Titel:
Begriff des „langjährig inhaftierten Gefangenen“ bei der Gewährung von Ausführung zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit
Normenketten:
BayStVollzG Art. 13 Abs. 1 Nr. 2
StVollzG § 116
Leitsätze:
1. Im Fall langjähriger Inhaftierung ist im Sinne einer unwiderlegbaren Vermutung davon auszugehen, dass stets Einschränkungen der Lebenstüchtigkeit drohen mit einem daraus folgenden Anspruch auf die Gewährung von Ausführungen (im Anschluss an OLG Hamm BeckRS 2020, 37708). (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
2. Mangels Vorliegen gegenteiliger wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Frage des Zeitpunktes regelmäßigen Drohens von Einschränkungen der Lebenstüchtigkeit bei einem zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Gefangenen sind unter Berücksichtigung des Resozialisierungsgebotes Ausführungen zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit bereits nach der Vollstreckung von vier Jahren Freiheitsstrafe zu gewähren (im Anschluss an OLG Hamm BeckRS 2020, 37708). (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Rechtsbeschwerde, Strafvollzug, lebenslange Freiheitsstrafe, langjährige Inhaftierung, Ausführungen, Erhalt der Lebenstüchtigkeit, Vermeidung von Haftschäden
Fundstelle:
BeckRS 2021, 54653
Tenor
1. Dem Strafgefangenen R… B… wird, ohne hierfür Kosten zu erheben, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Versäumung der Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg bei dem Amtsgericht Straubing vom 2. Juli 2021 gewährt.
2. Dem Strafgefangenen R… B… wird für das Rechtsbeschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt.
3. Auf die Rechtsbeschwerde des Strafgefangenen R… B… werden der Beschluss der auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg bei dem Amtsgericht Straubing vom 2. Juli 2021 und der Bescheid der Justizvollzugsanstalt Straubing vom 15. Juni 2020 aufgehoben.
4. Die Justizvollzugsanstalt Straubing wird verpflichtet, den Beschwerdeführer unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu verbescheiden.
5. Die Kosten des Verfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers trägt die Staatskasse.
6. Der Wert des Beschwerdeverfahrens wird auf 500,00 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Der Beschwerdeführer befindet sich seit 16.11.201… in Haft, seit 22.11.201… in der Justizvollzugsanstalt Straubing. Er verbüßt aktuell eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen Mordes gemäß Urteil des Landgerichts München I vom 2.11.2017, in dem die besondere Schwere der Schuld festgestellt worden ist. Die Mindestverbüßungsdauer ist noch nicht festgestellt worden. 15 Jahre der Freiheitsstrafe werden am 7.11.203… verbüßt sein.
2
Am 25.5.2020 hat der Beschwerdeführer die erstmalige Ausführung zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit im Jahr 2020 beantragt. Die Justizvollzugsanstalt Straubing hat diesen Antrag mit Bescheid vom 15.6.2020 abgelehnt. Dabei ist sie davon ausgegangen, dass der Ausführung zwar keine Flucht- und / oder Missbrauchsbefürchtungen entgegenstehen, denen nicht mit entsprechenden Maßnahmen begegnet werden könnten. Sie hat aber aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geschlossen, dass bei Gefangenen mit einer Haftdauer von erst wenigen Jahren bis zu einem gewissen Zeitpunkt der Erhalt der Lebenstüchtigkeit auch mit anderen Maßnahmen als Ausführung erreicht werden könne. Das sei bei dem seit dreieinhalb Jahren inhaftierten Beschwerdeführer der Fall, weil er über stabile soziale Kontakte zu seinen in Niedersachsen lebenden Angehörigen und Bekannten pflege und in der Vollzugsanstalt die angebotenen Freizeitangebote wahrnehme. Derzeit seien bei ihm auch keine tatsächlich eingetretenen Haftschäden feststellbar.
3
Gegen den Bescheid vom 15.6.2020 hat der Beschwerdeführer zur Niederschrift des Amtsgerichts Straubing vom 1.7.2020 Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach §§ 109 ff. StVollzG gestellt mit dem Ziel, die Justizvollzugsanstalt Straubing zu verpflichten, gemäß seinem Antrag vom 25.5.2020 zu entscheiden. Mit Schreiben vom 9.9.2020 hat er die bei der auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg bei dem Amtsgericht Straubing zuständige Richterin am Amtsgericht Gr… wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Diese hat hierzu am 11.9.2020 eine dienstliche Stellungnahme abgegeben. Diese Stellungnahme ist von der Strafvollstreckungskammer erst mit Verfügung vom 11.5.2021 an den Beschwerdeführer und die Justizvollzugsanstalt Straubing zur weiteren Stellungnahme übersandt worden. In dem dazwischen liegenden Zeitraum ist das Verfahren von der Strafvollstreckungskammer nicht bearbeitet worden.
4
Nachdem die Strafvollstreckungskammer durch Richter am Amtsgericht Dr. G… mit Beschluss vom 29.6.2021 den Ablehnungsantrag des Beschwerdeführers vom 9.9.2020 zurückgewiesen hatte, hat die Strafvollstreckungskammer durch Richterin am Amtsgericht Gr… Beschluss vom 2.7.2021 den Antrag des Beschwerdeführers auf gerichtliche Entscheidung vom 1.7.2020 als unbegründet zurückgewiesen. Die Ermessensentscheidung der Vollzugsanstalt sei fehlerfrei. Zu Recht habe sie hierbei geprüft, ob bei dem erst seit dreieinhalb Jahren inhaftierten Beschwerdeführer Anzeichen von eingetretenen Haftschäden erkennbar seien und ob der Erhalt seiner Lebenstüchtigkeit noch auf andere Art und Weise als durch Ausführung gewährleistet werden könne. Das sei aufgrund seiner stabilen sozialen Kontakte zu Angehörigen und Bekannten sowie der Teilnahme an der Bastelgruppe und der Möglichkeit zur Nutzung weiterer Freizeitangebote in der Anstalt der Fall. Es sei deshalb nicht zu beanstanden, dass die Justizvollzugsanstalt pauschal die Ablehnung der Ausführung darauf gestützt habe, dass derzeit keine Haftschäden feststellbar seien.
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Der Beschluss vom 2.7.2021 ist dem Beschwerdeführer am 6.7.2021 zugestellt worden. Zur Niederschrift des Amtsgerichts Straubing vom 18.8.2021 beantragt der Beschwerdeführer bezüglich des Beschlusses vom 2.7.2021 für die Rechtsbeschwerdeinstanz die Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung eines Rechtsanwalts seiner Wahl sowie die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand für den Fall der Fristversäumnis. Diesem Protokoll beigefügt ist eine ebenfalls von dem Urkundsbeamten des Amtsgerichts Straubing unterzeichnete Niederschrift vom 18.8.2021 über die Einlegung der Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss vom 2.7.2021. Dieser zweiten Niederschrift ist beigefügt eine vom Beschwerdeführer erstellte Anlage mit einer Begründung für den Prozesskostenhilfeantrag und für den „Rechtsbeschwerdeentwurf“. Laut Vermerk des Urkundsbeamten in der zweiten Niederschrift wird diese Anlage ausdrücklich zum Gegenstand des Protokolls gemacht, da „sie“ [die Begründung] „möglicherweise nicht gänzlich abwegig erscheint“. Gemäß Ziffer 3. der in der ersten Niederschrift vom 18.8.2021 gestellten Anträge wird die „anliegende“ Rechtsbeschwerde – gemäß dem „Antragsentwurf“ – nur für den Fall der Prozesskostenhilfebewilligung gestellt.
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Im Rahmen der – bedingt erhobenen – Rechtsbeschwerde beantragt der Beschwerdeführer die Aufhebung des Beschlusses der Strafvollstreckungskammer vom 2.7.2021 und Entscheidung gemäß seinem Antrag auf gerichtliche Entscheidung, hilfsweise die Zurückverweisung an die Strafvollstreckungskammer zur erneuten Entscheidung. Er rügt die Verletzung des formellen und materiellen Rechts. Zugleich beantragt er die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde. Insoweit hat der Urkundsbeamte in den beiden Niederschriften vom 18.8.2021 vermerkt, dass er vom Beschwerdeführer über die Justizvollzugsanstalt Straubing unter Hinweis auf den Fristablauf mit Fax vom 4.8.2021, eingegangen beim Amtsgericht Straubing an diesem Tag, zur Protokollierung des Rechtsmittels / Antrags angefordert worden sei, es ihm aus dienstlichen Gründen aber nicht möglich gewesen sei, den Beschwerdeführer früher auszusuchen.
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Die Generalstaatsanwaltschaft München beantragt mit Antragsschrift vom 26.8.2021, dem Beschwerdeführer wegen der Versäumung der Rechtsmittelfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren und die Rechtsbeschwerde sowie den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe als unzulässig (§ 116 Abs. 1 StVollzG) kostenfällig unter Festsetzung eines Geschäftswerts für das Rechtsbeschwerdeverfahren von 500,00 EUR zu verwerfen.
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Der Beschwerdeführer hat mit Schreiben vom 16.9.2021 ergänzend Stellung genommen.
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Dem Antragsteller war antragsgemäß gemäß Art. 208 BayStVollzG, § 120 Abs. 1 S. 2 StVollzG, § 44 s. 1, § 45, § 46 Abs. 1 StPO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Versäumung der Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde zu gewähren, da er die Frist trotz rechtzeitiger Stellung des Antrags zur Protokollierung des Prozesskostenhilfeantrags und der bedingten Rechtsbeschwerde wegen der ihm nicht zurechenbaren Verspätung des fristgemäß angeforderten Urkundsbeamten unverschuldet versäumt hat. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist gemäß Art. 208 BayStVollzG, § 120 Abs. 1 S. 2 StVollzG, § 45 Abs. 1 S. 1 StPO fristgerecht gestellt worden. Die versäumte Handlung ist gemäß Art. 208 BayStVollzG, § 120 Abs. 1 S. 2 StVollzG, § 45 Abs. 2 S. 2 StPO durch den gestellten Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe, verbunden mit der bedingt für den Fall der Bewilligung erhobenen Rechtsbeschwerde, fristgerecht nachgeholt worden (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 20.12.2000 – 2 BvR 668/00, juris Rn. 15).
10
Dem mittellosen Beschwerdeführer ist gemäß Art. 208 BayStVollzG, § 120 Abs. 2 StVollzG, §§ 114, 115, 119 Abs. 1 ZPO für das Rechtsbeschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung zu bewilligen, da die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint (vgl. Ziffern IV. und V.).
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Die Beiordnung eines Rechtsanwalts ist nicht erforderlich, da die Rechtsbeschwerde Erfolg hat und die Staatskasse die Kosten des Verfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers zu tragen hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.12.1982 – 2 BvR 434/82, juris Rn. 22; Beschluss vom 15.5.2002 – 2 BvR 2292/00, juris Rn. 35; Stattgebender Kammerbeschluss vom 22.9.2017 – 2 BvR 455/17, juris Rn. 38). Der Ausspruch über die Bewilligung der Prozesskostenhilfe ist dennoch erforderlich, weil erst damit die Bedingung für die Erhebung der Rechtsbeschwerde eintritt.
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Die nach der gewährten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Einlegungsfrist form- und fristgerecht eingelegte Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg bei dem Amtsgericht Straubing vom 2.7.2021 ist gemäß Art. 208 BayStVollzG i.V.m. §§ 116 Abs. 1, 118 Abs. 1, 2 und 3 StVollzG zulässig.
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Der Beschwerdeführer konnte die Rechtsbeschwerde bedingt für den Fall der Bewilligung der beantragten Prozesskostenhilfe einlegen (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 8.3.2016 – 2 Ws 31/16, juris Rn. 13; vgl. auch Laubenthal in: Schwind / Böhm / Jehle / Laubenthal, Strafvollzugsgesetze Bund und Länder, 7. Auflage 2021, 12. Kap., Abschnitt O, § 120 StVollzG Rn. 13). Mit der Bewilligung der Prozesskostenhilfe ist die innerprozessuale Bedingung für die Erhebung der Rechtsbeschwerde eingetreten, sodass nunmehr über diese zu entscheiden ist.
14
Es erscheint insbesondere unter Berücksichtigung des hier relevanten Grundrechts des Beschwerdeführers auf Resozialisierung gemäß Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG und des daraus folgenden grundrechtlichen Gebotes, einem Verlust seiner Lebenstüchtigkeit nach Möglichkeit frühzeitig entgegenzuwirken beziehungsweise seine Lebenstüchtigkeit zu festigen, notwendig, die Nachprüfung der angefochtenen Entscheidung zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen (Art. 208 BayStVollzG i.V.m. § 116 Abs. 1 2. Alt. StVollzG). Die Strafvollstreckungskammer weicht mit ihrer Entscheidung von der bestehenden verfassungs- und obergerichtlichen Rechtsprechung ab, indem sie bei der Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Ablehnung der beantragten Ausführung zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit einen falschen Prüfungsmaßstab anlegt.
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Die Rechtsbeschwerde ist mit der Sachrüge begründet, weil die Strafvollstreckungskammer die Entscheidung der Justizvollzugsanstalt Straubing vom 15.6.2020 trotz fehlerhafter Ermessensausübung auf der Grundlage eines falschen Prüfungsmaßstabs rechtsfehlerhaft als rechtmäßig bestätigt hat. Dies führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung vom 2.7.2021 sowie des Bescheids der Justizvollzugsanstalt Straubing vom 15.6.2020 und zur Verpflichtung der Justizvollzugsanstalt Straubing zur erneuten Verbescheidung des Beschwerdeführers.
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1. Das vorliegende Verfahren ist durch die Besonderheit geprägt, dass der zugrunde liegende Antrag des Beschwerdeführers vom 25.5.2020 stammt und die ablehnende Entscheidung der Justizvollzugsanstalt Straubing am 15.6.2020 ergangen ist, die Strafvollstreckungskammer über den Antrag auf gerichtliche Entscheidung aber erst am 2.7.2021 entschieden hat, nachdem sie das Verfahren im Zeitraum vom 11.9.2020 jedenfalls bis 11.5.2021 nicht betrieben hat. Dieser lange Zeitraum zwischen der Entscheidung der Vollzugsbehörde und der gerichtlichen Entscheidung hat folgende Auswirkungen:
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a) Auch wenn der Beschwerdeführer in seinem mit der Rechtsbeschwerde gestellten Antrag seinen ursprünglichen Antrag vom 25.5.2020 in Bezug nimmt, mit dem er eine Ausführung zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit im Jahr 2020 begehrt, muss sein Antrag nunmehr zu seinen Gunsten dahin ausgelegt werden, dass es ihm darum geht, überhaupt eine solche Vollzugslockerung zu erhalten, ohne dass es ihm auf einen bestimmten Zeitpunkt ankommt. Es würde seinen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz unzulässig verkürzen, ihn wegen Ablaufs des Jahres 2020 trotz der in diesem Jahr nicht erfolgten Entscheidung der Strafvollstreckungskammer auf einen Feststellungsantrag oder eine neue Antragstellung zu verweisen.
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b) Aufgrund des langen Zeitablaufs zwischen dem Bescheid der Justizvollzugsanstalt Straubing vom 15.6.2020 und dem Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 2.7.2021 ist es jedenfalls in dieser Konstellation geboten, die Begründetheit des Verpflichtungsbegehrens des Beschwerdeführers nach den Umständen zur Zeit der gerichtlichen Entscheidung der Strafvollstreckungskammer zu beurteilen, auch wenn, wie hier nach Art. 13 Abs. 2 BayStVollzG, der Vollzugsbehörde grundsätzlich ein Ermessensspielraum eingeräumt ist (OLG Nürnberg, Beschluss vom 17.2.2000 – Ws 45/00, juris Rn. 15, 18 – 20; Harrendorf / Ullenbruch in: Schwind / Böhm / Jehle / Laubenthal, Strafvollzugsgesetze Bund und Länder, 7. Auflage 2021, 10. Kap., Abschnitt C, Rn. 55). Die Strafvollstreckungskammer hat jedoch fehlerhaft auf den Zeitpunkt der Entscheidung der Justizvollzugsanstalt abgestellt.
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2. Die Justizvollzugsanstalt Straubing ist – Stand 15.6.2020 – davon ausgegangen, dass bei dem Beschwerdeführer etwaigen Flucht- und Missbrauchsbefürchtungen mit entsprechenden Maßnahmen begegnet werden könnte. Da somit kein zwingender Versagungsgrund nach Abs. 2 BayStVollzG vorlag, stand die Entscheidung über die Gewährung der beantragten Ausführung grundsätzlich im Ermessen der Vollzugsbehörde, das nur eingeschränkt gerichtlich überprüfbar ist (§ 115 Abs. 5 StVollzG; BeckOK Strafvollzugsrecht Bayern, Arloth, 15. Ed., Stand: 01.07.2021, BayStVollzG Rn. 11 m.w.N.).
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3. Für die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Entscheidung der Vollzugsanstalt über die Ablehnung der beantragten Ausführung legt die Strafvollstreckungskammer rechtsfehlerhaft den falschen Prüfungsmaßstab an. Für sie ist maßgeblich, dass bei dem Beschwerdeführer „derzeit keine Haftschäden feststellbar“ seien. Mit diesem Prüfungsmaßstab verfehlt sie den Sinn des grundrechtlichen Gebots, einem Verlust der Lebenstüchtigkeit des Beschwerdeführers nach Möglichkeit entgegenzuwirken beziehungsweise dessen Lebenstüchtigkeit zu festigen.
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a) Das Bundesverfassungsgericht hat zu Ausführungen von Strafgefangenen folgende Vorgaben gemacht, insbesondere auch bei Strafgefangenen, die eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßen (Stattgebende Kammerbeschlüsse vom 17.9.2019 – 2 BvR 650/19, juris Rn. 18, 19, 21; vom 18.9.2019 – 2 BvR 681/19, juris Rn. 17, 25; vom 18.9.2019 – 2 BvR 1165/19, juris Rn. 16, 18, 23, 26, jeweils m.w.N.):
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Der grundrechtliche Resozialisierungsanspruch (Art 2 Abs 1 i.V.m Art 1 Abs 1 GG) gebietet, den Strafvollzug auf das Ziel auszurichten, den Inhaftierten nicht nur vor dem drohenden Verlust von für das Leben in Haft bedeutsamen Fähigkeiten zu bewahren, sondern ihm gerade auch seine Tüchtigkeit für ein zukünftiges straffreies Leben in Freiheit zu erhalten. Der Gefangene soll so lebenstüchtig bleiben, dass er sich im Falle einer Entlassung aus der Haft im normalen Leben wieder zurechtfindet. Besonders bei langjährig im Vollzug befindlichen Personen erfordert dies, aktiv den schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzugs entgegenzuwirken und ihre Lebenstüchtigkeit zu erhalten und zu festigen.
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Gerade bei Gefangenen, die die Voraussetzungen für vollzugslockernde Maßnahmen im eigentlichen Sinne noch nicht erfüllen, dienen Ausführungen dem Erhalt und der Festigung der Lebensfähigkeit und -tüchtigkeit. Bei langjährig Inhaftierten kann es daher, selbst wenn noch keine konkrete Entlassungsperspektive besteht, jedenfalls geboten sein, zumindest Lockerungen in Gestalt von Ausführungen dadurch zu ermöglichen, dass die Justizvollzugsanstalt einer von ihr angenommenen Flucht- oder Missbrauchsgefahr durch geeignete Sicherheitsvorkehrungen entgegenwirkt.
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Die Justizvollzugsanstalten und Fachgerichte verfehlen diese Anforderungen, wenn sie annehmen, dass Ausführungen erst dann zu gewähren seien, wenn der Gefangene Anzeichen einer drohenden oder bereits bestehenden haftbedingten Depravation aufweist, die sich bereits als Einschränkung seiner Lebenstüchtigkeit unter den Verhältnissen der Haft bemerkbar macht.
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Auch wenn ein langjährig inhaftierter Strafgefangener keine Anzeichen (drohender) haftbedingter Depravationen und keine Einschränkungen in lebenspraktischen Fähigkeiten unter den Bedingungen der Haft zeigt, folgt aus dem Resozialisierungsgrundrecht, dass ihm Ausführungen zu gewähren sind, es sei denn, einer konkret und durch aktuelle Tatsachen belegten Missbrauchs- oder Fluchtgefahr kann nicht ausreichend begegnet werden.
26
b) Angesichts dieser verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung, wonach Ausführungen zur Erhaltung der Lebenstüchtigkeit „zu gewähren sind“, sind die Vollzugsanstalten verpflichtet, im Hinblick auf das Grundrecht der Gefangenen auf Resozialisierung schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzuges frühzeitig im Rahmen des Möglichen zu begegnen und die Lebenstüchtigkeit zu erhalten und zu festigen (OLG Hamm, Beschluss vom 9.1.2020 – 1 Vollz (Ws) 582+583/19, juris Rn. 22). Nach diesen Maßgaben ist davon auszugehen, dass für die Entscheidung über die insbesondere langjährig inhaftierten Strafgefangenen zu gewährenden Ausführungen zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit gesonderte Feststellungen zu etwaigen konkreten Anzeichen eines tatsächlichen Drohens etwaiger Einschränkungen der Lebenstüchtigkeit bzw. zu bereits bestehenden haftbedingten Depravationen einerseits nicht erforderlich und andererseits aber auch hinsichtlich eines etwaigen Ausschlusses entsprechender Gefahren letztlich nicht zulässig sind. Nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ist im Sinne einer unwiderlegbaren Vermutung davon auszugehen, dass im Fall langjähriger Inhaftierung letztlich stets Einschränkungen der Lebenstüchtigkeit drohen, mit einem daraus folgenden Anspruch auf die Gewährung von Ausführungen, soweit etwaigen Flucht- und Missbrauchsbefürchtungen mit entsprechenden Maßnahmen begegnet werden kann (zum Ganzen OLG Hamm, Beschluss vom 4.11.2020 – III-1 Vollz (Ws) 258/20, juris Rn. 13).
27
c) Die Strafvollstreckungskammer und auch die Justizvollzugsanstalt sind im vorliegenden Fall mit dem bei ihren Entscheidungen jeweils zugrunde gelegten Prüfungsmaßstäben unzutreffend nicht davon ausgegangen, dass sich das Recht des Beschwerdeführers als langjährig inhaftierter Strafgefangener auf Ausführung zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit allein aus seinem Resozialisierungsrecht herleitet, ohne dass es zusätzlich weiterer konkreter anspruchsbegründender Voraussetzungen bedarf. Aufgrund der dargestellten verfassungs- und obergerichtlichen Rechtsprechung sind die von der Justizvollzugsanstalt für ihre Ablehnung genannten Umstände (stabiles soziales Umfeld, Wahrnehmung des Freizeitangebotes in der Anstalt), deren Heranziehung die Strafvollstreckungskammer rechtsfehlerhaft als ermessensfehlerfrei ansieht, keine geeigneten Prüfungsmaßstäbe für die Entscheidung über den vorliegenden Antrag auf Ausführung. Derartige Umstände, die das Leben des Beschwerdeführers in der Haft prägen, haben nur eingeschränkt Bezug zu den allgemeinen Lebensverhältnissen außerhalb der Haftanstalt. Deren immer schneller fortschreitende Veränderungen können von dem Beschwerdeführer nur unzureichend über Brief- und Telefonkontakte sowie Freizeitgruppen in der Haftanstalt wahrgenommen und verarbeitet werden, sondern bedürfen einer qualitativ anders gearteten Ergänzung im Rahmen von Ausführungen.
28
d) Eine nähere Definition, ab welcher Haftdauer ein Strafgefangener als „langjährig inhaftiert“ anzusehen ist und ihm mithin letztlich ohne weitere Vorbedingungen aus Resozialisierungsgründen Ausführungen zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit zu gewähren sind, hat das Bundesverfassungsgericht nicht vorgenommen. Generalpräventive Gesichtspunkte stehen grundsätzlich einer Gewährung von Lockerungen zu Beginn des Vollzugs entgegen. Daraus resultierende Bedenken nehmen aber mit längerer Vollzugsdauer ab, während das Resozialisierungsinteresse zunimmt, da mit fortschreitender Haftdauer zu besorgen ist, dass die schädlichen Auswirkungen der Freiheitsentziehung fortlaufend zunehmen (OLG Hamm, Beschluss vom 4.11.2020 – III-1 Vollz (Ws) 258/20, juris Rn. 23; BeckOK Strafvollzugsrecht Bayern, Arloth, 15. Ed., Stand: 01.07.2021, BayStVollzG Rn. 12). Die objektive Länge der zu verbüßenden Strafe und das damit einhergehende zunehmende Ausmaß der Veränderung der allgemeinen Lebensverhältnisse wird die Gefahr haftbedingter Anpassungsschwierigkeiten im Fall der Entlassung im gleichen Umfang ansteigen lassen. Zudem ist gerade bei Strafgefangenen, die sehr lange Haftstrafen zu verbüßen haben, schon in Anbetracht des in weiter Ferne liegenden eventuellen Entlassungszeitpunktes in erhöhtem Maß zu besorgen, dass eine subjektiv empfundene Perspektivlosigkeit schon frühzeitige Hospitalisierungstendenzen begünstigt, welche auch unabhängig vom Wandel der allgemeinen Lebensverhältnisse die Lebenstüchtigkeit des Gefangenen zusätzlich herabsetzen (OLG Hamm, Beschluss vom 4.11.2020 – III-1 Vollz (Ws) 258/20, juris Rn. 15).
29
In Anbetracht des gebotenen Ausschlusses drohender Einschränkungen der Lebenstüchtigkeit ist der Zeitpunkt für die Notwendigkeit von Ausführungen nicht danach zu bemessen, nach welchen Haftzeiten regelmäßig entsprechende Auffälligkeiten zu beobachten sein können, sondern so kurz anzusetzen, dass auch im Rahmen der anzunehmenden bzw. erwartbaren unterschiedlichen Zeitspannen bis zum Eintreten eventueller haftbedingter Einschränkungen der Strafgefangenen schon die Gefahr entsprechender Schädigungen ausgeschlossen werden kann (OLG Hamm, Beschluss vom 4.11.2020 – III-1 Vollz (Ws) 258/20, juris Rn. 16).
30
In diesem Zusammenhang muss vorliegend berücksichtigt werden, dass der Beschwerdeführer zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt ist und mithin insgesamt zumindest 15 Jahre Freiheitsstrafe mit auch danach nicht gesicherter Entlassungsperspektive zu verbüßen haben wird, wodurch sich die potentielle Gefahr tatsächlich eintretender Einschränkungen der Lebenstüchtigkeit im Verhältnis zu längeren zeitigen Freiheitsstrafen deutlich erhöht. Daher werden mangels Vorliegen gegenteiliger wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Frage des Zeitpunktes regelmäßigen Drohens von Einschränkungen der Lebenstüchtigkeit bei einem zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Strafgefangenen unter Berücksichtigung des Resozialisierungsgebotes und der hierzu ergangenen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung in der obergerichtlichen Rechtsprechung Ausführungen zum Erhalt der Lebenstüchtigkeit bereits nach der Vollstreckung von vier Jahren Freiheitsstrafe für erforderlich gehalten (OLG Hamm, Beschluss vom 4.11.2020 – III-1 Vollz (Ws) 258/20, juris Rn. 23). Dieser Ansicht schließt sich der Senat an.
31
e) Dieser verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstab gewinnt hier besondere Bedeutung. Denn nach den im vorliegenden Fall maßgeblichen Umständen zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses vom 2.7.2021 befand sich der Beschwerdeführer zu dieser Zeit bereits seit mehr als viereinhalb Jahren in Haft, was von der Strafvollstreckungskammer bei ihrer Entscheidung nicht berücksichtigt worden ist. Hätte sie diesen Umstand berücksichtigt, hätte sie den Bescheid der Justizvollzugsanstalt aufheben und diese anweisen müssen, über den Antrag des Beschwerdeführers unter Berücksichtigung der dargestellten verfassungs- und obergerichtlichen Rechtsprechung neu zu entscheiden.
32
4. Aufgrund der festgestellten Rechtsfehler hebt der Senat nicht nur den angefochtenen Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 2.7.2021, sondern auch den Ablehnungsbescheid der Justizvollzugsanstalt vom 15.6.2020 auf und verpflichtet sie, über den Antrag des Beschwerdeführers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu – auf aktueller Tatsachengrundlage – zu entscheiden (Art. 208 BayStVollzG i.V.m. § 119 Abs. 4 Satz 1 und 2 StVollzG).
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1. Die Kosten- und Auslagenentscheidung beruht auf Art. 208 BayStVollzG i.V.m. § 121 Abs. 1 und 4 StVollzG, § 467 Abs. 1 StPO.
34
2. Die Festsetzung des Geschäftswerts für das Rechtsbeschwerdeverfahren beruht auf § 1 Abs. 1 Nr. 8, §§ 60, 65, 52 Abs. 1 GKG.