Inhalt

VG Bayreuth, Urteil v. 07.10.2021 – B 3 K 20.30674
Titel:

Unzulässigkeit der Überstellung eines international Schutzberechtigten nach Griechenland wegen existentieller Not

Normenketten:
AsylG § 29
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
EMRK Art. 3
GRCh Art. 4
Leitsätze:
Bei einer Überstellung nach Griechenland droht anerkannten Schutzberechtigten ohne Sprachkenntnisse aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit und der Schwierigkeiten bei der Wohnraumbeschaffung unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen existentielle Not. (Rn. 15 – 18)
1. Von der Befugnis, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, darf ein Mitgliedstaat keinen Gebrauch machen, wenn die Lebensverhältnisse, die den Schutzberechtigten in dem anderen Mitgliedstaat als anerkannter Flüchtling erwarten würden, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung iSv Art. 4 GRCh zu erfahren (EuGH BeckRS 2019, 28304). (Rn. 15) (red. LS Clemens Kurzidem)
2. Der Umstand, dass international Schutzberechtigte in dem Mitgliedstaat, der sie anerkannt hat, keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich reduziertem Umfang existenzsichernde Leistungen erhalten, ohne dabei anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaats behandelt zu werden, kann nur dann zur Feststellung der Gefahr einer Verletzung des Standards des Art. 4 GRCh führen, wenn der Schutzberechtigte sich aufgrund seiner besonderen Verletzbarkeit unabhängig von seinem Willen und seiner persönlichen Entscheidung in einer Situation extremer materieller Not befände (EuGH BeckRS 2019, 3603 - Ibrahim). (Rn. 17) (red. LS Clemens Kurzidem)
3. Die Schwelle zur unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ist dann erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihrer persönlichen Entscheidung in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden (Bett, Brot und Seife) (VGH Mannheim BeckRS 2019, 11243). (Rn. 18) (red. LS Clemens Kurzidem)
4. Aufgrund der Wohnungssituation anerkannter Flüchtlinge in Griechenland besteht im Falle einer Rückkehr dorthin die Gefahr existentieller materieller Not in Form von Obdachlosigkeit. (Rn. 19 – 24) (red. LS Clemens Kurzidem)
Schlagworte:
Unzulässigkeit der Überstellung nach Griechenland wegen drohender Obdachlosigkeit und existentieller Not, syrischer Staatsangehöriger, internationale Schutzberechtigung, Griechenland, Sekundärmigration, erneute Asylantragstellung, unzulässiger Asylantrag, Überstellung, Obdachlosigkeit, existentielle Not, nationale Abschiebungsverbote
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 04.07.2022 – 24 B 22.30577
Fundstelle:
BeckRS 2021, 56048

Tenor

1. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 10.06.2020, Gesch.-Z: … wird mit Ausnahme des Satzes 4 der Ziffer 3 („Der Antragsteller darf nicht nach Syrien abgeschoben werden.“) aufgehoben.
2. Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens trägt die Beklagte.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch den Kläger durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 v.H. des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 v.H. des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger ist syrischer Staatsangehöriger, arabischer Volkszugehörigkeit. Er reiste nach eigenen Angaben Anfang des Jahres 2016 von seinem Heimatland aus und über die Türkei nach Griechenland, wo er ca. 7 Monate blieb und ihm internationaler Schutz gewährt wurde. Anschließend reiste er ca. 2 Monate nach Schweden, um dort seinen Onkel zu besuchen, danach kehrte er nach Griechenland zurück, wo er ca. 2 Jahre blieb und einen Kurs für Grafik- und Webdesign machte. Dann reiste er über Italien und die Niederlande am 04.01.2020 nach Deutschland ein. Hier stellte er am 21.01.2020 einen Asylantrag.
2
Zur Begründung seines Asylantrags in Deutschland führte der Kläger aus, Griechenland sei kein sicheres Land für Flüchtlinge. Sie hätten keine Sozialhilfe bekommen Es habe keine Integrationskurse und keine medizinische Versorgung gegeben. Man könne dort nicht arbeiten ohne die Sprache zu lernen. Die Sprache lernen sei teuer. Er habe das nicht finanzieren können. Er habe so viele Ausgaben gehabt und habe die Miete bezahlen müssen. Sein Vater habe ihn von Syrien aus unterstützt und auch seine Schwester aus Großbritannien habe Geld geschickt. Während seines zweiten Aufenthalts in Griechenland sei manchmal das Geld knapp gewesen. Er habe dann in einem Camp übernachten wollen, dort habe man ihm aber gesagt, dass kein Platz für ihn sei. Die Camps seien auch unsicher. Er habe einen Mann aus dem Jemen gekannt, von dem er später gehört habe, dass er im Camp umgebracht worden sei. In Deutschland habe er zwei Onkel und eine Tante, sowie Cousins und eine Cousine. Er brauche ihre Unterstützung. Ein Onkel habe in Syrien im gleichen Haus gewohnt, mit ihm sei der Kläger aufgewachsen.
3
Mit Bescheid vom 19.03.2020 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vorlägen und drohte die Abschiebung des Klägers nach Griechenland oder in ein anderes aufnahmebereites Land an. Der Kläger dürfe nicht nach Syrien abgeschoben werden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde nach § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Zur Begründung wird in dem Bescheid ausgeführt, der Kläger habe in Griechenland bereits internationalen Schutz erhalten. Die humanitären Bedingungen in Griechenland würden nicht gegen Art. 3 EMRK verstoßen und der Kläger habe keine individuellen gefahrerhöhenden Umstände vorgetragen. Ihm drohe auch keine Gefahr für Leib oder Leben. Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Bayreuth und stellte gleichzeitig einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO. Mit Beschluss vom 28.04.2020 ordnete das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der Klage an. Aufgrund der Wirkung des § 37 Abs. 1 Satz 1 des Asylgesetzes (AsylG) erklärten die Beteiligten daraufhin den Rechtsstreit in der Klagesache übereinstimmend für erledigt.
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Mit Bescheid vom 10.06.2020 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Asylantrag des Klägers erneut als unzulässig ab. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG lägen nicht vor. Dem Kläger wurde die Abschiebung nach Griechenland oder in einen anderen Staat, in den er einreisen dürfe, angedroht. Der Kläger dürfe nicht nach Syrien abgeschoben werden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde gem. § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Die Vollziehung der Abschiebungsanordnung wurde ausgesetzt. Der Kläger habe in Griechenland internationalen Schutz zuerkannt bekommen. Die Lebensbedingungen in Griechenland seien ausreichend. Es sei nicht davon auszugehen, dass Personen mit internationalem Schutzstatus in Griechenland eine lebensbedrohliche Situation drohe. Die Lebensbedingungen mögen zwar schwierig sein, es herrschten aber keine eklatanten Missstände, die den Schluss zuließen, anerkannte Schutzberechtigte würden einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung ausgesetzt. Die Situation von anerkannten Schutzberechtigten in Griechenland habe sich insgesamt im Vergleich zu vorherigen Jahren deutlich gebessert. Es bestehe keine Verpflichtung durch europäisches Recht, einen Mindestversorgungsstandard sicherzustellen. Zum 01.01.2019 seien in Griechenland erstmals wohnungsbezogene Sozialleistungen eingeführt worden. Voraussetzung sei ein noch mind. 6 Monate gültiger Mietvertrag, sowie ein fünfjähriger dauerhafter und legaler Aufenthalt in Griechenland. Die private Anmietung von Wohnungen gestalte sich zwar schwierig, sei aber grundsätzlich möglich. Es sei eine neue soziale Grundsicherung eingeführt worden. Der Kläger sei zudem erwerbsfähig. Es sei daher nach Auffassung des Bundesamtes ausgeschlossen, dass er sich bei einer Rückkehr nach Griechenland extremer materieller Not gegenübersehen werde. Der Kläger habe die Verschlechterung seiner Situation zudem durch sein „asylum shopping“ selbst herbeigeführt.
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Gegen den Bescheid erhob der Kläger mit Schreiben seines Bevollmächtigten vom 17.06.2020, bei Gericht eingegangen am selben Tag, Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Bayreuth.
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Er beantragt,
den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 10.06.2020, mit Ausnahme der in Satz 4 Ziffer 3 getroffenen Feststellung, dass der Kläger nicht nach Syrien abgeschoben werden dürfe, aufzuheben,
hilfsweise, die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 10.06.2020 zu verpflichten, festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 bis 7 AufenthG auch hinsichtlich Griechenlands vorliegen.
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Das griechische Asylsystem leide unter systemischen Mängeln. Die Situation rückgeführter anerkannt Schutzberechtigter unterscheide sich wesentlich von der Situation der Dublin-Rückkehrer, die grds. ein Recht auf angemessene Unterbringung hätten und regelmäßig im Camp Eleonas untergebracht und versorgt würden. Anerkannten Schutzsuchenden sei der Arbeitsmarkt weitgehend verschlossen, ihnen stünden auch anders als Inländern keine Ausweichmöglichkeiten auf andere Arbeitsmärkte innerhalb der EU zu Verfügung. Die Situation anerkannter Schutzberechtigter habe sich in den letzten Jahren in Griechenland noch verschlechtert, Griechenland lehne die Rücknahme von Flüchtlingen kategorisch ab. Der Kläger habe bei einer Rückkehr keine realistische Möglichkeit, eine Unterkunft zu erhalten und seine elementaren Bedürfnisse abzudecken. Die Anmietung einer Wohnung dürfte mangels eines konkreten Einkommens nicht möglich sein. Die Beklagte hätte eine Zusicherung seitens der griechischen Behörden anfordern müssen, dass ihm zumindest in der Zeit nach seiner Ankunft Zugang zu Obdach, Nahrung und sanitären Einrichtungen gestellt werde.
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Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung bezieht sie sich auf den angefochtenen Bescheid.
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Mit Kammerbeschluss vom 28.09.2021 wurde die Sache zur Entscheidung auf die Berichterstatterin als Einzelrichterin übertragen.
11
Mit Schreiben des Gerichts vom 28.09.2021 wurden die Beteiligten zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung oder durch Gerichtsbescheid angehört. Der Kläger verzichtete mit Schreiben vom 02.10.2021, die Beklagte mit Schreiben vom 06.10.2021 auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogene Behördenakte Bezug genommen (§ 117 Abs. 3 Satz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)).

Entscheidungsgründe

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Über die Klage kann ohne mündliche Verhandlung entschieden werden. Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Schreiben vom 02.10.2021, bzw. 06.10.2021 verzichtet.
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1. Die zulässige Klage hat auch in der Sache Erfolg. Der Bescheid des Bundesamtes vom 10.06.2020 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
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1.1 Die Entscheidung der Beklagten zu Ziffer 1 des angefochtenen Bescheides beruht auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union (hier Griechenland) dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Von der Befugnis, den Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, darf ein Mitgliedsstaat jedoch keinen Gebrauch machen, wenn die Lebensverhältnisse, die den Schutzberechtigten in dem anderen Mitgliedstaat als anerkannter Flüchtling erwarten würden, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zu erfahren (EuGH, B.v. 13.11.2019 - C-540/17 und C-541/17 - juris). Dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens im Unionsrecht folgend, ist regelmäßig davon auszugehen, dass die Mitgliedstaaten die grundlegenden Werte der Union, wie sie insbesondere in Art. 4 der Grundrechtecharta (GRCh) zum Ausdruck kommen, anerkennen, dass sie das diese Werte umsetzende Unionsrecht beachten und auf Ebene des nationalen Rechts einen wirksamen Schutz der in der GRCh anerkannten Grundrechte gewährleisten. Dieser Grundsatz gilt auch im Rahmen des europäischen Asylsystems und gerade auch bei der Anwendung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU (Asylverfahrensrichtlinie) (EuGH, U.v. 19.3.2019 - Jawo, C-163/17 - juris Rn. 80 ff.; EuGH, U.v. 19.3.2019 - Ibrahim, C-297/17 u.a. - juris Rn. 83 ff.; s.a. Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, Art. 4 GRCh Rn. 3).
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Der genannte Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens gilt jedoch nicht absolut im Sinne einer unwiderlegbaren Vermutung, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das gemeinsame europäische Asylsystem in der Praxis auf große Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt. In diesem Fall kann ein ernsthaftes Risiko bestehen, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, bei einer Überstellung in diesem Mitgliedstaat rechtswidrig behandelt werden. Dies zu prüfen obliegt den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte (EuGH, U.v. 19.3.2019 - Jawo, C-163/17 - juris Rn. 83 ff.; EuGH, U.v. 19.3.2019 - Ibrahim, C-297/17 u.a. - juris Rn. 86 ff.).
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Derartige Funktionsstörungen führen erst dann dazu, dass der Asylantrag nicht als unzulässig abgelehnt werden darf, wenn sie eine besonders hohe Schwelle an Erheblichkeit erreichen und den Antragsteller tatsächlich einer ernsthaften Gefahr aussetzen, im Zielland eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren, was von sämtlichen Umständen des Einzelfalles abhängt (EuGH, B.v. 13.11.2019 - Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 - NVwZ 2020, 137 Rn. 36; EuGH, U.v. 19.3.2019 - Ibrahim, C -297/17 u.a. - juris Rn. 89). Hierfür ist weder der bloße Umstand ausreichend, dass die Lebensverhältnisse im Rückführungsstaat nicht den Bestimmungen des Kapitels VII der RL 2011/95/EU (Qualifikations-RL) entsprechen (EuGH, B.v. 13.11.2019 - Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 - NVwZ 2020, 137 Rn. 36), noch ist das Fehlen familiärer Solidarität die Angehörige des normalerweise für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats in Anspruch nehmen, um den Mängeln des Sozialsystems dieses Mitgliedstaats zu begegnen eine ausreichende Grundlage für die Feststellung extremer materieller Not. Gleiches gilt für Mängel bei der Durchführung von Integrationsprogrammen (EuGH, U.v. 19.3.2019 - Jawo, C-163/17 - juris Rn. 94, 96). Daher kann auch der Umstand, dass international Schutzberechtigte in dem Mitgliedsstaat, der sie anerkannt hat, keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedsstaaten nur in deutlich reduziertem Umfang existenzsichernde Leistungen erhalten, ohne dabei anders als die Angehörigen dieses Mitgliedsstaats behandelt zu werden, nur dann zur Feststellung der Gefahr einer Verletzung des Standards des Art. 4 GRCh führen, wenn die Schutzberechtigten sich aufgrund ihrer besonderen Verletzbarkeit unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not im oben genannten Sinne befänden. Dafür genügt nicht, dass in dem Mitgliedsstaat, in dem ein neuer Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, höhere Sozialleistungen gewährt werden oder die Lebensverhältnisse besser sind als in dem Mitgliedsstaat, der bereits internationalen Schutz gewährt hat (EuGH, U.v. 19.3.2019 - Ibrahim, C-297/17 u.a. - juris Rn. 93 f.; EuGH, U.v. 19.3.2019 - Jawo, C-163/17 - juris Rn. 97).
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Die Schwelle ist jedoch dann erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedsstaates zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden („Bett, Brot, Seife“ (VGH BW, B.v. 27.5.2019 - A 4 S 1329/19 - juris Rn. 5)), und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, B.v. 13.11.2019 - Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 - NVwZ 2020, 137 Rn. 39; EuGH, U.v. 19.3.2019 - Ibrahim, C-297/17 u.a. - juris Rn. 90). Angesichts dieser strengen Anforderungen überschreitet selbst eine durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichnete Situation nicht die genannte Schwelle, wenn diese nicht mit extremer materieller Not einhergeht, die einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (EuGH, B.v. 13.11.2019 - Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 - NVwZ 2020, 137 Rn. 39; EuGH, U.v. 19.3.2019 - Ibrahim, C-297/17 u.a. - juris Rn. 91).
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1.2 Unter Anlegung dieser Maßstäbe, stellt sich die Ablehnung des Asylgesuchs des Klägers als unzulässig als rechtswidrig dar. Dem Kläger droht bei einer Rückkehr nach Griechenland eine Situation, in der er mit extremer materieller Not konfrontiert würde. Insbesondere wäre der Kläger bei einer Rückkehr von Obdachlosigkeit bedroht.
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Zwar bestehen in Griechenland verschiedene Programme, über die Asylbewerber und anerkannte Schutzberechtigte Zugang zu Wohnraum erhalten sollen (ESTIA, ESTIA-II, HELIOS), der Kläger erfüllt jedoch nicht die Voraussetzungen, in einem dieser Programme aufgenommen zu werden. Seit einer Gesetzesänderung im Mai 2020 müssen Schutzberechtigte die Unterkünfte des ESTIA bzw. ESTIA-II Programmes nach 30 Tagen verlassen. Das HELIOS Projekt stellt für Schutzberechtigte daher das einzige verfügbare Unterkunftsprogramm dar. Für die Teilnahme am HELIOS-Programm gibt es jedoch eine Anmeldefrist von 12 Monaten ab der Mitteilung über die Zuerkennung des Schutzstatus (ACCORD, Griechenland: Versorgungslage und Unterstützungsleistungen für (nach Griechenland zurückkehrende) Personen mit internationalem Schutzstatus, 26.08.2021, m.w.N.). Dem Kläger steht daher bei einer Rückkehr nach Griechenland keine Unterstützung durch ein Hilfsprogramm hinsichtlich einer Unterkunft zur Verfügung.
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Es ist auch nicht damit zu rechnen, dass der Kläger sich selbst in absehbarer Zeit mit Wohnraum versorgen können wird. Eine private Anmietung von Wohnungen durch anerkannt Schutzberechtigte ist durch das traditionell bevorzugte Vermieten an Familienmitglieder, hilfsweise Bekannte und Studenten, sowie gelegentlich auch durch Vorurteile erschwert (vgl. Auskünfte des Auswärtigen Amtes vom 26. September 2018 an das VG Schwerin, S. 5, vom 11. Oktober 2017 an das VG Berlin, S. 5, und vom 22. August 2017 an das VG Hamburg, S. 5). Der Kläger wird bei einer Rückkehr zudem mit Schwierigkeiten bei der Finanzierung einer Wohnung konfrontiert werden. Das zum 01.01.2019 neu eingeführte soziale Wohngeld greift nur bei einem legalen Voraufenthalt von mindestens fünf Jahren in Griechenland (vgl Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 21.08.2020 an das VG Bayreuth, S. 1). Andere Sozialleistungen sind an eine Vielzahl von Unterlagen und Voraussetzungen geknüpft, so dass die überwiegende Mehrheit der internationalen Schutzberechtigten von der Gewährung des Mindesteinkommens de facto ausgeschlossen ist (ACCORD, Griechenland, a.a.O., S. 13). Auch die Aufnahme einer Arbeit stellt sich für den Kläger in Griechenland schwierig dar. Griechenland hatte im Jahr 2020 mit 16,3% eine der höchsten Arbeitslosenquoten weltweit (www.ilostat.ilo.org/topics/unemployment-and-labour-underutilization). Der Kläger spricht zudem nach eigenen Angaben kein Griechisch. Auch wenn der Kläger bei der Finanzierung einer Wohnung möglicherweise wie zuvor Unterstützung seiner im Ausland lebenden Verwandten erwarten könnte, wird die Wohnungssuche zusätzlich erschwert, da eine solche Fremdfinanzierung auch für den Vermieter zusätzliche Risiken birgt. Die finanzielle Unterstützung durch die Familie war für den Kläger zudem auch bereits bei seinem letzten Aufenthalt nicht ausreichend, so dass er in einem Camp übernachten wollte, in dem er jedoch keinen Platz bekam.
22
Dass es vereinzelt nicht zur Obdachlosigkeit kommt, weil es mithilfe von Nichtregierungsorganisationen oder Unterstützung anderer Flüchtlinge gelingt, eine Wohnung und eine Arbeit zu finden, steht diesem Ergebnis nicht entgegen. (Nds.OVG, Urt. v. 19.4.2021 - 10 LB 244/20 - juris, Rn. 50). Dem Kläger droht jedenfalls mit „beachtlicher Wahrscheinlichkeit“ eine Verletzung des Mindestinhalts seines Grundrechts gemäß Art. 4 GRC.
23
Die allgemeine Erklärung der griechischen Regierung vom 8. Januar 2018, die für rückkehrende Schutzberechtigte geltenden Regelungen einzuhalten, garantiert im Falle des Klägers auch keine Gewährung einer Unterkunft. Diese Erklärung bezieht sich allein auf die Feststellung, dass die RL 2011/95/EU in nationales Recht umgesetzt worden sei und darauf, dass eine richtlinienkonforme Behandlung der Rückkehrer, die internationalen Schutz genössen, zugesichert werde. Damit wird letztlich nur auf die Selbstverständlichkeit hingewiesen, dass in Griechenland geltendes Recht zur Anwendung kommt (OVG NRW, B.v. 30.01.2020 - 11 A 2480/19 - juris, Rn. 30).
24
Die Situation existenzieller Not trifft den Kläger auch unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen. Zwar hat sich der Kläger durch die Weiterreise in verschiedene EU-Staaten entgegen der Intention der Dublin III-Verordnung verhalten, die ihn treffende Notsituation ist dennoch nicht selbstgewählt/-verursacht. Die Schwierigkeiten bei der Wohnungs- und Arbeitssuche bestehen größtenteils unabhängig von seiner zwischenzeitlichen Ausreise. Auch der Bezug von Sozialleistungen knüpft nicht allein an eine bestimmte Mindestaufenthaltsdauer an, sondern erfordert darüber hinaus eine Steuernummer, eine Sozialversicherungsnummer, ein griechisches Bankkonto, eine aktuelle Steuererklärung, einen Einkommensnachweis für die letzten sechs Monate sowie einen Mietvertrag und eine Nebenkostenabrechnung für eine Wohnung, oder eine Bescheinigung der Obdachlosigkeit (vgl. ACCORD, Griechenland, a.a.O., S. 12, m.w.N.). Der Kläger hat auch bei seinem vorherigen Aufenthalt keine Sozialleistungen erhalten. Die maßgeblichen Verhältnisse in Griechenland haben sich zudem - unabhängig von den Handlungen des Klägers - verschlechtert (vgl. OVG NRW, U.v. 21.01.2021 - 11 A 1564/20.A - juris, Nds.OVG, Urt. v. 19.4.2021 - 10 LB 244/20 - juris).
25
1.3 Die unter Ziffer 2. des Bescheids getroffene Feststellung des Fehlens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist verfrüht ergangen, weil das Bundesamt nach Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung verpflichtet ist, den Asylantrag des Klägers materiell zu prüfen und sodann über Abschiebungsverbote zu entscheiden. Die auf § 35 AsylG gestützte Abschiebungsandrohung in Ziffer 3. Sätze 1 bis 3 des angefochtenen Bescheids ist rechtswidrig, weil der Asylantrag des Klägers nicht gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt werden durfte. Infolgedessen entfällt auch die Grundlage für die Anordnung des auf § 11 Abs. 1 AufenthG gestützten Einreise- und Aufenthaltsverbots in Ziffer 4. des Bescheids.
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1.4 Da der Hauptantrag in vollem Umfang Erfolg hat, war über den Hilfsantrag nicht zu entscheiden.
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei (§ 83b AsylG). Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V. m. §§ 708 ff. ZPO.