Titel:
Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Nichtvorlage eines ärztlichen Fahreignungsgutachtens (psychische Erkrankung, schwere chronische Bronchitis) - Anfechtungsklage
Normenketten:
VwGO § 113 Abs. 1 S. 1
StVG § 2 Abs. 8, § 3 Abs. 13
FeV § 11 Abs. 2, Abs. 6, Abs. 8, § 46 Abs. 1, Abs. 3
FeV Anl. 4 Nr. 7.5, Nr. 7.6, Nr. 11.3
Leitsatz:
Das Bekanntwerden einer psychischen Erkrankung und schwerer Atemwegserkrankungen stellt einen hinreichenden Anlass dar, der aufklärungsbedürftige Zweifel an der Fahreignung des Betroffenen begründet. Dabei ist es unerheblich, ob die Fahrerlaubnisbehörde von diesem Umstand in einem Kontext erfährt, der in keinem Zusammenhang mit seiner Teilnahme am Straßenverkehr steht, wie etwa durch Gutachten verschiedener Fachärzten für Psychiatrie zur Frage einer Einrichtung bzw. Abbestellung einer Betreuung des Betroffenen. (Rn. 37 und 39) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Anfechtungsklage, Entziehung der Fahrerlaubnis, Nichtvorlage des geforderten ärztlichen Gutachtens, 83-jährige Fahrerlaubnisinhaberin, Zweifel an der Fahreignung (psychische Erkrankung, schwere chronische Bronchitis), aufklärungsbedürftige Zweifel an der Fahreignung, Teilnahme am Straßenverkehr, Facharztgutachten zur Frage einer Betreuung
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 16.05.2022 – 11 ZB 21.3174
Fundstelle:
BeckRS 2021, 53570
Tenor
I.Die Klage wird abgewiesen.
II.Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Tatbestand
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Die 1937 geborene Klägerin wendet sich gegen die Entziehung ihrer Fahrerlaubnis der Klassen A1, BE, C1E und aller darin enthaltenen Klassen.
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1. Mit Schreiben der Polizeiinspektion Bad Brückenau vom 14. August 2020 wurde dem Landratsamt Bad Kissingen (nachfolgend: Landratsamt) bekannt, dass sich die Klägerin in einem besorgniserregenden Gesundheitszustand befinde; so sei sie nach einem kurzen Fußweg an ihre physische Belastungsgrenze gekommen. Aus Sicht der Polizei bedürfe es einer dringenden ärztlichen Begutachtung hinsichtlich der Fahrtüchtigkeit. Die gesetzliche Betreuerin der Klägerin habe gegenüber der Polizei versichert, dem Landratsamt entsprechende ärztliche Gutachten vorzulegen. Ausweislich eines daraufhin übermittelten Gutachtens eines Facharztes für Neurologie und Psychiatrie vom 30. Oktober und 18. November 2019, welches im Zuge des Verfahrens zur Einrichtung der Betreuung für die Klägerin erstellt wurden war, geht hervor, dass die Klägerin im Sinne einer schizoaffektiven Psychose (ICD-10: F 25.9) dauerhaft krank und krankheitsuneinsichtig sei. Offenbar sei die Klägerin bereits 2017 zur stationären psychiatrischen Behandlung für sechs Wochen im Bezirkskrankenhaus untergebracht gewesen, Unterlagen lägen jedoch nicht vor.
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Auf die Bitte des Landratsamts um Vereinbarung eines Termins meldete sich die Klägerin am 26. August 2020 beim Landratsamt und teilte mit, dass sie aufgrund der Situation mit Covid-19 keinen persönlichen Termin am Landratsamt wahrnehmen werde. Sie leide an Asthma bronchiale und starker chronischer Bronchitis. Auch deshalb brauche sie ihr Auto, da sie sehr schlecht atmen und laufen könne. Gegen die eingerichtete Betreuung wolle sie gerichtlich vorgehen.
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Mit Schreiben vom 31. August 2020 teilte das Landratsamt der Klägerin unter Bezugnahme auf die Mitteilung der Polizeiinspektion Bad Brückenau vom 14. August 2020, das Gutachten vom 18. November 2019 und die sich daraus ergebende Diagnose einer schizoaffektiven Psychose, sowie die persönlichen Angaben der Klägerin im Rahmen des Telefonats vom 26. August 2020 mit, dass Zweifel an ihrer Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen bestünden. Bei Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung könne die Fahrerlaubnisbehörde die Vorlage eines ärztlichen Gutachtens nach § 46 Abs. 3 FeV i.V.m. § 11 Abs. 2 FeV i.V.m. Nr. 7.5, Nr. 7.6 und Nr. 11.3 der Anlage 4 zur FeV anordnen. Daher werde nach Ausübung pflichtgemäßen Ermessens und nach Abwägung der Gesamtumstände ein ärztliches Gutachten angeordnet, das bis zum 30. Oktober 2020 vorzulegen sei. Es seien folgende Fragen zu beantworten: „Liegt bei der Klägerin eine Erkrankung vor, die nach Nr. 7 und Nr. 11 der Anlage 4 FeV die Fahreignung infrage stellt? Wenn ja: ist die Klägerin (wieder) in der Lage, den Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppen 1 und 2 vollständig gerecht zu werden? Liegt eine ausreichende Compliance vor und wird diese auch umgesetzt (Adhärenz)? Sind Beschränkungen und/oder Auflagen erforderlich, um den Anforderungen an das Führen eines Kraftfahrzeugs weiterhin gerecht zu werden? Ist bzw. sind insbesondere fachlich einzelfallgegründete Auflage(n) erforderlich? Ist eine fachlich einzelfallbegründete Nachuntersuchung erforderlich?“ Die Klägerin wurde darauf hingewiesen, dass bei Nichtvorlage des Gutachtens auf ihre Nichteignung zum Führen von Kraftfahrzeugen geschlossen werden könne, § 11 Abs. 8 FeV.
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Mit einem Schreiben (Zugang 10.9.2020) äußerte sich die Klägerin gegenüber der Behörde sinngemäß dahingehend, dass sie die Termine nicht einhalten könne und der Polizeibericht nicht ihrem tatsächlichen Gesundheitszustand entspreche und dadurch nicht ihre Fahrfähigkeit beeinflussen könne.
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Auf die Erinnerung des Landratsamts an die Vorlage eines Gutachtens vom 25. September 2020 teilte die Klägerin mit Schreiben vom 30. September 2020 mit, dass sie aufgrund des hohen Gesundheitsrisikos die vorgegebenen Termine nicht einhalten könne. Die gewünschten Gutachten würde sie auf Amtskosten vornehmen. Sie habe ansonsten keinen Grund eine Untersuchung zu verweigern.
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Mit Schreiben vom 3. November 2020 hörte das Landratsamt die Klägerin zur beabsichtigten Entziehung ihrer Fahrerlaubnis an. Daraufhin teilte die Klägerin mit, dass gegen dieses Verfahren Einspruch erhoben und rechtliche Schritte eingeleitet worden seien; es sei Widerspruch eingelegt.
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Am 8. November 2020 zeigte die bisherige Betreuerin der Klägerin die Aufhebung der Betreuung an und übermittelte zugleich eine psychiatrische Stellungnahme vom 8. August 2020, die anlässlich der Aufhebung der Betreuung erstellt worden war. Aus diesem Gutachten geht hervor, dass bei der Klägerin eine paranoide Psychose unklarer Genese vorliege, welche vermutlich chronifiziert sei, da die Erkrankungssituation mindesten seit 2018 bekannt sei. Eine Krankheitseinsicht sei nicht gegeben.
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Mit Schreiben vom 19. November 2020 teilte die Klägerin dem Landratsamt sinngemäß mit, dass sie aufgrund ihrer Wohnortsituation dringend auf ein Auto angewiesen sei.
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Mit kostenpflichtigem Bescheid vom 11. Januar 2021 entzog das Landratsamt Bad Kissingen der Klägerin die Fahrerlaubnis (Nr. 1) und gab ihr auf, den Führerschein Nr. … unverzüglich, spätestens bis zum 28. Januar 2021 abzugeben (Nr. 2). Für den Fall der Nichtbefolgung der Abgabepflicht in Ziffer 2 wurde ein Zwangsgeld in Höhe von 500,00 EUR angedroht (Nr. 4) und die Ziffern 1 und 2 für sofort vollziehbar erklärt (Nr. 3). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass sich die Klägerin als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen habe, weil sie das zurecht geforderte Gutachten nicht vorgelegt habe, und ihr deshalb die Fahrerlaubnis zu entziehen sei. Der Bescheid wurde der Klägerin am 14. Januar 2021 zugestellt.
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Mit Schreiben vom 20. Januar 2021 legte die Klägerin „Einspruch“ gegen den Bescheid ein. Der Bescheid entbehre jeder sachlichen Grundlage.
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Mit Schreiben vom 27. Januar 2021 teilte ihr das Landratsamt mit, dass zur Überzeugung der Behörde die Klägerin an einer psychischen Erkrankung leide und deshalb dem Widerspruch nicht abgeholfen werde. Die Klägerin erhalte die Gelegenheit, ihren Widerspruch zurückzunehmen und werde erneut aufgefordert, ihren Führerschein abzugeben, da sonst das Zwangsgeld fällig gestellt werde. Nachdem eine Abgabe des Führerscheins nicht erfolgte, stellte das Landratsamt mit Schreiben vom 8. Februar 2021 das Zwangsgeld fällig und bat die Polizei, den Führerschein bei der Klägerin einzuziehen. Mit Schreiben vom 5. Februar 2021 teilte die Klägerin mit, dass sie die Gutachten nicht verweigert habe, jedoch aufgrund der Situation in Bezug auf Corona der Aufforderung nicht habe nachkommen können. Überdies sei die Mitteilung der Polizei vom 14. August 2020 unzutreffend und bei den anderen genannten Umständen handele es sich um medizinische Falschdiagnosen. Mit Schreiben vom 18. Februar 2021 teilte die Polizei mit, dass eine Einziehung des Führerscheins erfolglos gewesen sei, da die Klägerin schon nicht die Haustüre geöffnet und sodann durch die Tür mitgeteilt habe, dass sie ihren Führerschein nicht finden könne.
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Mit Schreiben vom 15. März 2021 wiederholte die Klägerin ihren „Einspruch“ gegen die Fahrerlaubnisentziehung. Daraufhin legte das Landratsamt am 9. April 2021 den Widerspruch der Regierung von Unterfranken zur Entscheidung vor. Dies wurde der Klägerin mit Schreiben vom 20. April 2021 mitgeteilt.
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2. Bereits am 14. April 2021 erhob die Klägerin Klage gegen den Entzug der Fahrerlaubnis, ohne einen konkreten Antrag zu stellen.
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Mit weiterem Schreiben vom 23. April 2021 trug die Klägerin zur Begründung ihrer Klage vor, sie habe niemals einen Fehler oder Vergehen im Straßenverkehr begangen. Es gebe keinen Anlass hierfür, sowohl die Polizei als auch die medizinischen Gutachter hätten die Sachlage falsch bzw. gesetzeswidrig beurteilt.
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Mit Schriftsatz vom 29. April 2021 teilte das Landratsamt dem Gericht mit, dass die Klage bereits verfristet sei, die Klägerin jedoch fristgerecht Widerspruch erhoben habe.
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Mit kostenpflichtigem Widerspruchsbescheid vom 11. Mai 2021 wies die Regierung von Unterfranken den Widerspruch zurück. Im Wesentlichen wurde ausgeführt, der Bescheid vom 11. Januar 2021 sei rechtmäßig und verletze die Klägerin nicht in ihren Rechten, da auf ihre Nichteignung geschlossen werden könne, nachdem sie das zu Recht geforderte Gutachten nicht vorgelegt habe. Die dem Landratsamt bekannt gewordenen Tatsachen hätten entsprechende Zweifel an der Fahreignung begründet. Bei Manien und schweren Depressionen sowie schizophrenen Psychosen sei nach Nr. 7.5 bzw. Nr. 7.6 der Anlage 4 zur FeV eine Fahreignung nicht bzw. nur unter bestimmten Voraussetzungen gegeben. Bei schweren Lungen- oder Bronchialerkrankungen mit schweren Rückwirkungen auf die Herz-Kreislauf-Dynamik liege keine Fahreignung für die Gruppen 1 und 2 vor, Nr. 11.3 der Anlage 4 zur FeV. Die Anordnung zur Beibringung eines ärztlichen Gutachtens eines Arztes einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung vom 31. August 2020 sei formell und materiell rechtmäßig gewesen, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig. So handele es sich bei der einmaligen Nennung von „Nr. 4 und 6“ im Text um einen offensichtlichen Schreibfehler, der rechtlich unschädlich sei. Die Angabe sei nicht geeignet, bei der Klägerin oder dem die Begutachtung durchführenden Arzt Zweifel über Anlass der Begutachtung aufkommen zu lassen. Das Landratsamt habe die Gutachtensanordnung mit § 46 Abs. 3 i.V.m. § 11 Abs. 2 i.V.m. Nrn. 7.5, 7.6 und 11.3 der Anlage 4 zur FeV auf die zutreffende Rechtsgrundlage gestützt, auch in den Fragestellungen waren die Nrn. 7 und 11 genannt. Insoweit sei unschädlich, dass hier nicht die konkreten Unternummern aufgeführt worden seien, da diese zum einen bereits zuvor genannt seien und sich zudem aus der Begründung eindeutig ergebe, dass der konkrete Begutachtungsanlass eine schizoaffektive Psychose sowie eine schwere Bronchitis seien. Die Frist von zwei Monaten sei angemessen gewesen und die Klägerin sei auf die Folgen einer Nichtbeibringung hingewiesen worden. Das nach § 11 Abs. 2 Satz 3 FeV eröffnete Ermessen sei pflichtgemäß ausgeübt worden. Ein hinreichender Grund für die Nichtbeibringung des Gutachtens sei nicht vorgebracht. Insbesondere könne die Zugehörigkeit der Klägerin zu einer Corona-Risikogruppe nicht dazu führen, dass sie sich einer Begutachtung auf unbestimmte Zeit entziehen könne. Sämtliche Begutachtungsstellen für Fahreignung verfügten über ein Hygienekonzept und stellten durch Hygienemaßnahmen und entsprechende Terminierung auch in Pandemiezeiten einen bestmöglichen Schutz für die Betroffenen sicher. Die Aufhebung der Betreuung während des laufenden Verwaltungsverfahrens habe nicht zur Einstellung des Verfahrens führen können, da sich auch aus dem weiteren vorgelegten Gutachten die Diagnose einer paranoiden Psychose unklarer Genese ergebe und eine Krankheitseinsicht nicht bestehe. Damit sei der Entzug der Fahrerlaubnis zu Recht erfolgt und der Führerschein infolgedessen abzugeben. Der Widerspruchsbescheid wurde der Klägerin am 14. Mai 2021 zugestellt.
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Mit Schriftsatz vom 17. Mai 2021 bezog die Klägerin sinngemäß den Widerspruchsbescheid vom 11. Mai 2021 in ihr Klagebegehren mit ein und legte als Anlage ihre als Erwiderung verfasste Stellungnahme an die Regierung von Unterfranken bei.
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Sodann beantragte der Beklagte, vertreten durch das Landratsamt Bad Kissingen, mit Schriftsatz vom 25. Mai 2021,
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Zur Begründung wurden im Wesentlichen die Ausführungen aus dem Entziehungsbescheid wiederholt und auf die Begründung des Widerspruchsbescheids verwiesen.
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In ihren weiteren Schriftsätzen (31.5.2021, 6.6.2021, 7.9.2021) hielt die Klägerin sinngemäß an ihrer Rechtsauffassung fest, dass die Entziehung der Fahrerlaubnis rechtswidrig gewesen sei. Auf die Schriftsätze wird verwiesen.
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3. Mit Schriftsatz vom 16. bzw. 20. September 2021 erklärten sich die Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
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Mit Beschluss vom 6. Oktober 2021 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Behördenakte verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Über die Klage konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da die Beteiligten auf deren Durchführung verzichtet haben, § 101 Abs. 2 VwGO.
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1. Die erhobene Klage ist sinngemäß dahingehend auszulegen, dass die Klägerin eine Aufhebung des Bescheids des Landratsamts Bad Kissingen vom 11. Januar 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids der Regierung von Unterfranken vom 11. Mai 2021 begehrt, § 88 VwGO.
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Die Klage ist als Anfechtungsklage zulässig, insbesondere ist sie entgegen der Auffassung des Beklagten zu keinem Zeitpunkt verfristet gewesen.
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Die Klage ist zulässig, wenn sämtliche Sachurteilsvoraussetzungen vorliegen. Zu den besonderen Sachurteilsvoraussetzungen der Anfechtungsklage gehören die Durchführung des Vorverfahrens, §§ 68 ff. VwGO, die Klagefrist nach § 74 Abs. 1 VwGO sowie die Klagebefugnis, § 42 Abs. 2 VwGO. Wird der Widerspruchsbescheid angefochten, ist zusätzlich § 79 VwGO zu beachten.
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Grundsätzlich ist während eines statthaften und noch offenen Widerspruchsverfahrens die Erhebung einer Klage unstatthaft, vgl. § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Dies gilt jedoch dann nicht, wenn die Widerspruchsbehörde über den Widerspruch ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat, § 75 Satz 1 VwGO. Dann ist die Erhebung einer Anfechtungsklage zulässig, ohne dass es einer Entscheidung über den Anfechtungswiderspruch bedürfte, da das Klagebegehren auf die Aufhebung der behördlichen Entscheidung gerichtet ist. Gleiches gilt, wenn die Behörde zu erkennen gibt, dass sie in der Sache keine Entscheidung treffen wird. Für die Beurteilung des Gerichts, ob die Klage (schon) zulässig ist, kommt es auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung an (Kopp/Schenke, VwGO, 26. Aufl. 2020, § 75 Rn. 11). In der Sache handelt es sich bei § 75 VwGO um eine zusätzliche Prozessvoraussetzung (Kopp/Schenke, a.a.O., Rn. 1; vgl. VG Würzburg, U.v. 1.10.2021 - W 6 K 21.25, BeckRS 2021, 30549 Rn. 27, beck-online).
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Maßgebend für die Beurteilung dieser Sachurteilsvoraussetzungen sind die rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung (BVerwG NVwZ 2018, 986 Rn. 17; Eyermann/Happ, 15. Aufl. 2019, VwGO § 42 Rn. 24; Kopp/Schenke, Vorb. § 40 Rn. 11). Wird im schriftlichen Verfahren entschieden, kommt es auf den Zeitpunkt der letzten gerichtlichen Entscheidung an.
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Der Entziehungsbescheid vom 11. Januar 2021 wurde der Klägerin am 14. Januar 2021 zugestellt. Die Monatsfrist des hiergegen gegebenen Rechtsmittels - Klage oder alternativ Widerspruch - lief damit bis zum 15. Februar 2021, da der 14. Februar 2021 ein Sonntag war. Vorliegend hat die Klägerin am 20. Januar 2021 „Einspruch“ erhoben, der sinngemäß als Widerspruch auszulegen war und von der Behörde auch so verstanden wurde. Über den Widerspruch wurde in der Folgezeit zunächst nicht entschieden, sodass die Klägerin am 14. April 2021 Klage vor dem Verwaltungsgericht erhob. Hierbei handelt es sich prozessual gesehen um eine Anfechtungsklage in Form einer Untätigkeitsklage, § 75 Satz 1 VwGO. Ungeachtet dessen, dass zu diesem Zeitpunkt höchstwahrscheinlich keine Untätigkeit der Verwaltung vorgelegen hat, sodass zum Zeitpunkt der erstmaligen Anhängigkeit eine Zulässigkeit wohl zu verneinen gewesen wäre, kommt es darauf nicht an, da eine Untätigkeitsklage in ihre Zulässigkeit durch Zeitablauf hineinwachsen kann, da maßgeblicher Zeitpunkt vorliegend derjenige der gerichtlichen Entscheidung ist. Nachdem in der Folgezeit die Widerspruchsbehörde mit Bescheid vom 11. Mai 2021, der Klägerin zugestellt am 14. Mai 2021, über den eingelegten Widerspruch entschieden hatte, hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 17. Mai 2021 gegenüber dem Gericht eindeutig ihren Willen bekundet, den Widerspruchsbescheid zum Gegenstand ihrer Klage machen zu wollen und hat diesen damit zum Verfahrensgegenstand gemacht. Hierbei handelt es sich um eine zulässige Erweiterung des Streitgegenstands nach § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 264 Nr. 2 ZPO.
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Zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts war die von der Klägerin erhobene Anfechtungsklage gegen den Bescheid des Landratsamts vom 11. Januar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11. Mai 2021 damit zulässig.
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2. Die Klage hat jedoch keinen Erfolg, da sie unbegründet ist. Denn der Bescheid des Landratsamts Bad Kissingen vom 11. Januar 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids der Regierung Unterfranken vom 11. Mai 2021 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Der Klägerin wurde zu Recht die Fahrerlaubnis entzogen und die Rückgabe des Führerscheins gefordert. Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist das Gericht zunächst auf die zutreffenden Ausführungen des Entziehungssowie Widerspruchsbescheids (§ 117 Abs. 5 VwGO). Ergänzend ist Folgendes auszuführen:
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Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG i.V. m. § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich deren Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 zur FeV vorliegen und dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist. Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken gegen die Eignung des Fahrerlaubnisinhabers zum Führen von Kraftfahrzeugen begründen, finden gemäß § 46 Abs. 3 FeV die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung. Gemäß Anlage 4 zur FeV ist bei bestimmten Erkrankungen die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen im Straßenverkehr teilweise ausgeschlossen, teilweise wird die Eignung abhängig von den Umständen des Einzelfalls beurteilt. Nach der hier einschlägigen Norm des § 11 Abs. 2 Satz 1 und 2 FeV ordnet die Fahrerlaubnisbehörde die Beibringung eines fachärztlichen Gutachtens an, wenn Tatsachen bekannt sind, die Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung begründen. Weigert sich der Betroffene, sich untersuchen zu lassen oder bringt er der Fahrerlaubnisbehörde das von ihr geforderte Gutachten nicht fristgerecht bei, so darf sie bei ihrer Entscheidung gemäß § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV auf die Nichteignung des Betroffenen schließen. Voraussetzung ist allerdings insoweit, dass die Untersuchungsanordnung rechtmäßig ist und die Weigerung ohne ausreichenden Grund erfolgt (BVerwG, U.v. 9.6.2005 - 3 C 25/04 - DAR 2005, 581; BayVGH, B.v. 25.6.2008 - 11 ZB 08.1123 - juris).
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Die behördlicherseits vorgegebene Fragestellung in der Gutachtensanordnung muss insbesondere den sich aus § 11 Abs. 6 Satz 1 FeV ergebenden Anforderungen gerecht werden. Der Betroffene soll sich für den Fall der Rechtmäßigkeit der Gutachtensanordnung auch darüber schlüssig werden können, ob er die mit einer Begutachtung regelmäßig verbundenen Eingriffe in sein Persönlichkeitsrecht und/oder sein Recht auf körperliche Unversehrtheit hinnehmen oder sich - mit der Gefahr, seine Fahrerlaubnis entzogen zu bekommen - einer entsprechenden Begutachtung verweigern will. In materieller Hinsicht setzt die Rechtmäßigkeit der Anordnung der Untersuchung vor allem voraus, dass sie den Grundsätzen der Anlassbezogenheit und Verhältnismäßigkeit genügt (vgl. BayVGH, B.v. 11.2.2008 - 11 C 08.1030 - juris). Vor diesem Hintergrund und im Hinblick darauf, dass eine Gutachtensanordnung nicht isoliert mit Rechtsmitteln angegriffen werden kann, kann auf die strikte Einhaltung der vom Verordnungsgeber für die Rechtmäßigkeit einer solchen Anordnung aufgestellten formalen Voraussetzungen nicht verzichtet werden (vgl. BayVGH, B.v. 27.11.2012 - 11 ZB 12.1596 - ZfSch 2013, 177).
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Nachdem die Klägerin der zu Recht ergangenen Aufforderung vom 31. August 2020 zur Beibringung eines ärztlichen Gutachtens ohne hinreichenden Grund nicht nachgekommen ist, durfte der Beklagte gemäß § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV wegen der Nichtbeibringung des geforderten Gutachtens auf die Nichteignung der Klägerin schließen, die Fahrerlaubnis entziehen und die Herausgabe des Führerscheins anordnen, § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG i.V.m. § 46 Abs. 1 und Abs. 3 FeV, § 47 Abs. 1 FeV.
37
Das Bekanntwerden der psychischen Erkrankung einerseits und den schweren Atemwegserkrankungen (nach eigener Aussage der Klägerin vom 26. August 2020 könne sie deshalb sehr schwer atmen und laufen) andererseits, stellt einen hinreichenden Anlass dar, der gemäß § 46 Abs. 3 i.V.m. § 11 Abs. 2 Satz 1 FeV i.V.m. Nrn. 7.5, 7.6 und 11.3 der Anlage 4 zur FeV aufklärungsbedürftige Zweifel an der Fahreignung der Klägerin begründet. Diesbezüglich ist es unerheblich, dass die Fahrerlaubnisbehörde von diesem Umstand in einem Kontext erfuhr, der in keinem Zusammenhang mit einer Teilnahme der Klägerin am Straßenverkehr stand.
38
Die Gutachtensaufforderung ist hinreichend nach Art und Umfang bestimmt, die Fragestellung wahrt die Grenzen der Verhältnismäßigkeit, die gesetzte Frist von über zwei Monaten ist ebenfalls ausreichend. Die genannte Rechtsgrundlage ist zutreffend, das eröffnete Ermessen wurde fehlerfrei ausgeübt. Die erforderlichen Hinweise auf einen Arzt nach § 11 Abs. 2 Nr. 5 FeV und Anlage 14 zur FeV sowie § 11 Abs. 6 Satz 2 FeV sind enthalten. Sonstige Fehler sind weder ersichtlich noch wurden sie dargelegt. Das Gericht schließt sich vollumfänglich den zutreffenden Ausführungen im Widerspruchsbescheid an. Der Beklagte hat in der Gutachtensaufforderung auf die Folgen einer Nichtbeibringung gemäß § 11 Abs. 8 Satz 2 FeV hingewiesen. Nachdem die Klägerin dieser Aufforderung nicht nachgekommen ist, erfolgte die Entziehung der Fahrerlaubnis rechtmäßig.
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Mit dem Einwand, die in Bezug genommenen medizinischen Gutachten bzw. der Polizeibericht vom 14. August 2020 seien rechtswidrig bzw. auf einer unzutreffenden Grundlage erstellt, kann die Klägerin nicht durchdringen. Denn ihr Vorbringen ist pauschal und wenig nachvollziehbar, sodass es deren Aussagekraft und die sich daraus ergebenden Zweifel nicht zu erschüttern vermag. Die Klägerin hat weder dargelegt, noch ist ersichtlich, weshalb die Mitteilung der Polizei vom 14. August 2020 fehlerhaft sein sollte. Ebenso wenig ist ersichtlich oder dargelegt, weshalb die beiden Gutachten vom 30. Oktober 2019 bzw. 8. August 2020, die im Rahmen des Betreuungsverfahrens für das Betreuungsgericht Bad Kissingen erstellt wurden, fehlerhaft oder auf einer unzutreffenden Grundlage erstellt worden sein sollten. Die Gutachten wurden von zwei verschiedenen Fachärzten für Psychiatrie zur Frage einer Einrichtung bzw. Abbestellung einer Betreuung der Klägerin erstellt. Die Einwände der Klägerin erscheinen umso mehr unberechtigt, als zwei voneinander unabhängige Gutachter der Klägerin in ihren Stellungnahmen eine fehlende Krankheitseinsicht hinsichtlich ihrer psychischen Erkrankung bescheinigt haben.
40
Soweit die Klägerin wiederholt vorbringt, sie sei zwingend auf ihr Fahrzeug angewiesen, kann sie damit nicht gehört werden. Die sicherheitsrechtliche Fahrerlaubnisentziehung ist eine präventive Maßnahme zum Schutz der Sicherheit im Straßenverkehr. Sie mag im Einzelfall einschneidende Folgen für die Lebensführung des Betroffenen haben, jedoch können persönliche Härten für die Klägerin beim Entzug der Fahrerlaubnis, der als sicherheitsrechtliche Maßnahme im Interesse der Allgemeinheit ergeht, nicht berücksichtigt werden.
41
Bedenken im Hinblick auf die Nebenentscheidungen des verfahrensgegenständlichen Bescheids sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
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3. Die Klage war daher mit der Kostenfolge nach § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.