Inhalt

Vergabekammer Ansbach, Beschluss v. 05.08.2021 – RMF-SG21-3194-6-20
Titel:

Nur schwerwiegende Vergabefehler sind bei Verstoß gegen die Rügeobliegenheit von Amts wegen zu berücksichtigen; Ausschluss wegen Veränderung der Vergabeunterlagen

Normenketten:
VgV § 57 Abs. 1 Nr. 4
GWB § 97 Abs. 6, § 160 Abs. 3
BGB § 133, § 157
Leitsätze:
1. Ein Bieter ist, wenn die Aufhebung der Ausschreibung in Betracht kommt, auch dann antragsbefugt, wenn auch sein Angebot an einem Ausschlussgrund leidet. (Rn. 66) (redaktioneller Leitsatz)
2. Vergaberechtsfehler dürfen nur dann ausnahmsweise von Amts wegen berücksichtigt werden, wenn ein so schwerwiegender Fehler vorliegt, dass eine tragfähige Zuschlagsentscheidung bei einer Fortsetzung des Verfahrens praktisch nicht möglich ist. Der Wechsel vom Teilnahmewettbewerb zum Wettbewerblichen Dialog nach Durchführung des Teilnahmewettbewerbs stellt keinen solch schwerwiegenden Fehler dar. (Rn. 69 – 70) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ob eine unzulässige Änderung der Vergabeunterlagen durch das Angebot im Einzelfall vorliegt, ist anhand einer Auslegung in entsprechender Anwendung der §§ 133, 157 BGB sowohl der Vergabeunterlagen als auch des Angebots nach dem jeweiligen objektiven Empfängerhorizont festzustellen. Abzustellen ist auf die objektive Sicht eines verständigen und fachkundigen Bieters, der mit der Erbringung der ausgeschriebenen Leistung vertraut ist. (Rn. 75) (redaktioneller Leitsatz)
4. Die Erklärung des Bieters in den Angebotsunterlagen „die nachfolgenden Konzepte beschreiben unsere Überlegungen im Einzelnen und sind als Ergänzung und Erläuterung zu den vertraglichen Vorgaben, welche immer vorgehen, zu verstehen“, führt nicht dazu, dass eindeutig von den Vorgaben in den Ausschreibungsunterlagen abweichende, konkrete Angaben unberücksichtigt bleiben. (Rn. 88) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Rüge, Präklusion, Ausschluss, Aufhebung, Teilnahmewettbewerb, wirtschaftlicher Dialog, Antragsbefugnis, Auslegung, salvatorische Klausel, Empfängerhorizont
Fundstellen:
LSK 2021, 54594
BeckRS 2021, 54594
ZfBR 2022, 511

Tenor

1. Es wird festgestellt, dass die Antragstellerin in ihren Rechten verletzt ist. Bei fortbestehender Beschaffungsabsicht hat die Vergabestelle das Vergabeverfahren in den Stand vor Abgabe der endgültigen Angebote zurückzuversetzen.
2. Die Vergabestelle und die Beigeladene tragen die Kosten des Verfahrens und die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen der Antragstellerin als Gesamtschuldner je zur Hälfte.
3. Die Hinzuziehung eines anwaltlichen Bevollmächtigten durch die Antragstellerin wird für notwendig erklärt.
4. Die Kosten des Verfahrens werden auf …,- € festgesetzt.

Tatbestand

1
1. Die VSt hat mit Bekanntmachung vom … die „Reparatur und Wartung von medizinischen Geräten und Präzisionsgeräten“ im Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb europaweit ausgeschrieben. Hierbei wurde eine Technologiepartnerschaft angestrebt, die die Bereitstellung von Medizinprodukten und die Bewirtschaftung von medizinischen Geräten für Kliniken der VSt umfasst. Die externe Firma … betreute das Vergabeverfahren im Auftrag der VSt als Fachberaterin.
2
Die Bewerbungsbedingungen in den Vergabeunterlagen enthalten u.a. folgenden Inhalt:
4.4 Formale Angebotsprüfung
Der Auftraggeber prüft die vorliegenden Angebote zunächst auf die Einhaltung der in diesen Bewerbungsbedingungen festgelegten formalen und inhaltlichen Anforderungen gem. § 56 Abs. 1 VgV. Dabei wird er die Vollständigkeit und Richtigkeit der Angebote verifizieren und gegebenenfalls Angebote gem. § 57 Abs. 1 VgV ausschließen.
(a) Ausschluss von Angeboten
Ausgeschlossen werden finale Angebote:
Angebote, die nicht form- oder fristgerecht eingegangen sind, es sei denn, der Bieter hat dies nicht zu vertreten (s. dazu auch Ziffer 8.3),
Angebote, die nicht die geforderten oder nachgeforderten Unterlagen enthalten,
Angebote, in denen Änderungen des Bieters an seinen Eintragungen nicht zweifelsfrei sind,
Angebote, in denen Änderungen oder Ergänzungen an den Vergabeunterlagen vorgenommen worden sind,
(c) Erfüllung Mindestanforderungen
Die Unterlagen enthalten zwingend zu erfüllende Mindestanforderungen an die Leistung, deren Einhaltung der Auftraggeber insbesondere im Hinblick auf das finale Angebot prüft. Mindestanforderungen werden in den Vergabeunterlagen mit „muss“, „hat“, „ist zu“ oder vergleichbaren Formulierungen beschrieben. Werden diese Mindestanforderungen mit dem finalen Angebot nicht eingehalten, wird das Angebot ausgeschlossen.
3
Der Projektvertrag beinhaltet auf Seite 40 in Punkt 3.2.13 (Optimierung & Innovation) u.a. folgenden Inhalt:
Es gehört zu den Leistungen des ANs, jährlich Optimierungsprojekte durchzuführen, d.h. Optimierungsmöglichkeiten während der gesamten Vertragslaufzeit zu identifizieren und nach Abstimmung mit dem AG diese umzusetzen. Bei allen Optimierungsmöglichkeiten ist das medizinische Konzept des AG einzuhalten. Die Leistung ist mit der Vergütung abgegolten.
4
Der Projektvertrag beinhaltet auf Seite 37 (Schulungen) in Punkt 3.2.12.1 u.a. folgenden Inhalt:
Der Schulungsplan für das Folgejahr ist mit dem AG bis zum 30. November eines jeden Jahres abzustimmen und vorzulegen. Insbesondere Schulungen, die zu einer bestimmten Zeit ablaufen, müssen (live-Online oder Präsenz) sind auch hinsichtlich der Zeiten mit dem AG abzustimmen.
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2. Nach Durchführung des Teilnahmewettbewerbs und nach Aufforderung zum indikativen Angebot entschied sich die VSt vom Verhandlungsverfahren gem. § 17 VgV in einen Wettbewerblichen Dialog nach § 18 VgV zu wechseln. Laut Vergabedokumentation (S. 7) sei dies bedingt durch eine veränderte Vertragssystematik. Der zur Verfügung gestellte Werkvertrag als Entwurf habe nicht alle anvisierten Leistungen abgedeckt und es solle das Know how des Bietermarktes bei der Erstellung des Vertragswerkes mit einfließen.
6
Alle Bieter wurden durch die VSt über dieses Vorhaben über angepasste Bewerbungsbedingungen informiert (S. 4: „Das gewählte Verfahren dieser Ausschreibung ist ein Verhandlungsverfahren. Der Auftraggeber weist die Bieter darauf hin, dass das Verfahren in Form eines wettbewerblichen Dialogs durchgeführt wird. Ist der Bieter mit dieser Veränderung nicht einverstanden, hat der Bieter dies schriftlich bis zum … über die Kommunikationsfunktion auf der Vergabeplattform (…) bekannt zu geben“). Kein Bewerber hat hiergegen eine Rüge erhoben. Laut Vergabedokumentation (S. 7) erfolgte der Wechsel der Verfahrensart zum …. Die formale Bekanntmachung erfolgte am ….
7
Nach Durchführung der ersten Dialogphase verblieben als Bieter die ASt und die BGI, die nach Durchführung der zweiten und dritten Dialogphase ihre finalen Angebote abgaben.
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3. Das Angebot der BGI beinhalt auf Seite 286 (Optimierungskonzept) u.a. folgenden Inhalt:
Da wir davon überzeugt sind, dass wir mit unseren Beratungsansätze Effizienzen/Potentiale bei …eben können, stellen wir diese Beratungsleistungen im Rahmen eines … zur Verfügung. Dieser Ansatz sieht … vor. ….
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Das Angebot der ASt beinhalt auf Seite 209 (Schulungskonzept) u.a. folgenden Inhalt:
Eine Übersicht über das Angebot an Weiterbildungen und eLearning Modulen teilt der … zusammen mit dem … mit der schulungsverantwortlichen Person der … zu Beginn des Jahres im Rahmen der Erstellung des Schulungsplans. Sollten sich im laufe eines Jahres Änderungen ergeben, teilt … diese der … mit.
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4. Die VSt hat sich die Prüfungsergebnisse der Fachberaterin … zu eigen gemacht (vgl. Vergabedokumentation S. 11). Es wurde kein Angebot ausgeschlossen. Die … empfiehlt am 12.03.2021 nach vorläufiger Auswertung die BGI für die Zuschlagserteilung, da diese die höchste Punktzahl erreicht habe. Die Auswertung und die Auswertematrix der finalen Angebote datieren auf den 26.03.2021.
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5. Mit zwei Schreiben vom 30.03.2021 und vom 16.04.2021, jeweils mit dem Betreff „Klarstellung und Ergänzung gem. § 18 Abs. 8 S. 3 VgV“, fragte die VSt bei der ASt und der BGI insbesondere zu preislichen Optimierungspotenzialen nach. Es wurde darauf hingewiesen, dass die erbetenen Informationen lediglich einem besseren Verständnis der eingereichten Angebote dienen würden und das Ergebnis der Klarstellung und Ergänzung nicht in die Angebotswertung eingehe. Laut Vergabedokumentation (S. 14) erfolgten beide Aufklärungsschreiben zur Darlegung und Erklärung der Mehrkosten der Angebotspreise im Gegensatz zur Eigenbewirtschaftung gegenüber dem Aufsichtsgremium.
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6. Mit Vorabinformationsschreiben gemäß § 134 GWB vom 23.04.2021 teilte die VSt der ASt mit, dass beabsichtigt sei, den Zuschlag auf das Angebot der BGI zu erteilen, da die ASt nicht das wirtschaftlichste Angebot abgegeben habe. Die Vorabinformation enthielt die wesentlichen Punkte der Angebotsauswertung der ASt.
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7. Mit Schreiben vom 29.04.2021 rügte die ASt insbesondere die Berücksichtigung der Ergebnisse der zwei Aufklärungsschreiben, die Ermittlung des wirtschaftlichen Angebotes und den mangelnden Ausschluss der BGI.
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8. Mit Schriftsatz ihrer Verfahrensbevollmächtigten vom 03.05.2021 hat die ASt einen Antrag auf Nachprüfung gestellt und beantragt:
1.
ein Vergabenachprüfungsverfahren einzuleiten und der Antragsgegnerin aufzugeben, das bezeichnete Vergabeverfahren in einen ordnungsgemäßen Zustand zu versetzen,
2.
der Antragstellerin Akteneinsicht in die Vergabeakten der Antragsgegnerin zu gewähren,
3.
der Antragsgegnerin die Kosten des Verfahrens einschließlich der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen aufzuerlegen,
4.
festzustellen, dass die Hinzuziehung der Bevollmächtigten der Antragstellerin notwendig war.
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Die Handhabung des Vergabeverfahrens verstoße gegen die Grundsätze des Wettbewerbs und der Gleichbehandlung (§ 97 Abs. 1 und 2 GWB).
16
Das Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb sei als Wettbewerblicher Dialog i.S.d. § 18 VgV fortgeführt worden, wobei es deutliche Unterschiede zwischen beiden Verfahrensarten gäbe. Unbeschadet der hier erfolgten Zustimmung der teilnehmenden Bieter handle es sich hierbei um einen Umstand, der ggf. als schwerer Mangel einzustufen sei und von der Vergabekammer von Amts wegen aufzugreifen wäre.
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Die Berücksichtigung der Ergebnisse der zwei Aufklärungsschreiben verstoße gegen das Nachverhandlungsverbot beim Wettbewerblichen Dialog. Die Anforderung von Ergänzungen in Form von zwei „Aufklärungsersuchen“ sei nicht möglich, da nach Abgabe der finalen Angebote nicht mehr nachverhandelt werden könne (§ 18 Abs. 8 S. 1 und 2 VgV).
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Die Korrektheit der Ermittlung des wirtschaftlichen Angebotes werde bestritten (Verstoß gegen § 127 GWB). Es lägen unzutreffende Bewertungen in den konzeptbezogenen Zuschlagskriterien vor, insbesondere handle es sich teilweise um nicht nachvollziehbare, unschlüssige und ermessensfehlerhafte Begründungen bei den Einzelkriterien:
-
Unterkriterium „Nachvollziehbarkeit“.
-
Unter-Unterkriterium „Verantwortungen“ im Unterkriterium „Organisationskonzept“
-
Unter-Unterkriterium „Organisationsstruktur“ im Unterkriterium „Organisationskonzept“
-
Unter-Unterkriterium „Darstellung der geplanten Geräteausstattung“ im Unterkriterium „Gerätekonzept“
-
Unter-Unterkriterium „Beschreibung des Gerätekonzepts in Technologiebändern“ im Unterkriterium „Gerätekonzept“
-
Unter-Unterkriterium „Weiternutzung bisheriger Geräte“ im Unterkriterium „Gerätekonzept“
-
Unter-Unterkriterium „Bewirtschaftung des gerätenahen Verbrauchsmaterials“ im Unterkriterium „Bewirtschaftungskonzept“
-
Unter-Unterkriterium „vernetzte Medizintechnik“ im Unterkriterium „IT-Konzept“
-
Unter-Unterkriterium „Lernumgebung“ im Unterkriterium „Schulungs-/Weiterbildungskonzept“
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Zudem hätte das nicht anforderungsgerechte Angebot der Bestbieterin infolge von Abweichungen von der Ausschreibungsunterlage (formal) ausgeschlossen werden müssen (Verstoß gegen §§ 53, 57 VgV). Dies würden sowohl das bessere Abschneiden der Bestbieterin im Preis als auch die zweimaligen Aufklärungsbegehren der VSt nahelegen.
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9. Die Vergabekammer hat den Nachprüfungsantrag am 03.05.2021 an die Verfahrensbevollmächtigten der VSt übermittelt und um Vorlage der Vergabeakten gebeten.
21
10. Mit Schriftsatz ihrer Verfahrensbevollmächtigten vom 10.05.2021 hat die VSt beantragt:
1.
Der Nachprüfungsantrag wird verworfen, hilfsweise zurückgewiesen.
2.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Antragstellerin.
3.
Die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für den Antragsgegner wird für notwendig erklärt.
22
Der Nachprüfungsantrag sei bereits unzulässig.
23
Die Rügen seien überwiegend präkludiert: Der vermeintliche Verstoß gegen § 18 VgV sei nicht vor Abgabe der finalen Angebote gerügt worden, nicht einmal in der Rüge vom 29.04.2021 („Einmal unterstellt, es sei rechtlich überhaupt gangbar (was bezweifelt wird), allein mit Zustimmung der teilnehmenden Bieter ein EU-weit bekanntgemachtes „Verhandlungsverfahren“ als „Wettbewerblichen Dialog“ fortzuführen, …“). Die Äußerung von Zweifel sei keine ordnungsgemäße Rüge. Die vermeintlichen Verstöße gegen §§ 97, 127 GWB, §§ 53, 57 VgV seien insofern präkludiert, als dass sich die Rüge gegen die festgesetzten Bewertungskriterien richtet. Die Bewertungskriterien hätten einen gröberen Bewertungsmaßstab. Soweit sich die ASt erst jetzt über die Wirkungen des Bewertungsmaßstabs beschwere, sei sie präkludiert. Dies betreffe auch die Aufklärungsmaßnahmen, die von der ASt ebenfalls nicht gerügt worden seien.
24
Der Vorwurf, dass die Bestbieterin nicht anforderungsgerecht angeboten habe, sei unzutreffend. Die ASt erhebe eine unbeachtliche Rüge ins Blaue hinein.
25
Der ASt fehle es zudem an der Antragsbefugnis gem. § 160 Abs. 2 GWB. Die Vergabeunterlagen enthielten, wie in den Bewerbungsbedingungen (Nr. 4.4 (c)) gem. § 29 Abs. 1 Nr. 2 VgV ausgeführt, zwingend formulierte Mindestanforderungen, die eindeutig als solche gekennzeichnet seien. Das Angebot der ASt erfülle nicht die Mindestanforderungen der vertraglichen Vorgaben, weshalb es ausgeschlossen werden müsse:
-
Fehlende Trennung der Zuständigkeiten
-
Unzulässige Erweiterungen des Medical Boards
-
Abweichungen bei „Projektleiter und Site Manager“
-
Abweichungen im Bereich Ausfallkonzept
-
Abweichungen im Bereich patientennahes Verbrauchsmaterial
-
Abweichungen im Bereich Leistungskontrolle
-
Abweichungen im Bereich Schulungen
-
Abweichungen im Bereich Technologiebänder (1)
-
Abweichungen im Bereich Technologiebänder (2)
-
Abweichungen im Bereich Optimierungen
26
Laut Projektvertrag (Ziffer 3.2.13) würden die Bewerber für Optimierungsprojekte keine zusätzliche Vergütung erhalten. Im Konzept der ASt (S. 50) sei jedoch für Optimierungsprojekte eine … Vergütung vorgesehen.
- Abweichungen im Bereich Schulungsplan
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Laut Projektvertrag (Ziffer 3.2.12.1) sei ein Schulungsplan bis zum 30. November eines jeden Jahres für das Folgejahr gefordert. Der Schulungsplan sei bereits im Vorjahr einzureichen. Im Konzept der ASt (S. 209) werde jedoch zu Jahresbeginn der VSt eine Übersicht über mögliche Schulungen vorgestellt und erst dann mit ihr abgestimmt.
28
Der Nachprüfungsantrag sei auch unbegründet.
29
Das Verhandlungsverfahren sei rechtmäßig als „Wettbewerblicher Dialog“ i.S.d. § 18 VgV fortgeführt worden. Unabhängig davon, dass die Rüge präkludiert sei, habe die ASt keine Rechtsverletzung dargelegt. Alle Bieter seien in den angepassten Bewerbungsbedingungen über den Wechsel informiert worden. Zugleich seien sie für den Fall, dass sie nicht zustimmen, aufgefordert worden, dies bis zum … mitzuteilen. Die Bieter hätten nicht widersprochen und sich rügelos am weiteren Verfahren beteiligt.
30
Außerdem seien das Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb und der Wettbewerbliche Dialog gleichgestellt, da sie gem. § 14 Abs. 3 VgV dieselben Anwendungsvoraussetzungen hätten. Auch sei im Zeitpunkt des Verfahrenswechsels erst der Teilnahmewettbewerb erfolgt. Zur Sache sei bis dahin noch nicht verhandelt worden.
31
Schließlich seien durch den Wechsel keine potentiell interessierten Unternehmen vom Wettbewerb abgehalten oder ausgeschlossen worden.
32
Die Auswertung der Angebote sei, unter Bezugnahme auf die Begründungen in der Vergabedokumentation, ordnungsgemäß erfolgt.
33
11. Die VSt hat am 21.05.2021 die Fa. … zum Verfahren beigeladen.
34
12. Mit Schriftsatz vom 31.05.2021 rügten die Verfahrensbevollmächtigten der BGI die umfangreichen Schwärzungen der übermittelten Schriftsätze.
35
13. Mit Zwischenbeschlüssen vom 11.06.2021 und 23.06.2021 erhielt die BGI teilgeschwärzte Unterlagen.
36
14. Mit Schriftsatz vom 07.06.2021 erwiderten die Verfahrensbevollmächtigten der ASt und vertieften ihre bisherigen Ausführungen.
37
Die ASt sei antragsbefugt, da die Rügen nicht präkludiert seien und die Ausschlussbedürftigkeit der anderen Teilnehmer geklärt werden solle.
38
Das Angebot der BGI sei ausschlussbedürftig, da die BGI hinsichtlich des Equipments (…) Änderungen an den Vergabeunterlagen in ihrem finalen Angebot aufweise (§§ 53, 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV).
39
Das Angebot der ASt sei hingegen uneingeschränkt wertbar. Die behaupteten Ausschlussgründe bzgl. des Angebots der ASt seien unzutreffend.
40
Zum Thema Schulungsplan wurde ausgeführt, dass die Erstellung der Schulungspläne zu Beginn des Jahres weit vor dem 30. November erfolge. Dies erscheint ausreichend Vorbereitungszeit, um die von der VSt geforderten Ansprüche zu erfüllen.
41
15. Mit Schriftsatz vom 18.06.2021 wiesen die Verfahrensbevollmächtigten der BGI die von der ASt behaupteten Ausschlussgründe bzgl. des Angebots der BGI zurück.
42
16. Mit Schriftsatz vom 21.06.2021 wiederholten und vertieften die Verfahrensbevollmächtigten der VSt ihre bisherigen Ausführungen. Ergänzend wurde u.a. vorgetragen, dass das Angebot der ASt gem. § 124 Abs. 1 Nr. 9 GWB auszuschließen sei.
43
Zum Thema Schulungsplan wurde ausgeführt, dass die Formulierung im Konzept der ASt eine Erstellung des Schulungsplans zu Jahresbeginn beschreibe. Es sei keineswegs aufgeführt, dass sich dieser Sachverhalt auf das Folgejahr beziehe. Der Schulungsplan liege demnach nicht wie vertraglich geschuldet bis zum 30. November des Vorjahres vor.
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17. Mit Schriftsatz vom 25.06.2021 äußerten sich die Verfahrensbevollmächtigten der ASt insbesondere zu den Anforderungen der Ausschreibung.
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18. Mit Schriftsatz vom 05.07.2021 vertieften die Verfahrensbevollmächtigten der BGI ihre Ansicht, insbesondere habe die BGI bereits in ihrem Angebot die Vorgaben der VSt ausdrücklich und in vollem Umfang anerkannt.
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19. Mit E-Mail ebenfalls vom 05.07.2021 wiederholten die Verfahrensbevollmächtigten der BGI, dass die BGI nicht von den Mindestvorgaben abgewichen sei, da sie in ihrem Angebot auf Seite 13 den Vorrang der Vergabeunterlagen ausdrücklich anerkannt habe: „Die nachfolgenden Konzepte beschreiben unsere Überlegungen im Einzelnen und sind als Ergänzung und Erläuterung zu den vertraglichen Vorgaben, welche immer vorgehen, zu verstehen“.
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20. Am 08.07.2021 erhielt die ASt erweiterte Akteneinsicht.
48
21. Mit Schriftsatz vom 09.07.2021 wiederholten und vertieften die Verfahrensbevollmächtigten der ASt ihre bisherigen Ausführungen, insbesondere sei § 124 Abs. 1 Nr. 9 GWB nicht einschlägig.
49
22. Mit Schriftsatz vom 12.07.2021 vertieften die Verfahrensbevollmächtigten der VSt ihre bisherigen Ausführungen.
50
23. Mit Schriftsatz vom 19.07.2021 äußerten die Verfahrensbevollmächtigten der VSt, dass das Angebot der BGI in der Wertung verbleiben müsse, da diese kein „abgemagertes“ Angebot eingereicht habe. Hingegen sei das Angebot der ASt auszuschließen, da ein zu „reichlich“ geplantes Angebot nicht im Sinne der VSt sei. Auch habe die ASt im Bereich Schulungen den Unterpunkt „c) Weiterbildungen“ mit dem Unterpunkt „d) Schulungen zu gesetzlichen Rahmenbedingungen“ entgegen des Projektvertrages vermischt. Die Anforderungen des Unterpunktes d) seien nicht erfüllt.
51
24. Mit Schriftsatz ebenfalls vom 19.07.2021 trugen die Verfahrensbevollmächtigten der BGI vor, dass die BGI ausschreibungskonform angeboten habe und kein „Abmagerungsangebot“ vorliege. Der Vortrag der ASt sei unsubstantiiert.
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25. Mit Schriftsatz vom 23.07.2021 erwiderten die Verfahrensbevollmächtigten der ASt und führten insbesondere an, dass die BGI ausgeschlossen werden müsse:
-
Die BGI biete ebenfalls eine … an.
-
Die BGI lasse sich … ebenfalls vergüten.
-
Die BGI habe ihrem „…“ eine Freigabeberechtigung erteilt.
53
Unbekannte weitere Interessenten könnten von einer Teilnahme abgesehen haben, da für sie ein Verhandlungsverfahren nicht infrage gekommen sei. Eventuell hätten diese sich im Falle eines Wettbewerblichen Dialoges anders verhalten. Jede grundlegende Änderung im Verfahrensmodus wirke daher nicht nur „inter partes“ sondern auch „inter omnes“.
54
26. Mit Schriftsatz vom 02.08.2021 erwiderten die Verfahrensbevollmächtigten der VSt insbesondere, dass die preisliche Angemessenheit des Angebotes der BGI nicht zu beanstanden sei.
55
27. Mit Schriftsatz ebenfalls vom 02.08.2021 führten die Verfahrensbevollmächtigten der BGI aus, dass die BGI keinen unangemessen niedrigen Preis, vielmehr die ASt einen unangemessenen hohen Preis angeboten habe. Zudem sei die Angebotsauswertung ordnungsgemäß erfolgt. Der Vortrag der ASt zum Angebot der BGI sei unsubstantiiert. Im Übrigen habe die ASt in ihrem Schreiben vom 29. April 2021 den angeblich unangemessenen niedrigen Preis im Angebot der BGI auch nicht gerügt, womit ein darauf gestützter Nachprüfungsantrag unzulässig sei.
56
28. In der mündlichen Verhandlung am 05.08.2021 beantragt die BGI Antragsabweisung.
57
29. Die Fünf-Wochen-Frist des § 167 Abs. 1 GWB wurde am 10.05.2021, am 11.06.2021 und zuletzt am 30.06.2021 bis einschließlich 07.09.2021 verlängert.
58
30. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die im Nachprüfungsverfahren gewechselten Schriftsätze, das Protokoll der mündlichen Verhandlung, die Verfahrensakte der Vergabekammer und auf die Vergabeakten, soweit sie der Vergabekammer vorgelegt wurden, Bezug genommen.

Gründe

59
Der Nachprüfungsantrag ist (teilweise) zulässig und (insoweit) begründet. Durch den nicht erfolgten Ausschluss des Angebotes der BGI wird die ASt in ihren Rechten verletzt.
60
1. Der Nachprüfungsantrag ist zulässig.
61
a) Die Vergabekammer Nordbayern ist für das Nachprüfverfahren nach § 1 Abs. 2 und § 2 Abs. 2 Satz 2 BayNpV sachlich und örtlich zuständig.
62
b) Die VSt ist öffentlicher Auftraggeber nach § 99 GWB.
63
c) Bei dem ausgeschriebenen Dienstleistungsauftrag handelt es sich um einen öffentlichen Auftrag im Sinne von § 103 Abs. 4 GWB.
64
d) Der Auftragswert übersteigt den für Dienstleistungsaufträge maßgeblichen Schwellenwert nach Art. 4 der Richtlinie 2014/24/EU (§ 106 Abs. 2 Nr. 1 GWB).
65
e) Die ASt ist antragsbefugt im Sinne des § 160 Abs. 2 GWB, denn sie hat ihr Interesse an dem öffentlichen Auftrag mit der Abgabe eines endgültigen Angebotes nachgewiesen und eine Verletzung in ihren Rechten nach § 97 Abs. 6 GWB durch Nichtbeachtung von Vergabevorschriften geltend macht. Sie hat zudem dargelegt, dass ihr durch die beabsichtigte Vergabe an die BGI ein Schaden zu entstehen droht. Im Rahmen der Zulässigkeit sind an die Antragsbefugnis keine allzu hohen Anforderungen geknüpft. Entgegen der Auffassung der VSt und BGI hat die ASt insoweit auch keine substanzlosen Behauptungen „ins Blaue hinein“ erhoben. Für die Zulässigkeit genügt eine schlüssige Behauptung. Die Rechtsfrage, ob die ASt tatsächlich in ihren Rechten verletzt ist, ist eine Frage der Begründetheit. Sofern wenigstens Anknüpfungstatsachen oder Indizien vorgetragen werden, die einen hinreichenden Verdacht auf einen bestimmten Vergabeverstoß begründen, darf die ASt aufgrund ihres Wissens subjektiv mögliche bzw. wahrscheinliche Vergabeverstöße behaupten, insbesondere wenn es um solche geht, die ausschließlich der Sphäre des Auftraggebers zuzuordnen sind oder das Angebot eines Mitbewerbers betreffen (vgl. VK Hessen, B.v. 22.07.2020, 69d-VK-33/2019, Rn. 63 ff m.w.N.). Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt, da die ASt anhand der ihr zur Verfügung stehenden Umstände schlüssig behauptet hat, dass sich aus ihrer Sicht Anhaltspunkte für die im Nachprüfungsantrag geltend gemachten Beanstandungen (u.a. Verstoß gegen das Nachverhandlungsverbot, nicht anforderungsgerechtes Angebot der BGI) aufgrund der Schreiben der VSt vom 30.03.2021, 16.04.2021 und 23.04.2021 ergeben haben (insb. nachträgliche Abfrage von preislichen Optimierungspotenzialen in Verbindung mit dem günstigeren Angebotspreis der BGI).
66
Der Vorwurf der VSt und BGI, das Angebot der ASt sei auszuschließen, steht dem nicht entgegen. Legt ein Bieter die Nichtbeachtung von Vergabevorschriften dar und kommt danach als vergaberechtsgemäße Maßnahme die Aufhebung der Ausschreibung in Betracht, weil alle anderen Angebote unvollständig sind, ist der Bieter regelmäßig unabhängig davon im Nachprüfungsverfahren antragsbefugt, ob auch sein Angebot an einem Ausschlussgrund leidet (BGH, B.v. 26.09.2006 - X ZB 14/06).
67
f) Die ASt ist ihrer Rügeobliegenheit rechtzeitig mit Schreiben vom 29.04.2021 nachgekommen. Die ASt hat erst durch das Bieterinformationsschreiben nach § 134 GWB vom 23.04.2021 ausreichend Anhaltspunkte (Mitteilung der konkreten Angebotsbewertung und des niedrigeren Preisangebots der BGI) für ihre Beanstandungen (fehlerhafte Angebotsbewertung, unzulässiges Nachverhandeln, ausschlussbedürftiges Angebot der BGI) erlangt.
68
Die ASt hat jedoch den Wechsel vom Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb zum Wettbewerblichen Dialog im laufenden Vergabeverfahren nicht rechtzeitig gerügt (§ 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 GWB). Es kann dahinstehen, ob überhaupt eine wirksame Rüge erhoben wurde, nachdem im Schreiben vom 29.04.2021 (dort S. 4) lediglich von Zweifeln die Rede ist und allein die Äußerung von Zweifeln keine wirksame Rüge darstellt. Jedenfalls wäre selbst eine wirksam erhobene Rüge präkludiert, da die ASt durch angepasste Bewerbungsbedingungen (dort Ziffer 3.1) über den Verfahrenswechsel informiert und ihr eine Frist bis zum 13.03.2020 für etwaige Beanstandungen gewährt wurde. Die ASt erhob hiergegen weder innerhalb der gesetzten Frist noch bis zur finalen Angebotsabgabe eine Rüge.
69
Auch die Berücksichtigung der verfristeten Rüge durch die Vergabekammer von Amts wegen ist nicht möglich. Wenn ein Verstoß gegen Vergabevorschriften nicht gerügt wird und damit präkludiert ist, kann die Kammer insoweit nicht mehr auf eine Abhilfe hinwirken, da der Antragsteller durch den präkludierten Verstoß auch nicht in eigenen Rechten verletzt sein kann (VK Nordbayern, B.v. 10.12.2020, RMF-SG21-3194-5-44; Blöcker in Röwekamp/Kus/Portz/Prieß, Kommentar zum GWB-Vergaberecht, 5. Auflage, § 168 GWB, Rn. 26). In der Rechtsprechung und Literatur wird im Allgemeinen die Auffassung vertreten, dass Vergaberechtsfehler dann nicht von Amts wegen berücksichtigt werden dürfen, wenn eine entsprechende Rüge nach § 160 Abs. 3 GWB präkludiert wäre oder ist, da eine Rügepräklusion ihren Sinn verlöre, wenn der Mangel dennoch von Amts wegen eingeführt werden könnte (u.a. OLG Düsseldorf B.v. 23.6.2010 - Verg 18/10; OLG Schleswig B.v. 15.4.2011 - Verg 10/10; vgl. Diemon-Wies in PK Kartellvergaberecht § 110 GWB Rn. 30). Nur in ganz besonderen Ausnahmefällen erachtet es das OLG München (B.v. 10.08.2017 - Verg 3/17, Rn. 97; auch OLG Celle, B.v. 02.02.2021, 13 Verg 8/20, Rn. 87) für zulässig, dass präkludierte Verstöße aufgegriffen werden, nämlich dann, wenn ein so schwerwiegender Fehler vorliegt, dass eine tragfähige Zuschlagsentscheidung bei einer Fortsetzung des Verfahrens praktisch nicht möglich ist, etwa weil nur willkürliche oder sachfremde Zuschlagskriterien verbleiben oder das vorgegebene Wertungssystem so unbrauchbar ist, dass es jede beliebige Zuschlagsentscheidung ermöglicht. Es genügt somit nicht, dass überhaupt Vergaberechtsverstöße vorhanden sind, da ansonsten die gesetzlich vorgegebene Rügeobliegenheit in der Tat leerlaufen würde. (OLG München, B.v. 10.08.2017, Verg 3/17, Rn. 97).
70
Ein solcher Sachverhalt ist hier nicht ersichtlich. Ein so schwerwiegender Vergabeverstoß, wenn ein solcher überhaupt vorliegen sollte, liegt nach Auffassung der Vergabekammer im Hinblick auf den Verfahrenswechsel nicht vor. Die ASt wurde durch die VSt auf den Verfahrenswechsel und die Möglichkeit einer Beanstandung hingewiesen. Hiergegen erhob die ASt keine Rüge, sondern nahm stattdessen an allen drei Dialogphasen teil und gab ein finales Angebot ab. Zudem erfolgte der Verfahrenswechsel nach Durchführung des Teilnahmewettbewerbs und damit zu einem Zeitpunkt, in dem sich die Unterschiede der beiden Verfahrensarten noch nicht ausgewirkt haben. Sowohl das Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb als auch der Wettbewerbliche Dialog setzen einen Teilnahmewettbewerb voraus. Erst in der Verhandlungsphase bzw. Dialogphase ergeben sich Unterschiede zwischen beiden Verfahren. Daher ist in dem vor Durchführung der Dialogphase und in Kenntnis der ASt erfolgten Verfahrenswechsel kein besonders schwerwiegender Vergabeverstoß im obigen Sinne zu sehen. Ob auch Dritte, die am Verfahren nicht teilgenommen haben, durch den Verfahrenswechsel in ihren Rechten verletzt wurden, kann vorliegend dahinstehen, da dies jedenfalls zu keiner subjektiven Rechtsverletzung der ASt führt. Aus diesem Grund sieht die Vergabekammer keinen Anlass, von Amts wegen die präkludierte Rüge der ASt aufzugreifen.
71
g) Der Zuschlag wurde noch nicht erteilt, § 168 Abs. 2 Satz 1 GWB.
72
2. Der Nachprüfungsantrag ist auch begründet.
73
Der Nicht-Ausschluss des Angebotes der BGI vom Vergabeverfahren verletzt die ASt in ihren Rechten nach § 97 Abs. 6 GWB.
74
Sowohl das Angebot der BGI als auch das der ASt ist gem. § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV von der Wertung auszuschließen. Danach sind Angebote, bei denen Änderungen oder Ergänzungen an den Vergabeunterlagen vorgenommen worden sind, auszuschließen. Vorliegend weichen beide Angebotskonzepte von den zwingenden Vorgaben der Vergabeunterlagen ab, die BGI bzgl. Kapitel 3.2.13 des Projektvertrages und die ASt bzgl. Kapitel 3.2.12.1 des Projektvertrages.
75
Grundsätzlich liegt eine unzulässige Änderung an den Vergabeunterlagen vor, wenn der Bieter nicht das anbietet, was der öffentliche Auftraggeber nachgefragt hat, sondern von den Vorgaben der Vergabeunterlagen abweicht (vgl. OLG Düsseldorf, B.v. 22.03.2017, Verg 54/16). Ob eine unzulässige Änderung der Vergabeunterlagen durch das Angebot im Einzelfall vorliegt, ist anhand einer Auslegung in entsprechender Anwendung der §§ 133, 157 BGB sowohl der Vergabeunterlagen als auch des Angebots nach dem jeweiligen objektiven Empfängerhorizont festzustellen. Maßgeblich ist hinsichtlich der Vergabeunterlagen der Empfängerhorizont der potentiellen Bieter (vgl. BGH, B.v. 15.01.2013, X ZR 155/10). Für die Auslegung von Vergabeunterlagen ist auf die objektive Sicht eines verständigen und fachkundigen Bieters abzustellen, der mit der Erbringung der ausgeschriebenen Leistung vertraut ist. Maßgeblich ist nicht das Verständnis eines einzelnen Bieters, sondern wie der abstrakt angesprochene Empfängerkreis die Leistungsbeschreibung und Vergabeunterlagen versteht (vgl. OLG Karlsruhe, NZBau 2016, 449). Hinsichtlich des Angebots des Bieters ist Maßstab der Auslegung, wie ein mit den Umständen des Einzelfalls vertrauter Dritter in der Lage der Vergabestelle das Angebot nach Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte verstehen musste oder durfte, wobei es keinen Erfahrungssatz gibt, dass der Bieter stets das vom Ausschreibenden Nachgefragte anbieten will, auch wenn ihm redliche und interessensgerechte Absichten zu unterstellen sind (OLG Düsseldorf, B.v. 22.03.2017, Verg 54/17).
76
Im vorliegenden Vergabeverfahren werden in Kapitel 4.4 der Bewerbungsbedingungen (BWB) Ausschlussgründe und Mindestanforderungen aufgeführt. Nach Ziffer 4.4 (a) BWB werden finale Angebote ausgeschlossen, in denen Änderungen oder Ergänzungen an den Vergabeunterlagen vorgenommen worden sind. Dies entspricht dem Wortlaut des § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV. Nach Ziffer 4.4 (c) BWB enthalten die Unterlagen zwingend zu erfüllende Mindestanforderungen an die Leistung, deren Einhaltung der Auftraggeber insbesondere im Hinblick auf das finale Angebot prüft. Mindestanforderungen werden in den Vergabeunterlagen mit „muss“, „hat“, „ist zu“ oder vergleichbaren Formulierungen beschrieben. Werden diese Mindestanforderungen mit dem Finalangebot nicht eingehalten, wird das Angebot ausgeschlossen.
77
a) Das Angebot der BGI ist auszuschließen, da es im Kapitel Optimierungskonzept (S. 284 ff) von der zwingenden Vorgabe des Projektvertrages (Kapitel 3.2.13, S. 40) abgewichen ist.
78
aa) Auf die oben genannten Grundsätze zum Thema unzulässige Veränderung der Vergabeunterlagen sowie auf die oben genannten Bewerbungsbedingungen (Kapitel 4.4) wird verwiesen.
79
Die Auslegung der Vergabeunterlagen führt zu dem Ergebnis, dass es sich im Kapitel 3.2.13 (S. 40 des Projektvertrages) bei der Vorgabe „die Leistung ist mit der Vergütung abgegolten“, um eine zwingende Mindestanforderung handelt.
80
Entsprechend den Ausführungen im Kapitel 4.4 der Bewerbungsbedingungen werden Mindestanforderungen in den Vergabeunterlagen mit „muss“, „hat“, „ist zu“ oder vergleichbaren Formulierungen beschrieben. Die Bezeichnung „ist (…) abgegolten“ stellt eine derartige vergleichbare Formulierung dar. Vom Empfängerhorizont potentieller Bieter ausgehend, geht aus dem Wortlaut deutlich und unmissverständlich hervor, dass für die geforderten Leistungen des Auftragnehmers, jährlich Optimierungsprojekte durchzuführen, keine gesonderte Vergütung erfolgen wird und dies vom Auftraggeber als verbindliche Vorgabe bestimmt ist. Damit haben die jährlichen Optimierungsprojekte kostenlos zu erfolgen bzw. sind mit der vertraglich vereinbarten Vergütungspauschale bereits abgegolten.
81
Entgegen des Vortrags der BGI ergibt sich aus dem Wortlaut des Projektvertrages jedoch nicht, dass lediglich ein Optimierungsprojekt pro Jahr gefordert wird und damit ausreichend wäre. Vielmehr verdeutlichen die verwendeten Begriffe „Optimierungsprojekte“ (mit Fettdruck hervorgehoben) sowie „Optimierungsmöglichkeiten“, dass eindeutig mehr als ein Optimierungsprojekt gefordert wird. Diese Auslegung wird auch durch die Systematik des Projektvertrages gestärkt, wonach der Auftraggeber nur im Themenbereich Innovation (S. 41 des Projektvertrages) ausdrücklich vorgegeben hat, dass „jährlich mindestens ein umsetzbares Innovationskonzept zu erstellen“ ist und damit ausreichend ist. Das Wort Innovationskonzept ist hierbei mit Fettdruck hervorgehoben. Es handelt sich hierbei um zwei unabhängig voneinander geforderte Konzepte (weshalb auch die ASt sowohl ein Innovations- als auch ein Optimierungskonzept separat angeboten hat).
82
bb) Die BGI ist in ihrem Angebot von der verbindlichen Vorgabe, dass die jährlich durchzuführenden Optimierungsprojekte bereits mit der Vergütung abgegolten sind, abgewichen. Das Optimierungskonzept der BGI (S. 284 ff) sieht eine Vergütung vor und enthält damit eine Abweichung von den Vorgaben der Vergabeunterlagen. Dies wird auch durch die Auswertematrix der finalen Angebote der …, welche sich die VSt zu eigen gemacht hat, bestätigt: „Punktabzug, weil im Unter-Unterkriterium Prozessoptimierung andere finanzielle Ansätze beschrieben sind als vertraglich vorgegeben“.
83
Die BGI stellt ihre Beratungsleistungen im Rahmen eines … (S. 286/287) zur Verfügung. Dieser Ansatz sieht einen … vor. …. Aus der maßgeblichen Empfängerperspektive der Vergabestelle als Maßstab für die Auslegung eines Bieterangebotes ist der … als Vergütung einzustufen.
84
Die BGI vertritt jedoch die Auffassung, dass ihr Angebot dennoch die Mindestanforderungen erfüllt. So soll der … nur den Erfolg und nicht die Leistung vergüten und lediglich ein optionales Optimierungsprojekt betreffen. Da noch weitere Optimierungsprojekte angeboten worden sind, wurde die Mindestanforderung von jährlich einem Optimierungsprojekt erfüllt. Im Übrigen wurde der Vorrang der Vergabeunterlagen ausdrücklich anerkannt.
85
Entgegen der Auffassung der BGI werden die Mindestanforderungen der Vergabeunterlagen nicht eingehalten. Unter Anwendung der oben dargestellten Auslegungsmaßstäbe kommt die Vergabekammer zu dem Ergebnis, dass Beratungsleistungen vergütet werden und dass das Vergütungsmodell nicht optional ist.
86
i) Auch wenn erzielte Zusatzerlöse bzw. Kosteneinsparungen im Rahmen des … genannt werden, führt dies nicht dazu, dass lediglich der Erfolg und nicht die Leistung vergütet wird. Eine derartige isolierte Betrachtung wird dem objektiven Empfängerhorizont nicht gerecht. Es ist vielmehr eine Gesamtbetrachtung des Vergütungsmodells erforderlich. Im Optimierungsprojekt ist mehrfach von „Beratungsleistungen“ die Rede, insbesondere „stellen wir diese Beratungsleistungen im Rahmen eines … zur Verfügung“. Die Beratungsleistungen und der erzielte Erfolg erscheinen vorliegend untrennbar vereint, insbesondere geht auch die BGI fest davon aus, dass ihre Beratungsleistungen zu einem Erfolg führen („Da wir davon überzeugt sind, dass wir mit unseren Beratungsansätzen Effizienzen/Potentiale bei der VSt heben können“; „An diesen finanziellen Effekten will sich die ASt im Rahmen des … auch messen lassen“). Im Ergebnis würde eine isolierte Betrachtung von Beratungsleistung und Erfolg zu einer unnatürlichen Trennung führen, die der objektiven Aussagekraft des Vergütungsmodells widerspricht. Im Übrigen hat auch die … in ihrer Auswertung der finalen Angebote, die sich die VSt zu eigen gemacht hat, zur Prozessoptimierung vermerkt: „jedoch ist die vertragliche Regelung zur finanziellen Abgeltung der Leistung nicht vollständig eingehalten worden und um einen neuen Ansatz ergänzt worden“.
87
ii) Die Auslegung des Optimierungskonzeptes ergibt zudem, dass das Vergütungsmodell verbindlich und nicht optional ist. Hierfür sprechen zum einen die Überschriften „9.1 Verbindliche Leistungen im Bereich Personal und Prozess“ und „9.1.1 Beratungsleistungen als Teil unseres Angebots“. Zum anderen wird auf Seite 284 des Optimierungskonzepts quasi im allgemeinen Teil fettgedruckt hervorgehoben: „In den einzelnen Kapiteln haben wir für die VSt Leistungen aufgeführt, die die ASt im Rahmen der Partnerschaft verpflichtend einbringen wird“. „Um dies für die VSt übersichtlich zu gestalten, wurden die Themen im Folgenden noch einmal aufgelistet“, sodann werden die einzelnen Optimierungsprojekte mit Fettdruck genannt, u.a. das Optimierungsprojekt „…“. Ein anderer Erklärungsgehalt lässt sich einer Gesamtbetrachtung des Angebots der BGI nicht entnehmen.
88
iii) Die in der Präambel auf Seite 13 des Konzepts enthaltene Erklärung „die nachfolgenden Konzepte beschreiben unsere Überlegungen im Einzelnen und sind als Ergänzung und Erläuterung zu den vertraglichen Vorgaben, welche immer vorgehen, zu verstehen“, geht inhaltlich nicht über eine allgemeine salvatorische Erklärung hinaus, mit der die Vorgaben der Ausschreibung durch den Bieter für verbindlich erklärt werden. Wäre eine solche Erklärung berücksichtigungsfähig und geeignet, eindeutig von den Vorgaben abweichende, konkrete Angaben zu negieren, liefe die Regelung des § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV letztlich leer, weil sich so ein Bieter bei einem drohenden Ausschluss immer darauf berufen könnte - ungeachtet des konkreten Angebotsinhalts - nur ausschreibungskonform anbieten zu wollen (vgl. VK Bund, B.v. 23.04.2021, VK 2 - 29/21 zu § 13 EU Abs. 1 Nr. 5 VOB/A, unter Berücksichtigung des BGH Urteils v. 18.06.2019, X ZR 86/17 s.u.). Die Rechtsauffassung, dass es auf die Beachtung verbindlicher Vorgaben der Leistungsbeschreibung nicht ankommt, würde elementaren Grundsätzen des Vergabeverfahrens wie dem Transparenz- und Gleichbehandlungsgebot widersprechen (vgl. OLG München, B.v. 20.01.2020, Verg 17/19, unter Berücksichtigung des BGH Urteils v. 18.06.2019, X ZR 86/17 s.u.). Im Übrigen stellen die verbindlich angebotenen individuellen Optimierungsprojekte auch keine bloßen Ergänzungen oder Erläuterung mehr dar.
89
cc) Auch der weitere Vortrag der BGI, dass die Mindestanforderung von jährlich einem Optimierungsprojekt erfüllt wird, da noch weitere Optimierungsprojekte angeboten wurden, ist nicht erfolgversprechend. Unter Verweisung auf die obigen Ausführungen fordert der Projektvertrag entgegen der Auffassung der BGI bereits jährlich mehrere und nicht nur ein Optimierungsprojekt.
90
Die Änderung an den Vergabeunterlagen ist auch nicht unerheblich oder geringfügig, so dass ausnahmsweise eine nachträgliche Korrektur zulässig sein könnte.
91
Die BGI kann sich nicht auf die Rechtsprechung des BGH (U.v. 18.06.2019, X ZR 86/17) berufen, weil sich der dort entschiedene Sachverhalt grundlegend vom vorliegenden Sachverhalt unterscheidet. Gegenstand dieser Entscheidung war eine formelhafte Zahlungsklausel die den Zusätzlichen Vertragsbedingungen für Bauleistungen widersprach. Der BGH hat insoweit ausgeführt, dass es sich in dieser Konstellation einem unvoreingenommenen Auftraggeber aufdrängen musste, dass die abweichende Angabe auf einem Missverständnis beruhte. Maßgeblich war weiterhin, dass die abweichende Angabe ohne weiteres hinweg gedacht werden konnte und dennoch ein vollständiges, den Vergabeunterlagen entsprechendes Angebot vorlag.
92
Im vorliegenden Fall betrifft die Abweichung nicht eine Allgemeine Geschäftsbedingung, sondern ein individuell erarbeitetes Angebotskonzept des Bieters, das von den verbindlichen Vorgaben der Vertragsunterlagen abweicht, so dass schon aus diesem Grund eine Übertragung der BGH Entscheidung ausscheidet (vgl. OLG München, B.v. 20.01.2020, Verg 17/19; OLG Düsseldorf, B.v. 12.02.2020, Verg 24/19; VK Bund, B.v. 23.04.2021, VK 2 - 29/21).
93
Darüber hinaus läge ein lückenhaftes, nicht vertragskonformes Angebot der BGI vor, wenn ihr abweichendes Optimierungskonzept hinweggedacht wird. Auch ein bloßes Streichen eines Teils innerhalb des Optimierungskonzeptes wäre im Übrigen nicht möglich, da das gesamte Optimierungskonzeptes als Einheit anzusehen ist und die darin enthaltenen einzelnen Optimierungsprojekte aufeinander abgestimmt sind. Hierfür spricht der klare Wortlaut auf Seite 284: „Hier sei klar herausgestellt, dass die einzelnen Projekte in der Umsetzung nicht nebeneinander abgearbeitet werden, sondern im Sinne eines [Fettdruck Beginn] übergreifenden Beratungsprogramms inhaltlich optimal aufeinander abgestimmt werden [Fettdruck Ende], um entsprechende Synergien zu nutzen und die Beanspruchung der Mitarbeiter auf ein Minimum zu reduzieren“.
94
b) Das Angebot der ASt ist auszuschließen, da es im Kapitel … (S. 208 ff) von der zwingenden Vorgabe des Projektvertrages (Kapitel 3.2.12.1, S. 37) abgewichen ist.
95
aa) Auf die oben genannten Grundsätze zum Thema unzulässige Veränderung der Vergabeunterlagen sowie auf die oben genannten Bewerbungsbedingungen (Kapitel 4.4) wird verwiesen.
96
Die Auslegung der Vergabeunterlagen führt zu dem Ergebnis, dass es sich im Kapitel 3.2.12.1 (S. 37 des Projektvertrages) bei der Vorgabe „Der Schulungsplan für das Folgejahr ist mit dem AG bis zum 30. November eines jeden Jahres abzustimmen und vorzulegen“, um eine zwingende Mindestanforderung handelt.
97
Entsprechend den Ausführungen im Kapitel 4.4 der Bewerbungsbedingungen werden Mindestanforderungen in den Vergabeunterlagen mit „muss“, „hat“, „ist zu“ oder vergleichbaren Formulierungen beschrieben. Die Bezeichnung „ist (…) vorzulegen“ stellt eine derartige vergleichbare Formulierung dar. Vom Empfängerhorizont potentieller Bieter ausgehend, geht aus dem Wortlaut deutlich und unmissverständlich hervor, dass der Schulungsplan für die jährlichen Schulungen des Folgejahres bis zum 30. November des Vorjahres vorgelegt werden muss und dies vom Auftraggeber als verbindliche Vorgabe bestimmt ist.
98
bb) Die ASt ist in ihrem Angebot von der verbindlichen Vorgabe, dass der Schulungsplan für die jährlichen Schulungen des Folgejahres bis zum 30. November des Vorjahres vorgelegt werden muss, abgewichen.
99
Zwar hat die … in ihrer Auswertung der finalen Angebote, die sich die VSt zu eigen gemacht hat, der ASt im Unter-Unterkriterium „Zeitplanung“ die volle Punktzahl vergeben („der Bieter hat die Zeitplanung für die Schulungs- und Weiterbildungsthemen wie gefordert beschrieben“), jedoch wird diese Auslegung des Konzeptes nicht vom maßgeblichen objektiven Empfängerhorizont getragen.
100
Die Auslegung des Schulungskonzeptes der ASt (S. 208 ff) ergibt vielmehr, dass dieses keine Vorlage des Schulungsplans bis zum 30. November des Vorjahres vorsieht und damit eine Abweichung von den Vorgaben der Vergabeunterlagen enthält. Weder im Kapitel 8.2.2 „Terminliche Koordinierung“ (S. 210) noch im übrigen Schulungskonzept (S. 208 ff) werden zeitliche Angaben zur Erstellung des geforderten Schulungsplans getroffen. Lediglich die Seite 209 enthält folgende zeitliche Angabe: „Eine Übersicht über das Angebot an Weiterbildungen und eLearning Modulen teilt der … zusammen mit … mit der schulungsverantwortlichen Person der … zu Beginn des Jahres im Rahmen der Erstellung des Schulungsplans. Sollten sich im Laufe eines Jahres Änderungen ergeben, teilt die ASt diese der VSt mit“.
101
Die ASt vertritt die Auffassung, dass die Erstellung der Schulungspläne zu Jahresbeginn und damit weit vor dem 30. November des Vorjahres liegt.
102
Für eine derartige Auslegung finden sich jedoch keine ausreichenden Anhaltspunkte im Konzept der ASt. Unter Anwendung der oben dargestellten Auslegungsmaßstäbe kommt die Vergabekammer zu dem Ergebnis, dass das Konzept der ASt vorsieht, dass der Schulungsplan erst zu Beginn eines jeden Jahres und nicht bereits zum 30. November des Vorjahres der VSt vorgelegt wird. Für diese Auslegung spricht der Wortlaut des Konzepts wonach lediglich eine Erstellung des Schulungsplans zu Jahresbeginn ohne jegliche weiteren zeitlichen Angaben beschrieben wird. Für eine Erstellung im Vorjahr finden sich im Wortlaut keine Anhaltspunkte. Die erst im Nachprüfungsverfahren und in Kenntnis der Mindestanforderungen der Vergabeunterlagen vorgebrachten Ausführungen der ASt sind daher als Schutzbehauptung einzustufen. Sollte die ASt tatsächlich eine Erstellung des Schulungsplanes bereits zu Beginn des Vorjahres beabsichtigt haben, obwohl der Projektvertrag dies gar nicht verlangt hat, geht dieses Missverständnis zu Lasten des Bieters.
103
Das Angebot der ASt weicht daher von den Mindestanforderungen der Vergabeunterlagen ab.
104
cc) Die Änderung an den Vergabeunterlagen ist auch nicht unerheblich oder geringfügig, so dass ausnahmsweise eine nachträgliche Korrektur zulässig sein könnte.
105
Die ASt kann sich auch nicht auf die Rechtsprechung des BGH (U.v. 18.06.2019, X ZR 86/17) berufen, weil sich der dort entschiedene Sachverhalt (hierzu siehe oben) grundlegend vom vorliegenden Sachverhalt unterscheidet.
106
Im vorliegenden Fall betrifft die Abweichung nicht eine Allgemeine Geschäftsbedingung, sondern ein individuell erarbeitetes Angebotskonzept des Bieters, das von den verbindlichen Vorgaben der Vertragsunterlagen abweicht, so dass schon aus diesem Grund eine Übertragung der BGH Entscheidung ausscheidet (vgl. OLG München, B.v. 20.01.2020, Verg 17/19; OLG Düsseldorf, B.v. 12.02.2020, Verg 24/19; VK Bund, B.v. 23.04.2021, VK 2 - 29/21).
107
Darüber hinaus läge ein lückenhaftes, nicht vertragskonformes Angebot der ASt vor, wenn ihr abweichendes Schulungskonzept bzw. die Erstellung des Schulungsplans hinweggedacht werden.
108
Soweit auch die ASt pauschal vorträgt, dass sie die Regelungen des Projektvertrags unstreitig anerkannt hat, verhindert dies kein unzulässiges Abweichen von den verbindlichen Vergabeunterlagen. Auf die obigen Ausführungen wird verwiesen.
109
c) Infolge der Abweichungen von den Mindestanforderungen in den Vergabeunterlagen ist der Ausschluss sowohl des Angebots der BGI als auch das der ASt gem. § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV (bzw. 4.4 (a) der Bewerbungsbedingungen) zwingend geboten.
110
Auf die weiteren von den Beteiligten aufgeführten Ausschlussgründe kommt es somit nicht an. Ebenso erübrigt sich eine detaillierte Überprüfung der Konzeptbewertungen.
111
Im Ergebnis ist die ASt, trotz ihres eigenen Angebotsausschlusses (Stichwort 2. Chance), durch das Vergabeverfahren in ihren Rechten verletzt.
112
d) Bei fortbestehender Beschaffungsabsicht hat die VSt das Vergabeverfahren in den Stand vor Abgabe der endgültigen Angebote zurückzuversetzen.
113
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 182 GWB.
114
a) Die VSt und die BGI tragen die Verfahrenskosten als Gesamtschuldner je zur Hälfte, weil sie jeweils mit ihren Anträgen unterlegen sind, § 182 Abs. 3 Satz 1 und 2 GWB.
115
b) Die Kostenerstattungspflicht gegenüber der ASt ergibt sich aus § 182 Abs. 4 Satz 1 GWB.
116
c) Die Hinzuziehung eines anwaltlichen Bevollmächtigten war für die ASt notwendig (§ 182 Abs. 4 Satz 4 GWB i.V.m. Art. 80 Abs. 2 Satz 3 BayVwVfG entspr.). Es handelt sich um einen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht nicht einfach gelagerten Fall, sodass es der ASt nicht zuzumuten war, das Verfahren vor der Vergabekammer selbst zu führen.
117
d) Die Gebühr war nach § 182 Abs. 2 und Abs. 3 GWB festzusetzen. Im Hinblick auf die Bruttoangebotssumme der ASt und unter Zugrundelegung eines durchschnittlichen personellen und sachlichen Aufwands der Vergabekammer errechnet sich entsprechend der Tabelle des Bundeskartellamtes eine Gebühr in Höhe von …,- €. Weder der Auftragswert noch der Aufwand rechtfertigen im gegenständlichen Nachprüfungsverfahren eine Erhöhung über …,- € (§ 182 Abs. 2 Satz 2, 2. Halbsatz GWB).
118
e) Der geleistete Kostenvorschuss von …,- € wird nach Bestandskraft dieses Beschlusses an die ASt zurücküberwiesen.