Inhalt

VG Würzburg, Urteil v. 07.10.2021 – W 5 K 21.30776
Titel:

Ablehnung eines Dolmetschers keine Grundlage für Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet

Normenkette:
AsylG § 30 Abs. 3 Nr. 5
Leitsatz:
Die Regelung des § 30 Abs. 3 Nr. 5 AsylG ist unionsrechtskonform dahingehend auszulegen, dass bei einer Ablehnung der Person des Dolmetschers eine offensichtliche Unbegründetheit nicht angenommen werden kann (anders VGH München BeckRS 2022, 9251). (Rn. 14 – 16) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylbewerberin aus Algerien, erfolgreiche Anfechtungsklage, Ablehnung von Angaben gegenüber Dolmetscher aus Marokko, Offensichtlichkeitsanspruch rechtswidrig, richtlinienkonforme Auslegung, Asylverfahrensrichtlinie, Asylantrag, Mitwirkungspflicht, Dolmetscher, Ablehnung, offensichtlich unbegründet
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 06.04.2022 – 15 B 22.30094
Fundstelle:
BeckRS 2021, 51650

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 2. Juli 2021 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu vollstreckenden Kosten abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Tatbestand

1
Die Klägerin ist algerische Staatsangehörige, arabischer Volks- und sunnitischer Religionszugehörigkeit. Sie reiste am 22. Mai 2021 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 14. Juni 2021 einen Asylantrag.
2
1. Bei ihrer Anhörung am 21. Juni 2021 teilte sie mit, dass sie mit dem marokkanischen Dolmetscher die Anhörung nicht durchführen wolle. Sie wolle einen Dolmetscher aus einem anderen Land. Marokko habe das Problem verursacht, dass Leute aus der Westsahara in Algerien leben müssten. Ihr Großvater sei während des Krieges mit Marokko ums Leben gekommen. Er sei von Marokkanern angeschossen worden. Ausweislich des Anhörungsprotokolls wurde die Klägerin nochmals auf ihre Mitwirkungspflicht hingewiesen. Es sei nicht möglich, sich den Dolmetscher auszusuchen. Verweigere ein Antragsteller seine Mitwirkung, könne dies zur Folge haben, dass sein Asylantrag - allein aufgrund der fehlenden Mitwirkung - abgelehnt werde. Ausweislich des Protokolls erklärte die Klägerin, dass sie dies verstanden habe, die Anhörung jedoch trotzdem nicht durchführen wolle.
3
2. Mit Bescheid vom 2. Juli 2021 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1 des Bescheids), auf Asylanerkennung (Nr. 2) und subsidiären Schutz (Nr. 3) jeweils als offensichtlich unbegründet ab. Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Die Klägerin wurde aufgefordert die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Die Abschiebung nach Algerien oder einen anderen Staat, in den die Klägerin einreisen darf oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet ist, wurde angedroht. Die Vollziehung der Abschiebungsandrohung und der Lauf der Ausreisefrist wurden bis zum Ablauf der Klagefrist und im Falle der fristgerechten Stellung eines Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage bis zur Bekanntgabe der Ablehnung des Eilantrags durch das Verwaltungsgericht ausgesetzt (Nr. 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG wurde angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).
4
Zur Begründung wurde ausgeführt: Die Klägerin sei ihrer Verpflichtung zum Tatsachenvortrag gemäß § 25 Abs. 1 AsylG nicht ausreichend nachgekommen. Bereits ihr augenscheinliches Desinteresse an der Weiterführung ihres Asylverfahrens infolge des Abbruchs ihrer Anhörung lasse eine Verfolgungsfurcht oder einen ernsthaften Schaden im Heimatland zweifelhaft erscheinen. Sie habe es schuldhaft - in Verletzung ihrer Mitwirkungspflicht - unterlassen, das Bundesamt über ihr (vermeintliches) Verfolgungsschicksal zu informieren, obgleich sie sich mit dem marokkanischen Dolmetscher nach eigenem Bekunden gut verständigen konnte. Der Asylantrag sei gemäß § 30 Abs. 3 Nr. 5 AsylG als offensichtlich unbegründet abzulehnen, weil die Klägerin aufgrund ihrer Verweigerung, die Anhörung mit dem anwesenden Dolmetscher wegen dessen marokkanischer Staatsangehörigkeit durchzuführen, ihre Mitwirkungspflichten nach § 25 Abs. 1 AsylG gröblich verletzt habe. Die Klägerin sei über ihre Mitwirkungspflichten auch belehrt worden. Dafür, dass der Klägerin die Einhaltung der Mitwirkungspflicht aus wichtigen Gründen nicht möglich gewesen sei, sei weder etwas vorgetragen noch sonst etwas ersichtlich. Weder der Verweis auf die Schwierigkeiten von Leuten aus der Westsahara mit Marokko noch das Schicksal ihres Großvaters stellten einen derartigen wichtigen Grund dar, aufgrund dessen es der Klägerin nicht möglich gewesen wäre, mit dem anwesenden marokkanischen Dolmetscher die Anhörung durchzuführen. Zudem sei zweifelhaft, ob die Klägerin tatsächlich aus der Westsahara stamme. Abschiebungsverbote lägen nicht vor. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in Algerien führten nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung der Klägerin eine Verletzung von Art. 3 EMRK vorliege. Eine Unterschreitung des wirtschaftlichen Existenzminimums sei nicht zu befürchten. Insbesondere erscheine es zumutbar, den Lebensunterhalt durch einfache und gegebenenfalls befristete Tätigkeiten zu sichern. Auch vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen und humanitären Auswirkungen der Corona-Pandemie in Algerien sei nicht festzustellen, dass die hohen Anforderungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vorliegen. Ebenso wenig sei von einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG auszugehen.
5
Der Bescheid wurde der Klägerin am 12. Juli 2021 ausgehändigt.
6
3. Am 19. Juli 2021 erhob die Klägerin Klage gegen den Bescheid und beantragte zuletzt,
den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 2. Juli 2021 aufzuheben.
7
Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgetragen: Sie habe bei ihrer Anhörung nach § 25 AsylG nicht die Möglichkeit gehabt, frei vorzutragen. Sie habe befürchtet, dass der Dolmetscher nicht unbefangen übersetzen könne. Ihr sei auch rückübersetzt worden, dass sie einen neuen Anhörungstermin und einen neuen Dolmetscher bekomme. Die Belehrung, wie sie in der Niederschrift zur Anhörung zu entnehmen sei, sei ihr weder originär noch rückübersetzt mitgeteilt worden. Unabhängig davon hätte die Klägerin ihr unter Beiordnung eines neuen Dolmetschers einen neuen Termin zur Anhörung offerieren müssen, nachdem sie Kenntnis von den Vorbehalten hatte. Die Klägerin sei aus wichtigem Grund daran gehindert gewesen, dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ihre Asylgründe mitzuteilen. Ob die geäußerten Bedenken an einer fehlenden Unbefangenheit des Dolmetschers zuträfen, sei unerheblich. Zumindest habe ein Hinweis auf die Möglichkeit zur Bereitstellung eines Dolmetschers auf eigene Kosten erfolgen müssen. Der Klägerin sei das rechtliche Gehör abgeschnitten worden.
8
4. Die Beklagte beantragte,
die Klage abzuweisen.
9
5. Mit Beschluss vom 29. Juli 2021 ordnete das Gericht im Verfahren W 5 S 21.30777 die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung unter Ziffer 5 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 2. Juli 2021 an. Auf die Gründe der Entscheidung wird Bezug genommen.
10
6. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte (einschließlich des Verfahrens W 5 S 21.30777) sowie auf die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

11
Die zulässige Klage ist begründet.
12
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 2. Juli 2021 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
13
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat den Asylantrag der Klägerin zu Unrecht als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Ein unbegründeter Asylantrag ist gemäß § 30 Abs. 3 Nr. 5 AsylG - worauf die Antragsgegnerin den Entscheidungsausspruch gestützt hat - als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn der Ausländer seine Mitwirkungspflichten nach § 13 Abs. 3 Satz 2, § 15 Abs. 2 Nr. 3 bis 5 oder § 25 Abs. 1 AsylG gröblich verletzt hat, es sei denn, er hat die Verletzung der Mitwirkungspflichten nicht zu vertreten oder ihm war die Einhaltung der Mitwirkungspflichten aus wichtigen Gründen nicht möglich.
14
Die Regelung des § 30 Abs. 3 Nr. 5 AsylG ist hier unionsrechtskonform dahingehend auszulegen ist, dass bei einer Ablehnung der Person des Dolmetschers eine offensichtliche Unbegründetheit nicht angenommen werden kann. Die Ablehnung des Asylantrags der Klägerin als offensichtlich unbegründet ist deshalb mit der RL 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und die Aberkennung internationalen Schutzes unvereinbar.
15
Zwar wird zum Teil in der Kommentarliteratur die Auffassung vertreten, dass - grundsätzlich - keine europarechtlichen Bedenken im Hinblick auf § 30 AsylG bestehen (vgl. Heusch in: BeckOK AsylG, 21. Ed. 1.4.2021, § 30 Rn. 8), allerdings finden sich ebenfalls Ausführungen dahingehend, dass die Norm des § 30 Abs. 3 Nr. 5 AsylG in ihrer aktuellen Ausgestaltung keine Grundlage in der Asylverfahrensrichtlinie 2013 findet (NK-AuslR/Susanne Schröder, 2. Aufl. 2016, AsylVfG § 30 Rn. 31). Auch in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung wird die Auffassung vertreten, dass seit Ablauf der Umsetzungsfrist für Asylverfahrensrichtlinie 2013 in nationales Recht zum 20. Juli 2015 eine richtlinienkonforme Auslegung des § 30 Abs. 3 Nr. 5 AsylG unter Berücksichtigung des Art. 32 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 31 Abs. 8 der RL 2013/32/EU erforderlich ist (VG Ansbach, B.v. 19.6.2018 - AN 1 S 18.30714; VG Augsburg, B.v. 11.7.2017 - Au 1 S 17.32231; VG Cottbus, B.v. 31.5.2018 - VG 4 L 307/18.A - alle juris).
16
Die Klägerin hat die Durchführung der Anhörung beim Bundesamt am 21. Juni 2021 unter Einsatz des vom Bundesamt zu Verfügung gestellten Dolmetschers verweigert. Dahinstehen kann, ob die Klägerin entsprechend den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 30 Abs. 3 Nr. 5 AsylG berechtigt war, die Anhörung wegen der marokkanischen Staatsangehörigkeit des Dolmetschers abzubrechen, da unter Zugrundelegung der o.g. Ausführungen einiges dafür spricht, dass selbst bei einer gröblichen Verletzung der Mitwirkungspflichten nach § 25 Abs. 1 AsylG eine Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet nicht hätte erfolgen dürfen. Die Verweigerung der Angaben im Rahmen der Anhörung ohne wichtigen Grund kann nach Auffassung des Gerichts unter keinen der in Art. 31 Abs. 8 der RL 2013/32/EU aufgeführten Tatbestände subsumiert werden. In Art. 31 Abs. 8 der RL 2013/32/EU findet sich keine Fallgruppe, die im vorliegenden Fall eine Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet ermöglicht würde (vgl. auch VG Ansbach, B.v. 19.6.2018 - AN 1 S 18.30714 - juris). Etwas anderes wurde von der Beklagtenseite im Rahmen ihrer Klageerwiderung auch im Anschluss an den die aufschiebende Wirkung anordnenden Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 29. Juli 2021 (W 5 S 21.30777), auf den im Übrigen verwiesen wird, nicht vorgetragen. Entsprechend erweist sich der Offensichtlichkeitsausspruch vorliegend als rechtswidrig.
17
3. Infolgedessen war der Klage stattzugeben und der angegriffene Bescheid aufzuheben. Das Asylverfahren ist ausgehend vom Verfahrensstand vor Erlass des streitgegenständlichen Bescheids weiterzuführen.
18
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.