Titel:
Erfolgloser Eilantrag gegen Abschiebung in die russische Föderation
Normenketten:
VwGO § 123 Abs. 1
VwVfG § 51 Abs. 1
AsylG § 71 Abs. 1
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7, § 60a Abs. 2c S. 2, S. 3
Leitsätze:
1. Lehnt das Bundesamt einen Asylfolgeantrag wegen Unzulässigkeit ab und erlässt aufgrund der im Asylerstverfahren ergangenen vollziehbaren Abschiebungsandrohung keine erneute Abschiebungsandrohung, so ist im vorläufigen Rechtsschutzverfahren weiterhin der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO die statthafte Antragsart (Anschluss an VGH Mannheim BeckRS 2018, 32545). (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Zeugenaussage ist als Beweismittel „neu“, wenn der Zeuge während des abgeschlossenen Verfahrens zwar bereits existent war, sich aber erst nach dessen Abschluss zur Aussage bereitgefunden hat. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
3. Eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung im Sinne des § 60 Abs. 7 S. 2 iVm § 60a Abs. 2c S. 2 und S. 3 AufenthG ist die ärztliche Bescheinigung eines approbierten Arztes; Die Vorlage einer psychologischen/psychotherapeutischen Stellungnahme kann für sich danach keine tatsächlichen Anhaltspunkte für eine Erkrankung im Sinne des § 60a Abs. 3c S. 2 AufenthG begründen. (Rn. 35) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz, Folgeverfahren (Russische Föderation), kein Vorliegen von Wiederaufgreifensgründen, kein Vorliegen von Abschiebungsverboten, Abschiebung, russische Föderation, Folgeantrag, Wiederaufgreifen, Abschiebungsverbot, neues Beweismittel, Zeuge, qualifizierte ärztliche Bescheinigung, Psychologe, Psychotherapeut
Rechtsmittelinstanz:
BVerfG Karlsruhe, Beschluss vom 25.04.2022 – 2 BvR 2255/21
Fundstelle:
BeckRS 2021, 52499
Tenor
1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Der Antragsteller trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Gründe
1
Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz mit dem Ziel, bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens nicht in die Russische Föderation abgeschoben zu werden.
2
Der Antragsteller ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation mit tschetschenischer Volks- und muslimischer Religionszugehörigkeit. Er reiste nach eigenen Angaben am 10. Dezember 2017 auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 15. Dezember 2017 einen Asylantrag. Mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) vom 28. Mai 2018 wurde sein Antrag vollumfänglich abgelehnt und die Abschiebung in die Russische Föderation angedroht. Die hiergegen beim Bayerischen Verwaltungsgericht Bayreuth erhobene Klage wurde mit Urteil vom 20. November 2020 (B 9 K 18.31145) abgewiesen. Den Antrag auf Zulassung der Berufung lehnte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 19. Februar 2021 (11 ZB 21.30237) ab.
3
Mit Schreiben seiner Prozessbevollmächtigten vom 26. März 2021 beantragte der Antragsteller, das Asylverfahren wieder aufzugreifen und ihm internationalen Schutz (§§ 3, 4 des Asylgesetzes – AsylG) zuzuerkennen, äußerst hilfsweise, festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) hinsichtlich der Russischen Föderation vorliegen. Die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) seien gegeben. Am 11. November 2020 sei vom Antragsteller und seiner Mutter – nach der mündlichen Verhandlung beim Verwaltungsgericht Bayreuth und nach dem Entscheidungszeitpunkt – Beschwerde gegen die Russische Föderation beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erhoben worden. Sie würden hierbei von der Organisation Stichting Justice Initiative (The Netherlands) / Legal Assistance Organization „Astreya“ (Moscow) unterstützt. Die Leiterin dieser Organisation sei nach der Beschwerdeerhebung in anderer Sache der Russischen Föderation verwiesen worden, da ihre Aktivitäten eine Bedrohung für die russische Sicherheitslage seien. Hieraus könne man schließen, dass die Russische Föderation die Beanspruchung des EGMR zur Durchsetzung der Menschenrechte und Aufklärung der Gräueltaten der staatlichen Strukturen als Bedrohung wahrgenommen werde. Der Antragsteller wolle die Aufklärung der Tötung seines Bruders bewirken. Die Beweislast, dass die Russische Föderation diesen neben einer Vielzahl anderer junger Männer ermordet habe, sei erdrückend. Außerdem könne eine Stellungnahme der Organisation Memorial für die Mutter des Antragstellers eingereicht werden, mit der dessen Vortrag gestützt werde und aus der die für ihn bestehende Gefahrenlage deutlich werde.
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Mit Schreiben vom 31. März 2021 übersandte die Prozessbevollmächtigte des Antragstellers eine Stellungnahme von … vom 16. März 2021 auf Russisch, in der sie ausführe, dass sie als Zeugin hinsichtlich der Entführung junger Menschen vom Dezember 2016 bis Ende Januar 2017 auch die Entführung des Bruders des Antragstellers bestätige. Seit den Entführungen sei sie zusammen mit der Mutter des Antragstellers auf der Suche nach den Söhnen gewesen. Zunächst hätten sie beim ROWD von Schali einen Bericht über die Entführungen eingereicht. Die örtliche Polizeibehörde habe bestritten, dass die Söhne bei ihnen gewesen seien. Die Polizisten hätten sie (die Familienangehörigen) ständig eingeschüchtert, damit sie sich nicht bei den verschiedenen Behörden über die Entführung beschwerten. Trotz der Drohungen hätten sie weiter nach den jungen Männern gesucht. Nachdem die Anträge beim Innenministerium des Bezirks Shali nicht verfolgt worden seien, hätten sie sich an den Staatsanwalt von Grosny und den Untersuchungsausschuss Russlands gewandt, aber ihre Anträge seien nicht angenommen worden. Aus dem am 10. Juli 2017 von der Novaya Gazeta veröffentlichten Artikel „Es war eine Hinrichtung“ gehe eine Liste von 27 Personen hervor, die laut Zeitungsquellen von Beamten des tschetschenischen Innenministeriums in Grosny heimlich und willkürlich in der Nacht vom 25. auf den 26. Januar hingerichtet worden seien. In dieser Liste sei unter Nummer 6 der Bruder des Antragstellers bezeichnet. Im Jahr 2019 habe die Stiftung Rechtliche Initiative ihre Beschwerde beim EGMR eingereicht. Am 28. Januar 2020 sei sie eingeladen gewesen, bei der parlamentarischen Anhörung in Straßburg zu sprechen. Sie sei Zeugin im Entführungsfall der Söhne. Leider hätten der Antragsteller und seine Mutter wegen fehlender Dokumente nicht teilnehmen können. Sie habe daher auf dieser Konferenz im Namen aller Mütter aus der tschetschenischen Republik gesprochen, deren Söhne entführt worden seien. Weiter wurde ein Gutachten des MDK vom 8. März 2021 übersandt, aus dem hervorgehe, dass der Antragsteller seine Mutter pflegen müsse. Darüber hinaus habe der Antragsteller am 31. März 2021 eine Aussage getätigt, die als Beweismittel in einem Verfahren gegen die Russische Föderation Verwendung finden solle.
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Mit Schreiben vom 12. April 2021 übersandte die Prozessbevollmächtigte des Antragstellers eine Stellungnahme der Organisation Memorial vom 6. April 2021. Darin nehme die Organisation Stellung dazu, warum der Antragsteller auch in keinem anderen Gebiet der Russischen Föderation sicher wäre. Darüber hinaus wurden schriftliche Aussagen der Schwägerin des Antragstellers sowie seiner Tante väterlicherseits auf Russisch übersandt. Sie berichteten über die Vorfälle am 24. und 25. Dezember 2016, also die Mitnahme des Bruders des Antragstellers und seine begonnene Mitnahme. Weiter berichteten sie über die Suche nach dem Bruder des Antragstellers und über die erlittenen Bedrohungen.
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Mit Schreiben vom 14. Mai 2021 übersandte die Prozessbevollmächtigte des Antragstellers außerdem die deutsche Übersetzung seiner Aussage. Mit Schreiben vom 8. Juli 2021 wurde mitgeteilt, dass die Beschwerde des Antragstellers und seiner Mutter gegen die Russische Föderation vom EGMR zur Entscheidung angenommen worden sei. Weiter wurde mit Schreiben vom 22. Juli 2021 die klinisch-psychologische gutachterliche Stellungnahme der Dipl.-Psych. … vom 3. Juli 2021 übersandt. Diese stelle nach ausführlicher und sorgfältiger Exploration des Antragstellers u.a. die Diagnose einer Posttraumatischen Belastungsstörung aufgrund seiner als glaubhaft einzustufenden Erlebnisse.
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Mit Bescheid vom 21. Oktober 2021 lehnte das Bundesamt den Antrag als unzulässig ab (Ziffer 1 des Bescheides). Außerdem lehnte es den Antrag auf Abänderung des Bescheides vom 28. Mai 2018 (Az.: 7313251-160) bezüglich der Feststellung zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG ab (Ziffer 2 des Bescheides). Auf die Begründung des Bescheides wird gemäß § 77 Abs. 2 AsylG verwiesen. Der Bescheid wurde am 21. Oktober 2021 als Einschreiben zur Post gegeben.
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Mit Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten vom 4. November 2021, eingegangen beim Bayerischen Verwaltungsgericht Bayreuth am selben Tag, ließ der Antragsteller Klage gegen diesen Bescheid erheben (B 9 K 21.30834). Außerdem ließ der Antragsteller mit Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten vom 11. November 2021, eingegangen beim Bayerischen Verwaltungsgericht Bayreuth am 15. November 2021, beantragen,
vorläufig – bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens (B 9 K 21.30834) – anzuordnen, dass die Antragsgegnerin der zuständigen Ausländerbehörde mitteilt, dass die im Bescheid vom 21. Oktober 2021 unter 3. in Bezug genommene Abschiebungsandrohung (vom 28. Mai 2018) nicht vollziehbar ist.
die Zusicherung der Antragsgegnerin einzuholen, dass bis zur Entscheidung in hiesigem Eilverfahren keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen ergriffen werden,
hilfsweise, per Zwischenverfügung vorläufig bis zur Entscheidung in hiesigem Eilrechtsschutzverfahren anzuordnen, dass die Antragsgegnerin der zuständigen Ausländerbehörde mitteilt, dass die im Bescheid vom 21. Oktober 2021 unter 3. in Bezug genommene Abschiebungsandrohung (vom 28. Mai 2018) nicht vollzogen werden darf.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Anordnungsgrund der Eilbedürftigkeit liege an der Tatsache, dass nunmehr tatsächlich die Abschiebung vollzogen werden könnte. Denn offenbar liege bereits ein Schreiben der Russischen Behörden zur Rücknahmewilligkeit vor. Der Antragsteller habe auch einen Anordnungsanspruch, da die Voraussetzungen des § 51 VwVfG vorlägen. Der Antragsteller habe am 11. November 2021 Beschwerde gegen die Russische Föderation wegen des Verschwindens seines Bruders erhoben. Damit mache er deutlich, dass er sicher sei, dass die Russische Föderation selbst für das Verschwinden (bzw. den Tod) des Bruders verantwortlich sei, im Gegensatz zu der Darstellung der russischen Regierung, dass diese „verschwundenen“ Männer nach Syrien zum Kämpfen gegangen seien. Im Rahmen des Erstverfahrens habe vor dem Verwaltungsgericht Bayreuth lediglich geltend gemacht werden können, dass eine Beschwerde anhängig gemacht werden wollte. Daher habe das Gericht im Urteil vom 10. November 2020 hierzu noch keine rechtsverbindlichen Aussagen treffen können. Die Beschwerde sei inzwischen auch als zulässiges Verfahren angenommen worden. Weiter habe der Antragsteller eine Aussage als Zeuge getätigt, um eine weitere Lüge der russischen Behörden aufzudecken. Außerdem habe der Antragsteller eine Vielzahl neuer Beweismittel vorgelegt, die inhaltlich hätten gewürdigt werden müssen. Diese Beweismittel seien einerseits der Nachweis der neuen Tatsachen und somit des neuen Sachvortrags. Andererseits stützten sie den Vortrag aus dem Erstverfahren, und zwar auch den Teil, dessen Wahrheitsgehalt das Gericht in der mündlichen Verhandlung am 10. November 2020 in Zweifel gezogen habe. So habe die Antragsgegnerin versäumt zu erkennen, dass die Aussagen der Tante und der Schwägerin auch den Vorfall am 25. Dezember 2016 beträfen, der vom Gericht in Zweifel gezogen worden sei. Die Antragsgegnerin habe diese Beweismittel nicht gewürdigt, sondern ohne Mitteilung an die Prozessbevollmächtigte als unleserlich eingestuft. Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin enthalte die Stellungnahme von Memorial vom 6. April 2021 insofern andere Aussagen als die zuvor eingeführte Stellungnahme aus dem Jahr 2018. Sie berücksichtige weitere Umstände aus den Jahren 2020 und 2021, die im ersten Verfahren noch keine Rolle gespielt hätten. Hierzu zähle die Gefährdung des Antragstellers durch die Beschwerdeerhebung beim EGMR, dessen weitere Gefährdung aufgrund einer Zeugenaussage als auch die Benennung des Fehlens einer inländischen Fluchtalternative in der Russischen Föderation für den Antragsteller. Darüber hinaus habe sich die Gefährdung verschärft bzw. durch Abschiebungen anderer Personen bestätigt, die im Anschluss entweder verschwunden oder stark gefoltert und kontrolliert worden seien. Die Organisation beziehe sich in ihrer Stellungnahme explizit auf die Verfolgung der Familie …, insbesondere den Antragsteller. Inwiefern die Antragsgegnerin gemeint habe, die Stellungnahme nicht übersetzen lassen zu müssen, sei nicht erklärlich. Zur besseren Beurteilung werde ein Auszug aus der Arbeitsübersetzung der Stellungnahme von … (Memorial) vorgelegt. Die Prozessbevollmächtigte könne die Schilderungen zum Fall … bestätigen, zu dem sie immer noch Kontakt habe und der einem gemeinsamen Bekannten persönlich von seinen Erfahrungen und der erlittenen Folter berichtet habe. Memorial selbst stehe vor der Gefahr der Schließung aufgrund des Vorwurfs der ausländischen Agententätigkeit. Die Entscheidung hierüber werde am 25. November 2021 erwartet. Auf die vom Antragsteller getätigte Aussage für das Verfahren gegen die Russische Föderation hinsichtlich Herrn … gehe die Antragsgegnerin mit keinem Wort ein. Die Russische Föderation solle damit konfrontiert werden, dass hier angeblich Herr … am 17. Dezember 20316 einen Anschlag durchgeführt habe, der am 20. Dezember 2016 im Krankenhaus verstorben sein solle, obwohl er jedenfalls am 25. Dezember 2016 am Leben gewesen sei – wie es der Antragsteller habe bezeugen können. Auch hier sei der Antragsteller ein wichtiger Zeuge aufgrund seiner eigenen Verfolgungsgeschichte. Seine Aussage mache deutlich, wie die russischen Behörden mit (vermeintlichen) Terroristen umgingen. Dies bestätige das Bild der erniedrigenden Ermittlungsmethoden und auch, dass auf die Behörden kein Verlass im Hinblick auf den Wahrheitsgehalt der Aussagen sei. Die Stellungnahme von … vom 16. März 2021 erkläre die Verfolgung der Familienangehörigen der im Januar 2017 Hingerichteten durch die Russische Föderation. Der Antragsteller sei auch eingeladen gewesen, vor Ort zu sprechen, was ihm aufgrund seines Verfahrensstandes verwehrt worden sei. Aus diesen Gründen und Beweismitteln sei das Verfahren wieder aufzugreifen, denn der Antragsteller sei bei einer Rückkehr in die Russische Föderation gefährdet. Er führe ein Verfahren gegen sein Herkunftsland, das seinen Bruder getötet habe und dieses Verbrechen nicht zugeben wolle. Die Russische Föderation versuche, die Familie zu bewegen, eine Stellungnahme zu unterschreiben, dass der Bruder nach Syrien ausgereist sei. Es sei gedroht worden, wenn sie dies nicht machten, würde der Antragsteller dasselbe erfahren wie sein Bruder. Daraufhin sei die Mutter mit dem Antragsteller ausgereist. Weiter sei er Zeuge für eine Situation, die belege, wie die russischen Behörden die Unwahrheit verbreiteten und selbst für die Tötung von Personen verantwortlich seien, insbesondere für diejenigen, die von ihnen als Terroristen eingestuft würden.
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Jedenfalls bestehe ein Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes. Aufgrund der bereits erlebten Verfolgung bestehe ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), da zu erwarten sei, dass dem Antragsteller eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung drohe. Der Antragsteller habe mit Inhaftierung und Folter bei seiner Rückkehr zu rechnen, weil der Bruder einer der im Januar 2017 hingerichteten vermeintlichen Terroristen sei. Die Situation in Tschetschenien und in der gesamten Russischen Föderation sei für Tschetschenen mit russischer Staatsangehörigkeit keineswegs stabil. Es drohten Gefahren, welche sich in Folge von Verfolgungsdruck durch staatliche Behörden sowie in Folge von Behördenwillkür ergeben könnten. Nach Erkenntnissen der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial habe sich der Verfolgungsdruck der russischen Behörden gegenüber der muslimischen Bevölkerung seit 2005 verstärkt. Diesbezüglich wird auf einen Bericht der Organisation aus dem Jahr 2016, auf Lageberichte des Auswärtigen Amtes vom Januar 2017, Mai 2018, Februar 2019 und Februar 2021 sowie auf die englische Zusammenfassung eines Berichts des norwegischen Herkunftsländerinformationszentrums vom Oktober 2016 verwiesen. Außerdem nimmt die Prozessbevollmächtigte auf eine Entscheidung des österreichischen Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) vom 14. September 2017, Berichte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) vom April 2017 und März 2018 sowie auf einen Bericht von Human Rights Watch (HRW) vom Mai 2017 Bezug. Der Kampf gegen den radikalen Islamismus sei das Hauptaugenmerk der tschetschenischen Autokratie und ihrer Aufstandsbekämpfung. Bezüglich des Antragstellers sei darauf hinzuweisen, dass er aufgrund seiner bereits erlittenen Menschenrechtsverletzungen, der Tötung seines Bruders, der Beschwerde beim EGMR, seiner Aussage als Zeuge und der damit klar oppositionellen Haltung besonders gefährdet sei. Insbesondere für Kämpfer bzw. deren Unterstützer und deren Familienmitglieder bestehe eine erhebliche Gefahr, in der Russischen Föderation von russischen Sicherheitskräften entführt, bedroht oder misshandelt zu werden. Ramzan Kadyrow habe nach einer Demonstration am 24. Dezember 2015 öffentlich gedroht, die Angehörigen der Teilnehmenden für deren Verhalten zur Rechenschaft zu ziehen. Offenbar sei auch bereits vor der Demonstration klargestellt worden, dass aus Sicht Kadyrows keine Exiltschetschenen das Recht hätten, sich über Tschetschenien zu äußern. Bereits im 2016 veröffentlichten Video von Caucasian Knot auf YouTube, drohe Ramzan Kadyrow allen Tschetschenen, die sich in Europa aufhielten, dass sie gläsern seien, wenn sie in ihr Heimatland zurückkehrten. Alle Einträge in sozialen Medien würden ausgewertet. Der Präsident Tschetscheniens habe schon mehrfach eine klare Botschaft im Hinblick auf die Kämpfer und deren Unterstützer verbreiten lassen. Unter anderem habe er in einem am 2. Dezember 2017 veröffentlichten Interview gesagt, dass Terroristen zerstört werden müssten. Für diese sei auch die Todesstrafe angemessen. Seit langem sei bekannt, dass er damit nicht nur die Terroristen selbst meine. Diesbezüglich wurde auf einen Bericht der Frankfurter Rundschau im Dezember 2014 verwiesen. Wie die Lageberichte darlegen, sei dies nach wie vor aktuell. Insbesondere seien selbstverständlich nunmehr Personen betroffen, die aus Europa zurückkehrten. Kadyrow brauche weiterhin Personen zur Verfolgung, um sein repressives System aufrechterhalten zu können. Es sei auch hier damit zu rechnen, dass der Antragsteller direkt am Flughafen vom FSB verhört werde bevor er nach Tschetschenien zurückgeführt werde. Auch dort werde er damit rechnen müssen, dass er irregulär mitgenommen, festgehalten, befragt und gefoltert werde. Dies gelte insbesondere, da der Bruder als Terrorist getötet worden sei, was weder die Antragsgegnerin noch das Gericht in Abrede gestellt hätten. Darüber hinaus habe der Antragsteller einen Anspruch nach § 60 Abs. 7 AufenthG aufgrund seiner Erkrankung. Er leide, wie im Gutachten diagnostiziert, unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin sei nicht ersichtlich, warum Zweifel an der Fähigkeit zur Diagnosestellung zu ziehen seien. Bei der Ausstellenden handele es sich um eine Diplom-Psychologin, die gesetzlich und auch zu Abrechnungszwecken zur Diagnosestellung verpflichtet sei. Auch nach der bundesweit geltenden Psychotherapie-Richtlinie sowie den Berufsordnungen der Psychotherapeutenkammern gehöre die Diagnose zu den originären Aufgaben der Berufsgruppe, um mit einer Behandlung zu beginnen. Bei dem vorgelegten Gutachten handele es sich weder lediglich um Bescheinigungen noch um die behandelnde Psychotherapeutin, sondern eine Psychotherapeutin, die sich fünfmal mit dem Antragsteller und einer Dolmetscherin digital getroffen habe. Es erschließe sich nicht, inwiefern es für die Antragsgegnerin nicht nachvollziehbar sei, dass der Antragsteller keine Behandlung in Anspruch habe nehmen können. Schließlich bestehe ein Mangel an psychotherapeutischem Angebot in russischer oder tschetschenischer Sprache. Auch sei lange Zeit die Kostenübernahme für eine psychotherapeutische Behandlung abgelehnt worden und der Antragsteller sei falsch beraten worden, da ihm mitgeteilt worden sei, dass eine Psychotherapie mit Übersetzung nicht möglich sei. Inzwischen sei er der deutschen Sprache hinreichend mächtig. Die Ausführungen der Antragsgegnerin zu in Zweifel ziehenden Angaben des Antragstellers gingen ins Leere, da seine eigene Folter und das Verschwinden des Bruders vom Gericht nicht bezweifelt worden seien. Auch gebe es mit der Stellungnahme von Memorial, durch die vorgelegten Aussagen der Tante und der Schwägerin des Antragstellers sowie durch die Angaben seiner Mutter und die Beschwerde beim EGMR genügend Material, das den Wahrheitsgehalt der traumatisierenden Erlebnisse bestätige. Dass eine Retraumatisierung bei einer Rückkehr in die Russische Föderation mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit eintreten werde, sei alles andere als abwegig. Vielmehr gehe es bei den traumatisierenden Erlebnissen um Gewalterfahrungen durch die staatlichen Strukturen, die überall in der Russischen Föderation eine Wiederholung finden könnten. Es sei dem Antragsteller zuvor und bis heute nicht möglich gewesen, sich psychotherapeutisch behandeln zu lassen. Abgesehen von den vorgetragenen Missverständnissen habe dies auch daran gelegen, dass sich der Antragsteller um seine schwer kranke Mutter habe kümmern müssen.
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Für die Antragsgegnerin beantragte das Bundesamt mit Schriftsatz vom 18. November 2021,
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Zur Begründung wurde auf die Ausführungen des streitgegenständlichen Bescheides verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird entsprechend § 117 Abs. 3 Satz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) auf den Inhalt der Gerichts- und Behördenakten in diesem Verfahren sowie in den Verfahren B 9 K 21.30834 (Hauptsache) und B 9 K 18.31145 (Asylverfahren) Bezug genommen.
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Der zulässige Antrag bleibt in der Sache ohne Erfolg.
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1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig, insbesondere nach § 123 VwGO statthaft.
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Hieran ändert auch nichts, dass, soweit die Ablehnung der Durchführung eines weiteren Asylverfahrens bei Folgeanträgen nach aktueller Rechtslage als Unzulässigkeitsentscheidung gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG ergeht, nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nunmehr die Anfechtungsklage die statthafte Klageart ist (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4/16 – juris). Es liegt kein Fall des § 80 Abs. 5 VwGO vor, weil keine erneute Abschiebungsandrohung erlassen wurde und die Entscheidung, kein weiteres Asylverfahren durchzuführen, für sich betrachtet – ohne die bereits rechtskräftigen Abschiebungsandrohungen – keinen vollziehbaren Verwaltungsakt, aus dem die Vollstreckung droht, darstellt (so auch VGH BW, B.v. 29.11.2018 – 12 S 2504/18; VG Bayreuth, B.v. 11.7.2017 – B 6 E 17.32344; VG Berlin, B.v. 21.11.2017 – 32 L 670.17 A; VG Regensburg, B.v. 7.8.2018 – RO 14 E 18.31925; VG Saarland, B.v. 20. – 4 8.2018 – 6 L 1012/18 – alle juris: Lehnt das Bundesamt einen Asylfolgeantrag wegen Unzulässigkeit ab und erlässt aufgrund der im Asylerstverfahren ergangenen vollziehbaren Abschiebungsandrohung keine erneute Abschiebungsandrohung, so ist im vorläufigen Rechtsschutzverfahren weiterhin der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO die statthafte Antragsart).
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2. Der Antrag ist jedoch unbegründet.
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a) Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auch schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, nötig erscheint, um insbesondere wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern (Regelungsanordnung).
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Eine derartige einstweilige Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO setzt sowohl ein Bedürfnis für die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes aufgrund Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) als auch einen Anordnungsanspruch voraus, d.h. die bei summarischer Überprüfung der Sach- und Rechtslage hinreichende Aussicht auf Erfolg oder zumindest auf einen Teilerfolg des geltend gemachten Begehrens in einem (etwaigen) Hauptsacheverfahren. Das Vorliegen eines derartigen Anordnungsgrunds und Anordnungsanspruchs ist vom Antragsteller glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2, § 294 der Zivilprozessordnung – ZPO). Wer eine tatsächliche Behauptung glaubhaft zu machen hat, kann sich aller Beweismittel bedienen, auch der Versicherung an Eides statt; eine Beweisaufnahme, die nicht sofort erfolgen kann, ist jedoch unstatthaft, § 294 ZPO. Die Behauptung ist glaubhaft gemacht, wenn eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass sie zutrifft. Hierbei unterliegt die Wahrscheinlichkeitsfeststellung dem Grundsatz der freien Würdigung des gesamten Vorbringens und ist ein Akt wertender richterlicher Erkenntnis (vgl. SächsOVG, B.v. 22.9.2017 – 4 B 168/17 – juris).
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b) Vorliegend hat der Antragsteller keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Das Bundesamt hat den Folgeantrag zu Recht als unzulässig abgelehnt (vgl. dazu aa). Der Antragsteller hat überdies auch keinen Anspruch auf Feststellung von Abschiebungsverboten glaubhaft gemacht (vgl. hierzu bb).
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aa) Es bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Entscheidung, kein weiteres Asylverfahren durchzuführen (§ 71 Abs. 1 i.V.m. § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG), sodass der Antragsteller keinen Anspruch darauf hat, dass die Mitteilung der Antragsgegnerin nach § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylG an die Ausländerbehörde unterbleibt bzw. zurückgenommen wird bzw. der Ausländerbehörde mitgeteilt wird, dass sie nicht abgeschoben werden darf.
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Stellt ein Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarem Abschluss eines früheren Asylverfahrens erneut einen Asylantrag (Folgeantrag), so ist ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen. Danach müssten sich entweder die dem Verwaltungsakt zugrundeliegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Asylbewerbers geändert haben (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG), neue Beweismittel vorliegen, die eine für den Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG) oder Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 ZPO gegeben sein (§ 51 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG). Der Asylfolgeantrag ist nur zulässig, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außer Stande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf geltend zu machen (§ 51 Abs. 2 VwVfG). Der Antrag muss binnen drei Monaten gestellt werden, wobei die Frist mit dem Tag beginnt, an dem der Betroffene von dem Grund für das Wiederaufgreifen Kenntnis erlangt hat (§ 51 Abs. 3 VwVfG). Unanfechtbar abgelehnt ist der Asylantrag, wenn gegen eine Ablehnung kein Rechtsbehelf eingelegt wird, wenn dieser nach Einlegung zurückgenommen oder aber endgültig abgewiesen wird oder wenn auf einen Rechtsbehelf verzichtet wird (vgl. Bergmann in Bergmann/Dienelt, 13. Auflage 2020, § 71 Rn. 6).
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Gemessen hieran hat das Bundesamt vorliegend wohl zu Recht kein weiteres Asylverfahren durchgeführt. Das Verfahren zum Asylerstantrag des Antragstellers vom 15. Dezember 2017 wurde mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes vom 19. Februar 2021 rechtskräftig abgeschlossen. Mit der erneuten Asylantragstellung ist somit der Anwendungsbereich des § 71 AsylG eröffnet. Wiederaufgreifensgründe sind nicht ersichtlich. Diesbezüglich wird zunächst auf die Gründe des streitgegenständlichen Bescheides Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG). Ergänzend ist Folgendes auszuführen:
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Eine nachträgliche Änderung der Sach- und Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG liegt ebenso wenig vor wie neue Beweismittel im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG. Der Antragsteller hat nicht schlüssig dargelegt, dass Umstände bestehen, die geeignet sind, eine für ihn günstigere Entscheidung herbeizuführen (vgl. BVerwG, U.v. 15.12.1987 – 9 C 285/86 – juris Rn. 18).
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Bei den mit der Folgeantragsbegründung vorgelegten Dokumenten der Menschenrechtsorganisation Memorial vom 9. Dezember 2020 und 6. April 2021 handelt es sich nicht um neue Beweismittel im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG. Diese müssen sich nämlich inhaltlich von denjenigen unterscheiden, die bereits in dem vorangegangenen Verfahren eingeführt worden sind (vgl. Dickten in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand: 1.10.2021, § 71 AsylG Rn. 20 m.w.N.). Soweit der Inhalt der Stellungnahmen den Antragsteller betrifft und mit dem im Gutachten vom 17. Juli 2018 übereinstimmt, wurde dieser bereits im Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 20. November 2020 hinreichend gewürdigt. Das Gericht ging insbesondere auf die Angaben des Antragstellers zum Vorfall vom 25. Dezember 2016 ein, verglich sie mit seinen Angaben beim Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung und bewertete sie insgesamt als unglaubhaft. Was die in den Stellungnahmen vom 9. Dezember 2020 und 6. April 2021 enthaltenen weiteren Umstände aus den Jahren 2020 und 2021 anlangt, die nach den Angaben der Prozessbevollmächtigten des Antragstellers im Erstverfahren noch keine Rolle gespielt hätten, scheinen diese nicht geeignet, dem Asylantrag zum Erfolg zu verhelfen, so dass auch hier die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG nicht erfüllt sind. Es handelt sich dabei im Wesentlichen um die Schilderung von Einzelschicksalen, die nicht ohne Weiteres auf den Antragsteller übertragbar sind. Dies gilt insbesondere für die Fälle der Blogger aus der LGBT-Community und des Moderators des Chatrooms eines oppositionellen Telegram-Kanals. Auch hinsichtlich der weiteren geschilderten Schicksale ist für das Gericht nicht erkennbar, inwiefern diese unter Berücksichtigung der den Antragsteller betreffenden individuellen Umstände eine für ihn günstigere Entscheidung herbeiführen könnten. So wurde der Antragsteller schon nach seinen eigenen Angaben sowohl am 6. März 2016 als auch am 25. Dezember 2016 von den tschetschenischen Sicherheitskräften wieder freigelassen. Darüber hinaus haben die tschetschenischen Sicherheitskräfte bis zur Ausreise des Antragstellers im Dezember 2017 keine weiteren Versuche unternommen, ihn zu entführen, sondern er konnte solange trotz der intensiven Versuche seiner Eltern, seinen Bruder zu finden, und der Verweigerung ihrer Unterschriften unbeschadet in Tschetschenien leben. Überdies sind die Ausführungen in den Dokumenten von Memorial nicht geeignet, die Erkenntnisse zu widerlegen, die das Gericht zu seiner Entscheidung bewogen haben, eine inländische Fluchtalternative für den Antragsteller zu bejahen. Sofern die vorgelegten Dokumente der Menschenrechtsorganisation Memorial die Gefährdung des Antragstellers durch die Beschwerdeerhebung beim EGMR und seine Gefährdung aufgrund der Zeugenaussage vom 31. März 2021 belegen sollen, handelt es sich hierbei um Tatsachen, die im Erstverfahren noch nicht thematisiert wurden, so dass diesbezüglich allenfalls § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG Anwendung finden kann.
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Weder bei der am 11. November 2020 erfolgten Beschwerdeerhebung zum EGMR, auf die in der Folgeantragsbegründung unter Vorlage einer Beschwerdeschrift einschließlich 171-seitiger Anlagen in russischer Sprache verwiesen wird, noch bei der Annahme dieser Beschwerde mit Schreiben des EGMR vom 24. Juni 2021 handelt es sich jedoch um Umstände, die geeignet sind, eine für den Antragsteller günstigere Entscheidung herbeizuführen. Diesbezüglich hat das Verwaltungsgericht Bayreuth bereits im Urteil vom 20. November 2020 festgestellt, dass mangels Druckausübung auf die noch in Tschetschenien lebenden Verwandten des Antragstellers und aufgrund der dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnisse auch nicht davon auszugehen ist, dass eine Beschwerde beim EGMR mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer individuellen und flüchtlingsrelevanten Verfolgung des Antragstellers führt. Dem wird hier gefolgt. Der EGMR in Straßburg kann die im fünfstelligen Bereich liegende Zahl der anhängigen Verfahren gegen Russland kaum bewältigen. Mit Ende 2019 waren beim EGMR 15.050 Anträge aus Russland anhängig. Im Jahr 2019 wurde die Russische Föderation in 186 Fällen wegen Verletzungen der EMRK verurteilt. Besonders zahlreich sind Konventionsverstöße gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf ein faires Verfahren und wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung. Russland setzt einige, aber nicht alle Urteile des EGMR um; insbesondere werden Entscheidungen zu Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte im Nordkaukasus nur selektiv implementiert. Finanzielle Entschädigungen werden üblicherweise gewährt, dem vom EGMR monierten Umstand aber nicht abgeholfen (vgl. Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Stand 10.6.2021, S. 23 und 41 f.). Dass den Verfahrensbeteiligten wegen Beschwerden zum EGMR in der Russischen Föderation flüchtlingsrelevante Repressalien drohen würden, lässt sich den Erkenntnismitteln gerade nicht entnehmen und wurde auch von Antragstellerseite nicht schlüssig dargetan. Sofern vorgetragen wird, dass die Leiterin der Organisation Stichting Justice Initiative nach der Beschwerdeerhebung in anderer Sache der Russischen Föderation verwiesen worden sei, ist hierbei zu berücksichtigen, dass es sich um eine US-Amerikanerin handelte – also keine Russische Staatsangehörige, die in eigener Sache Beschwerde erhoben hatte – und die Entscheidung der Russischen Föderation als Druckausübung gegenüber der Organisation gewertet wurde (vgl. Caucasian Knot, Amid ECtHR process, convicts for attack on Nalchik are under law enforcers' pressure vom 19.12.2020, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/53130/; abgerufen am 4.12.2021). Eine uneingeschränkte Übertragbarkeit auf den Antragsteller ist angesichts der abweichenden Fallkonstellation nicht möglich. Die Aussagen in der Anfragebeantwortung von ACCORD aus dem Jahr 2016, auf die die Prozessbevollmächtigte des Antragstellers weiter verweist, sind inkonsistent; teilweise widerlegen sie sogar die behauptete Bedrohungslage von Beschwerdeführern beim EGMR. So sei laut Angaben des Komitees gegen Folter (CAT) und der russischen gemeinnützigen Organisation Russian Justice Initiative (RJI) vom November 2014 das Anzeigen von Vertretern der tschetschenischen Polizei- oder Sicherheitskräfte bei den Behörden risikoreich, aber nicht das Einbringen von Beschwerden beim EGMR. Memorial habe erläutert, dass die russischen Behörden sich offensichtlich nicht allzu sehr darum kümmern würden, ob sie vom EGMR verurteilt würden. Die Urteile kämen viele Jahre, nachdem die Menschenrechtsverletzung stattgefunden habe, und das führe dazu, dass das Fällen des Urteils keine Folgen habe. Laut Memorial und CAT sei die risikoreichste Phase für das Opfer, wenn dieses einen Fall von Menschenrechtsverletzung durch die Behörden den lokalen Behörden in Tschetschenien melde, bevor Beschwerde beim EGMR eingelegt werde (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zur Russischen Föderation: Lage von Personen, die sich an den EGMR wenden vom 2. Juni 2016). Auch die Annahme der Beschwerde durch den EGMR mit Schreiben vom 24. Juni 2021 führt mangels anderweitiger Erkenntnisse zu keiner anderen Beurteilung.
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Gleichermaßen ist auch die Zeugenaussage des Antragstellers vom 31. März 2021, die als Beweismittel in einem Verfahren gegen die Russische Föderation Verwendung finden solle, nicht geeignet, eine für den Antragsteller günstigere Entscheidung herbeizuführen und damit keine neue Tatsache im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG. Dabei wurde das Verfahren von Antragstellerseite nicht genau bezeichnet, sondern lediglich dessen Inhalt beschrieben. Was für die Beschwerdeerhebung beim EGMR gilt, muss jedenfalls erst recht auf eine Zeugenaussage in einem Verfahren gegen die Russische Föderation Anwendung finden. Diesbezüglich ist von Antragstellerseite ebenso wenig substantiiert dargetan, inwiefern die Zeugenaussage zu einer individuellen und flüchtlingsrelevanten Verfolgung des Antragstellers führen kann. Zwar führte seine Prozessbevollmächtigte in der Antragsbegründung unter anderem aus, dass seine Aussage deutlich mache, wie die russischen Behörden mit (vermeintlichen) Terroristen umgingen; dies bestätige das Bild der erniedrigenden Ermittlungsmethoden und auch, dass auf die Behörden kein Verlass im Hinblick auf den Wahrheitsgehalt der Aussagen sei. Allerdings liegen weder allgemeine noch individuelle Erkenntnisse vor, aus denen sich eine etwaige Verfolgungssituation des Antragstellers aufgrund dieser Aussage ergeben könnte.
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Bei der vorgelegten Stellungnahme von … vom 16. März 2021 handelt es sich nicht um ein neues Beweismittel im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG, da diese nicht geeignet ist, eine für den Antragsteller günstigere Entscheidung im Asylverfahren herbeizuführen. Zwar trug die Prozessbevollmächtigte des Antragstellers diesbezüglich vor, sie erkläre die Verfolgung der Familienangehörigen der im Januar 2017 Hingerichteten durch die Russische Föderation. Im Wesentlichen wird darin jedoch auf die Geschehnisse in den Jahre 2016 und 2017 eingegangen, die vom Gericht im Urteil vom 20. November 2020 gar nicht in Zweifel gezogen wurden. Im Übrigen genügen allgemein gehaltene Aussagen und bloße Befürchtungen nicht, um eine individuelle und flüchtlingsrechtlich erhebliche Verfolgung des Antragstellers möglich erscheinen zu lassen. Insbesondere enthält die Stellungnahme weder Umstände, die für eine Vorverfolgung des Antragstellers in der Russischen Föderation sprechen könnten, noch solche, die eine Druckausübung von Seiten der tschetschenischen oder russischen Behörden auf die Verwandten des Antragstellers bzw. auf den Antragsteller persönlich belegen könnten.
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Bei den schriftlichen Aussagen der Schwägerin des Antragstellers sowie seiner Tante väterlicherseits vom 7. April 2021 bzw. 8. April 2021 handelt es sich ebenfalls nicht um neue Beweismittel im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG. Eine Zeugenaussage ist als Erkenntnismittel „neu“, wenn der Zeuge während des abgeschlossenen Verfahrens zwar bereits existent war, sich aber erst nach dessen Abschluss zur Aussage bereitgefunden hat (Schoch in Schoch/Schneider VwVfG, Stand: Juli 2020, § 51 Rn. 69 unter Verweis auf BVerwG, U.v.21.4.1982 – 8 C 75/80 – NJW 1982, 2204). Davon ist vorliegend nicht auszugehen; vielmehr hätten Zeuginnen wohl auch schon im früheren gerichtlichen Verfahren beigebracht werden können. Dass von Antragstellerseite versäumt wurde, damals einen entsprechenden Beweisantrag zu stellen, kann nicht dazu führen, dass es sich nun um „neue“ Beweismittel handelt. Dies wird durch Art. 51 Abs. 2 BayVwVfG, wonach der Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nur zulässig ist, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren geltend zu machen, bestätigt; denn diese Vorschrift setzt die Beachtlichkeit (auch) von bereits während der Anhängigkeit des ersten Verwaltungsverfahrens existenter Beweismittel voraus. Wie der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in seinem Beschluss vom 19. Februar 2021 (11 ZB 21.30237) ausgeführt hat, hat sich die Prozessbevollmächtigte des Antragstellers dadurch, dass sie die Entscheidung des Gerichts über die gestellten Anträge nicht abgewartet hat, selbst der Möglichkeit begeben, weitere Beweisanträge zu stellen.
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bb) Der Antragsteller hat auch keinen Anspruch auf die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
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Dabei kann es dahinstehen, ob – wie vom Bundesamt in der Bescheidsbegründung ausgeführt – auch für die bei Ablehnung eines Asylantrages als unzulässig nach § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG erforderliche Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG vorliegen, ohne dass sich dies unmittelbar aus dem Gesetz ergibt, zunächst die Voraussetzungen nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG erfüllt sein müssten (so z.B. VG Sigmaringen, U.v. 10.3.2017 – A 3 K 3493/15 – juris Rn. 40 m.w.N.). Denn die Begründung des streitgegenständlichen Bescheides setzt sich im Rahmen der Ausübung des Ermessens nach § 49 Abs. 1 VwVfG hinreichend ausführlich mit § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG auseinander.
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Letztlich entscheidend ist, auch für das Gericht kein Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes erkennbar ist. Diesbezüglich wird auf die Ausführungen des streitgegenständlichen Bescheides verwiesen, § 77 Abs. 2 AsylG. Ergänzend ist auszuführen:
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Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG ist nicht gegeben. Dem Antragsteller droht bei einer Rückkehr in die Russische Föderation nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung des Art. 3 EMRK. In dieser Hinsicht wird zunächst auf die Ausführungen des Bayerischen Verwaltungsgerichts Bayreuth im Urteil vom 20. November 2020 (B 9 K 18.31145) verwiesen. Hier hat das Gericht unter ausführlicher Begründung eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine drohende Menschenrechtsverletzung bei einer Rückkehr des Antragstellers in die Russische Föderation verneint. Etwas Anderes ergibt sich auch nicht aus den Ausführungen in der Antragsbegründung vom 11. November 2021. Sofern die darin aufgeführten Entscheidungen und Berichte bestätigen sollen, dass auch der Antragsteller bei seiner Rückkehr mit Inhaftierung und Folter zu rechnen habe, werden diese Befürchtungen durch die den Antragsteller betreffenden individuellen Umstände jedenfalls nicht bekräftigt. So wurde der Antragsteller beispielsweise nach seinen eigenen Angaben sowohl am 6. März 2016 als auch am 25. Dezember 2016 von den tschetschenischen Sicherheitskräften freigelassen. Hätte der Antragsteller tatsächlich durch Herrn … belastet werden und wie sein Bruder als vermeintlicher Terrorist verhaftet und entführt werden sollen, ist jedenfalls nicht nachvollziehbar, weswegen die tschetschenischen Behörden nicht nach dem Vorfall vom 25. Dezember 2016 zu diesen illegalen Methoden gegriffen haben oder den Antragsteller an diesem Tag auf Basis falscher Anschuldigungen und Beweise mitgenommen haben, um sich seiner zu bemächtigen. Darüber hinaus haben die tschetschenischen Sicherheitskräfte bis zur Ausreise des Antragstellers im Dezember 2017 keine weiteren Versuche unternommen, ihn zu entführen, sondern er konnte solange trotz der intensiven Versuche seiner Eltern, seinen Bruder zu finden, und der Verweigerung ihrer Unterschriften unbeschadet in Tschetschenien leben. Im Übrigen ist bei der Prüfung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK die gesamte Russische Föderation in den Blick zu nehmen und nicht lediglich Tschetschenien. Ebenso vermögen die nun eingereichte Beschwerde beim EGMR und die schriftliche Zeugenaussage des Antragstellers vom 31. März 2021 diesbezüglich nicht zu einer anderen Beurteilung zu führen, da sich den vorliegenden Erkenntnismitteln – wie oben ausgeführt – nicht eindeutig entnehmen lässt, dass Verfahrensbeteiligten oder Zeugen in Verfahren gegen die Russische Föderation deswegen menschenrechtsverletzende Repressalien drohen würden. Auch sonst sind derzeit keine individuellen Umstände erkennbar, die zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 i.V.m. Art. 3 EMRK führen könnten. Der Antragsteller ist jung und erwerbsfähig, hat Arbeitserfahrung und verfügt in der Russischen Föderation über eine Großfamilie, die ihn finanziell unterstützen könnte. Er wird daher prognostisch dazu in der Lage sein, bei einer möglichen Rückkehr eine zumindest existenzsichernde Lebensgrundlage für sich zu erwirtschaften.
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Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aus gesundheitlichen Gründen liegt ebenfalls nicht vor. Demnach soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche krankheitsbedingte Gefahr setzt gemäß § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG voraus, dass sich der Gesundheitszustand des Ausländers in seiner Heimat wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern würde, wobei eine konkrete Gefahr besteht, wenn der Ausländer alsbald nach der Rückkehr in den Heimatstaat in diese Lage geriete, weil er auf die dortigen unzureichenden Möglichkeiten zur Behandlung seines Leidens angewiesen wäre und auch anderswo wirksame Hilfe nicht in Anspruch nehmen könnte (BVerwG, U.v. 25.11.1997 – 9 C 58/96 – BVerwGE 105, 383). Dabei muss eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft gemacht werden; diese soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung, den lateinischen Namen oder die Klassifizierung der Erkrankung nach ICD 10 sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten (§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG i.V.m. § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG). Zur Behandlung der Erkrankung erforderliche Medikamente müssen mit der Angabe ihrer Wirkstoffe und diese mit ihrer international gebräuchlichen Bezeichnung aufgeführt sein (§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG i.V.m. § 60a Abs. 2c Satz 4 AufenthG).
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Bei dem vorgelegten Gutachten der Dipl.-Psych. … vom 3. Juli 2021 handelt es sich nicht um eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 i.V.m. § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG. Mit dieser gesetzlichen Regelung wollte der Gesetzgeber insbesondere den Schwierigkeiten bei der Bewertung von Bescheinigungen nur schwer diagnostizier- und überprüfbarer Erkrankungen psychischer Art, wie der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), Rechnung tragen; gemeint ist die ärztliche Bescheinigung eines approbierten Arztes (vgl. BT-Drucksache 18/7538, S. 19 f.). Das vom Antragsteller vorgelegte Attest stellte jedoch eine Dipl.-Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin aus. Die Vorlage einer psychologischen/psychotherapeutischen Stellungnahme kann für sich danach auch keine tatsächlichen Anhaltspunkte für eine Erkrankung im Sinne des § 60a Abs. 3c Satz 2 AufenthG begründen, da dies eine Umgehung der gesetzlichen Wertungen bedeuten würde (vgl. OVG LSA, B.v. 30.8.2016 – 2 O 31/16 – juris Rn. 9; BayVGH, B.v. 20.3.2019 – 9 ZB 17.30407 – juris Rn. 7; ThürOVG B.v, 22.1.2020 – 3 ZKO 836/19 – juris Rn. 7). Im Übrigen ist das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG hier auch unabhängig vom Erfordernis der Ausstellung durch einen Arzt in Zweifel zu ziehen. Diesbezüglich wird auf die ausführliche Begründung im streitgegenständlichen Bescheid verwiesen, § 77 Abs. 2 AsylG. Außerdem hat der Antragsteller – vor allem unter Berücksichtigung der vorgetragenen Schwere der Leiden – keine glaubhafte Begründung vorgetragen, warum die Erkrankung nicht schon früher geltend gemacht worden ist. Unabhängig von den behaupteten Missverständnissen, Verständigungsschwierigkeiten, Behandlungsengpässen und Zeitproblemen hätte die Erkrankung zumindest im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens von Antragstellerseite thematisiert werden können, was jedoch nicht geschehen ist. Wie das Bundesamt zu Recht ausführt, ist ein Leidensdruck des Antragstellers, hervorgerufen durch die behauptete psychische Erkrankung, mit deren unterbliebener Behandlung nicht vereinbar.
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Darüber hinaus hat der Antragsteller nicht hinreichend substantiiert dargetan, dass sich seine Erkrankung im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen Gefahr für Leib oder Leben führen würde. Zwar wird diesbezüglich im Gutachten ausgeführt, der Antragsteller fühle sich in der Russischen Föderation subjektiv nicht sicher. Daher könne angenommen werden, dass sich sein psychischer Gesundheitszustand in Tschetschenien und in der Russischen Föderation alsbald nach einer Rückführung wesentlich verschlechtern würde. Aus subjektiven Gründen sei für den Antragsteller weder in Tschetschenien noch in der Russischen Föderation eine erfolgsversprechende Behandlung möglich, selbst wenn objektiv Behandlungsmöglichkeiten bestehen sollten. Dieser pauschalen Behauptung kann jedoch angesichts der Größe der Russischen Föderation und vor allem unter Berücksichtigung der vorhandenen Behandlungsmöglichkeiten – einschließlich medikamentöser Therapien – nicht gefolgt werden. Jedenfalls wird von Antragstellerseite nicht substantiiert dargetan, dass auch Letztere von Vornherein nicht erfolgsversprechend wären. Der Antragsteller wäre vielmehr auf eine solche Behandlung in der Russischen Föderation zu verweisen.
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Die medizinische Versorgung in Russland ist zwar auf einfachem Niveau und nicht überall gewährleistet. Jedoch sind in den Großstädten wie Moskau, St. Petersburg und Nowosibirsk das Wissen und die technischen Möglichkeiten auch für anspruchsvollere Behandlungen vorhanden (Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 21.5.2021, S. 22). Russische Bürger haben ein Recht auf kostenfreie medizinische Grundversorgung, die nationale Krankenversicherung (OMS) steht allen Bürgern der Russischen Föderation zur Verfügung. Die kostenfreie Versorgung umfasst Notfallbehandlung, ambulante und stationäre Behandlung sowie teilweise kostenlose Medikamente (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Österreich, Länderinformationsblatt Russische Föderation, Stand 10.6.2021, S.95 ff.; International Organization for Migration, Antwort auf Individualanfrage des Bundesamtes, Az. ZC16/09.02.15). Psychiatrische Behandlungen für diverse psychische Störungen und Krankheiten sind in der Russischen Föderation ebenso verfügbar wie die gängigen Antidepressiva (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Österreich, Länderinformationsblatt Russische Föderation, Stand 10.6.2021 S. 101 f.).
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3. Unabhängig davon, wie die weiteren Anträge im Schriftsatz der Prozessbevollmächtigen des Antragstellers vom 11. November 2021, nämlich die Zusicherung der Antragsgegnerin einzuholen, dass bis zur Entscheidung in hiesigem Eilverfahren keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen ergriffen werden, bzw. hilfsweise, per Zwischenverfügung vorläufig bis zur Entscheidung in hiesigem Eilrechtsschutzverfahren anzuordnen, dass die Antragsgegnerin der zuständigen Ausländerbehörde mitteilt, dass die im Bescheid vom 21. Oktober 2021 unter 3. in Bezug genommene Abschiebungsandrohung (vom 28. Mai 2018) nicht vollzogen werden darf, zu qualifizieren sind, haben sich diese jedenfalls mit der Entscheidung über den Antrag im einstweiligen Rechtsschutz erledigt.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b Abs. 1 AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes (RVG). Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).