die SE veräußert wurde und diese durch wirtschaftliche Neugründung erstmalig am Wirtschaftsleben beteiligt. Da die Erwerbergesellschaft in diesen Fällen mithin als beteiligte Gesellschaft im Sinne der §§ 4 ff SEBG zu erachten ist, sind auch ihre Arbeitnehmer am besonderen Verhandlungsgremium zu beteiligen (vgl. Schubert, ZESAR 2006, 340, 346f).
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Auch nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs können Vorschriften, die an sich nur im Rahmen der Gründung einer Gesellschaft Anwendung finden, bei wirtschaftlicher Neugründung sinngemäß anzuwenden sein, wenn deren Zweck durch eine Vorrats-Gründung mit anschließender Verwendung der Mantel-Gesellschaft leerliefe (BGH, Beschluss vom 09. Dezember 2002 - II ZB 12/02 -, BGHZ 153, 158-165, Rn. 5 - 6). Dies ist auch hier der Fall. Hätte sich die Beteiligte zu 3) nicht einer Vorrats-SE bedient, sondern selbst eine SE gegründet, was entgegen dem Vorbringen der Beteiligten zu 2) und 3) nach Art. 2 Abs. 3 SE-VO auch für Personengesellschaften möglich ist (vgl. EuArbRK/Oetker, 3. Aufl. 2020, RL 2001/86/EG Art. 2 Rn. 5), hätte sie zweifelsfrei ein Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren durchlaufen müssen, da sie als unmittelbar an der gesellschaftsrechtlichen Gründung beteiligte Gesellschaft über Arbeitnehmer verfügt. Sonst wäre ihr die Eintragung der gegründeten SE ins Handelsregister nach § 12 Abs. 2 SE-VO verwehrt worden. Der Umweg über den Erwerb einer Vorrats-SE kann kein anderes Ergebnis zeitigen, möchte man das durch das Verhandlungsverfahren und das SEBG gem. dessen § 1 Abs. 2 verfolgte Ziel, die erworbenen Rechte von Arbeitnehmern auf Beteiligung an Unternehmensentscheidungen zu sichern, nicht gefährden.
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ii) § 18 Abs. 3 SEBG steht einer analogen Anwendung der §§ 4 ff SEBG auf den Fall der wirtschaftlichen Neugründung nicht entgegen. Der in der mündlichen Anhörung geäußerten Ansicht der Beteiligten zu 2) und 3), der Fall eines Verhandlungsverfahrens nach Gründung sei in § 18 Abs. 3 SEBG bereits abschließend geregelt, so dass sich eine analoge Anwendung der §§ 4 ff SEBG verbiete, kann nicht gefolgt werden. § 18 Abs. 3 SEBG regelt lediglich den Fall, dass bereits ein Verhandlungsverfahren stattgefunden hat, nicht aber den Fall, dass ein Verhandlungsverfahren überhaupt noch nicht stattgefunden hat. So lautet etwa die Überschrift der Norm „Wiederaufnahme der Verhandlungen“ und in § 18 Abs. 3 Satz 2 SEBG ist vom „… neu zu bildenden besonderen Verhandlungsgremiums …“ die Rede (Unterstreichungen jeweils durch Verfasser). Die Norm setzt also - jedenfalls in ihrer unmittelbaren Anwendung - die bereits erfolgte Durchführung eines Verhandlungsverfahrens voraus.
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iii) Die Beteiligte zu 3) ist an einer wirtschaftlichen Neugründung der Beteiligten zu 2) unmittelbar beteiligt, indem sie diese als Komplementärin der Kommanditgesellschaft aufnahm. Denn die als Vorrats-SE gegründete Beteiligte zu 2) nimmt seit Übernahme der Stellung als Komplementär-SE der Beteiligten zu 3) erstmalig am Wirtschaftsleben teil. So kann sie nunmehr die Beteiligte zu 3) vertreten, etwa auch gegenüber den Arbeitnehmern der Beteiligten zu 3). Mit Beitritt zu einer KG ändert eine SE mithin ihren Gesellschaftszweck hin zur Übernahme der Geschäftsführung und unbeschränkten Haftung für die Verbindlichkeiten der KG (Frese, BB 2018, 2612, 2615). Damit ist der Eintritt einer Vorrats-SE in eine KG unter Übernahme der Komplementärsstellung als wirtschaftliche Neugründung bzw. maßgebliches Ereignis für die Durchführung eines Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens anzusehen (MüKoAktG/Jacobs, 5. Aufl. 2021, SEBG § 18 Rn. 17; Blaum in: Westermann/Wertenbruch, Handbuch Personengesellschaften, 81. Lieferung 09.2021, AG & Co. KG, SE & Co. KG, Stiftung & Co. KG, Limited & Co. KG, Rn 3394e; Naber/Sittard, Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, 4. Aufl., Bd 4, Rn 106 für die SE & Co. KGaA). Dementsprechend ist vorliegend eine wirtschaftliche Neugründung der Beteiligten zu 2) festzustellen, die von der Beteiligten zu 3) gesellschaftsvertraglich herbeigeführt wurde. Letztere ist damit als beteiligte Gesellschaft im Sinne der §§ 4 ff SEBG analog zu qualifizieren.
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c) Auf die stark umstrittene Frage, ob im Rahmen einer Sekundärgründung nach Art. 3 Abs. 2 SE-VO - eine solche hat vorliegend stattgefunden - vor Eintragung in Handelsregister ein Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren stattzufinden hat, kommt es vorliegend nicht an (sehr strittig, vgl. zum Streitstand etwa MüKoAktG, 5. Auflage, SEBG vor § 1 Rn. 11 mwN). Diesbezüglich wird vertreten, dem Anliegen des SEBG und der SE-RL, erworbene Rechte der Arbeitnehmer auf Beteiligung an Unternehmensentscheidungen zu schützen, würde bereits über das Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren, das im Rahmen der Gründung der späteren Mutter-SE durchzuführen ist, Rechnung getragen (Habersack/Drinhausen/Hohenstatt/MüllerBonanni, 2. Aufl. 2016, SEBG § 3 Rn. 9 mwN). Dieses Argument greift allenfalls solange, als die gegründete SE nicht an einen Dritten veräußert wird. Wird also - wie hier - eine Vorrats-SE ohne Durchführung eines Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens gegründet und anschließend veräußert, ist das Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren jedenfalls dann nachzuholen, wenn der Grund für sein Unterlassen weggefallen ist und die SE wirtschaftlich neu gegründet wurde (s.o. unter 2) a) und b)).
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d) Ob auch dann ein Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren durchzuführen wäre, wenn weniger als 10 Arbeitnehmer für die Besetzung des besonderen Verhandlungsgremiums zur Verfügung stehen würden, kann dahinstehen, da die Beteiligte zu 2) mehr als 2000 Arbeitnehmer beschäftigt.
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e) Darauf ob die Voraussetzungen des § 18 Abs. 3 SEBG (in analoger Anwendung) erfüllt sind, kommt es nach Vorstehendem nicht an. § 18 Abs. 3 SEBG setzt nach seinem Wortlaut eine strukturelle Änderung der SE und eine Eignung dieser Änderung voraus, Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer zu mindern. Es wäre nicht einleuchtend, diese Maßstäbe auf den Fall des bei Gründung unterlassenen Beteiligungsverfahrens anzuwenden. Sinn der zusätzlichen Voraussetzungen des § 18 Abs. 3 SEBG ist es, den Aufwand eines erneuten Verhandlungsverfahrens zu vermeiden, wenn bereits ein Verhandlungsverfahren durchgeführt wurde und die eingetretenen Änderungen keine Neuaufnahme von Verhandlungen rechtfertigen. Ist aber noch kein Verhandlungsverfahren durchgeführt worden, steht lediglich die erstmalige Durchführung eines Verhandlungsverfahrens im Raum. Ein zusätzlicher Aufwand durch eine erneute Verhandlung, den die einschränkenden Voraussetzungen des § 18 Abs. 3 SEBG vermeiden sollen, kann dann nicht entstehen.
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Des Erfordernisses einer strukturellen Änderung bedarf es also nicht, da die Gründung selbst die Pflicht zur Durchführung eines Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens mit sich bringt. Diese Pflicht besteht auch nach Eintragung der SE ins Handelsregister fort, wenn trotz § 12 Abs. 2 SE-VO noch keine Beteiligungsverfahren durchgeführt wurde (s.o. unter 2) a)).
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Des Erfordernisses der Eignung zur Minderung von Beteiligungsrechten bedarf es ebenfalls nicht. Denn auch bei der Gründung einer SE wird nicht danach unterschieden, ob Beteiligungsrechte bedroht sind; das Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren ist unabhängig davon durchzuführen, selbst wenn in keiner der beteiligten Gesellschaften Mitbestimmungsrechte bestehen. Letzteres wäre allenfalls in der Folge für die gesetzlichen Auffangregelungen in §§ 22 ff SEBG von Relevanz. Das Beteiligungsverfahren ist in diesen Fällen auch nicht irrelevant. Schließlich können in einem Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren auch völlig neue Beteiligungsrechte eingeführt werden.
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f) Selbst aber wenn man für die Nachholung des Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens gem. §§ 4 ff. SEBG die analoge Anwendung des § 18 Abs. 3 SEBG mit dem OLG Düsseldorf a.a.O und dem Landesarbeitsgericht Hamburg - Beschluss vom 29. Oktober 2020 - 3 TaBV 1/20 -, Rn. 47, juris - für geboten hält, ändert sich für dessen Notwendigkeit nichts.
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i) Die Übernahme der Komplementärstellung in einer wirtschaftlich tätigen KG muss in diesem Fall als strukturelle Änderung im Sinne des § 18 Abs. 3 SEBG angesehen werden, die die Nachholung der bisher unterbliebenen Arbeitnehmerbeteiligung auslöst. Der Begriff der strukturellen Änderung im Sinne des § 18 Abs. 3 SEBG meint nicht nur gesellschaftsrechtliche, insbesondere satzungsrelevante Änderungen innerhalb der SE, sondern auch rein wirtschaftliche Änderungen in der Betätigung der SE. So hat bereits das OLG Düsseldorf in seiner zitierten Entscheidung die Nachholung des Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens aufgrund der analogen Anwendung der §§ 1 Abs. 4, 18 Abs. 3 SEBG für möglich gehalten, sobald die Vorrats-SE „zum Leben erweckt wird“ namentlich mit einem Unternehmen ausgestattet wird und über Arbeitnehmer verfügt. Auch von der Höh „Die Vorrats-SE als Problem der Gesetzesumgehung und des Rechtsmissbrauchs“ Seite 246 hält die Übernahme einer wirtschaftlichen Einheit im Sinne des § 613 a BGB durch die SE als wirtschaftlichen Gründungsakt für ausreichend. Die Aktivierung der Vorrats-SE kann auch darin bestehen, dass die SE eine mitbestimmte GmbH als Komplementärin in einer GmbH & Co.KG ersetzt (Sigle Festschrift Hommelhoff S. 1128, vgl. Bl. 125 d.A.). Mit Beitritt zu einer KG ändert eine Vorrats-SE zudem ihren Gesellschaftszweck von der Verwaltung eigenen Vermögens zur Übernahme der Geschäftsführung und unbeschränkten Haftung für die Verbindlichkeiten der KG (Frese, BB 2018, 2612, 2615). Dieser Vorgang ist als wirtschaftliche Neugründung anzusehen, auf den für die Durchführung des Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens abzustellen ist (MüKoAktG/Jacobs, 5. Aufl. 2021, SEBG § 18 Rn. 17; Blaum in: Westermann/Wertenbruch, Handbuch Personengesellschaften, 81. Lieferung 09.2021, AG & Co. KG, SE & Co. KG, Stiftung & Co. KG, Limited & Co. KG, Rn 3394e; Naber/Sittard, Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, 4. Aufl., Bd 4, Rn 106 für die SE & Co. KGaA).
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Dem ist zu folgen. Wenn trotz der Vorschrift des Art. 12 Abs. 2 SE-VO die Gründung einer Vorrats-SE ohne Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren für zulässig gehalten wird, dann muss auch die wirtschaftliche Neugründung der SE zur Auslösung der Nachholungspflicht des Verfahrens ausreichend sein. In diesem Sinne wurde die Beteiligte zu 2) durch die Übernahme der Komplementärstellung der Beteiligten zu 3) zum 01.01.2020 aktiviert und liegt eine strukturelle Änderung im Sinne des § 18 Abs. 3 SEBG vor.
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ii) Hinsichtlich des zweiten Tatbestandsmerkmals des § 18 Abs. 3 SEBG, der Eignung, Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer zu mindern, ist die Vorschrift teleologisch zu reduzieren. Eine Minderung von Beteiligungsrechten der Arbeitnehmer ist ausgeschlossen, wenn aufgrund der teleologischen Reduktion des Art. 12 Abs. 2 SE-VO Beteiligungsrechte von vorneherein nicht geschaffen wurden und vorliegend die Beteiligte zu 2) ohne Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren als Vorrats-SE gegründet wurde. Es geht nicht an, bei der Vorratsgründung zunächst auf das Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren zu verzichten, dann aber bei der Aktivierung die Minderung der Arbeitnehmerbeteiligungsrechte zu verlangen. Wenn bei der Gründung der Beteiligte zu 2) der § 12 Abs. 2 SE-VO teleologisch reduziert und auf eine Mitarbeiterbeteiligung verzichtet wurde, muss nunmehr nach Aktivierung auch auf das Erfordernis der Gefahr der Minderung der Beteiligungsrechte ebenfalls verzichtet werden. Insoweit ist § 18 Abs. 3 SEBG ebenfalls teleologisch zu reduzieren.
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iii) Die Tatsache, dass die Beteiligte zu 2) selbst keine Arbeitnehmer beschäftigt, steht der Durchführung des Arbeitnehmerbeteiligungsverfahrens nicht entgegen, da die Beteiligte zu 3) als beteiligte Gesellschaft im Sinne des SEBG anzusehen ist und dementsprechend Arbeitnehmer der Beteiligten zu 3) in das besondere Verhandlungsgremium gewählt werden können.
36
Als diejenige Gesellschaft, die durch Erwerb aller Anteile der Beteiligten zu 2) und deren Einsetzung als ihre Komplementärin die Beteiligte zu 2) wirtschaftlich aktiviert hat, ist die Beteiligte zu 2) im Sinne des § 2 Abs. 2, 4 ff. SEBG analog als beteiligte Gesellschaft anzusehen. Ebenso wie in § 18 Abs. 3 SEBG für das Tatbestandsmerkmal der strukturellen Änderung der Wortlaut für eine gesellschaftsrechtlichsatzungsrelevante Änderung spricht, nach Sinn und Zweck der Vorschrift aber eine rein tatsächlichwirtschaftliche Änderung in der Betätigung der Gesellschaft als ausreichend anzusehen ist, genügt es für die Subsumption unter den Begriff der beteiligten Gesellschaft, wenn die betreffende Gesellschaft an der Gründung der SE in wirtschaftlicher Hinsicht unmittelbar beteiligt ist (vgl. zur näheren Begründung der Analogie oben unter b)).
37
g) Unabhängig davon, ob die Pflicht zur Durchführung aus §§ 4 ff SEBG analog oder § 18 Abs. 3 SEBG analog hergeleitet wird, ist der Antragsteller berechtigt, die Durchführung des Verhandlungsverfahrens zu verlangen.
38
Adressaten der schriftlichen Aufforderung zur Bildung eines besonderen Verhandlungsgremiums nach § 4 Abs. 1 Satz 1 SEBG sind, wie sich aus dem Zusammenspiel von § 4 Abs. 2 S. 1 und 2 sowie § 9 Abs. 1 SEBG ergibt, die jeweiligen Vorsitzenden der entsprechenden Arbeitnehmervertretungen und Sprecherausschüsse in den beteiligten Gesellschaften, betroffenen Tochtergesellschaften und betroffenen Betrieben. Die Arbeitnehmervertretungen auf einer niedrigeren Stufe sind durch die Vertretungen auf der höheren Stufe mitrepräsentiert und bedürfen - wie sich der Wertung des § 8 Abs. 2-4 SEBG entnehmen lässt - keiner eigenständigen Aufforderung (MüKoAktG/Jacobs, 5. Aufl. 2021, SEBG § 4 Rn. 8).
39
Beim Antragsteller handelt es sich um die bei der Beteiligten zu 3) gebildete Arbeitnehmervertretung. Da ein Gesamt- oder Konzernbetriebsrat nicht vorhanden sind, hat sich die Aufforderung an den Antragsteller als örtlichen Betriebsrat zu richten. Bleibt sie aus, kann die anzusprechende Arbeitnehmervertretung ihr Beteiligungsrecht aktiv wahrnehmen.
40
Auf die umstrittene Frage, ob bei der gesellschaftsrechtlichen Gründung ein Initiativrecht der Arbeitnehmervertretung im Sinne eines Anspruchs auf Durchführung des Beteiligungsverfahrens besteht, kommt es vorliegend nicht an (dagegen: Annuß/Kühn/Rudolph/Rupp/Rudolph, 1. Aufl. 2014, SEBG § 4 Rn. 6; MüKoAktG/Jacobs, 5. Aufl. 2021 Rn. 11, SEBG § 4 Rn. 11). Denn anders als bei der gesellschaftsrechtlichen Gründung, bei der Art. 12 Abs. 2 SE-VO als „Sanktion“ für eine unterbliebene Aufforderung und damit ein unterlassenes Beteiligungsverfahren vorsieht, dass die SE nicht eingetragen werden kann, besteht im Fall der wirtschaftlichen Neugründung kein entsprechender Sicherungsmechanismus. Der Pflicht zur Durchführung eines Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren kann in diesen Fällen nur durch Anerkennung eines Initiativrechts der Arbeitnehmervertretung, zu praktischer Wirksamkeit verholfen werden.
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h) Auf die Missbrauchsregelung des § 43 SEBG kommt es vorliegend nicht an, da das Verhandlungsverfahren nach §§ 4 ff SEBG auch bei der vorliegend gewählten Gestaltung durchzuführen ist.
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Dem Antrag war nach alledem zu entsprechen.